Krisenjahre Pubertät

Mai 2009 | Gesellschaft & Familie

Immer früher, immer länger, immer aggressiver
 
Was ist mit unserer Jugend los? Das fragt sich die Öffentlichkeit immer dann, wenn sich wieder ein Teenager bis zur Bewusstlosigkeit betrunken hat, wenn wieder ein Halbwüchsiger mit Gewalttaten Schlagzeilen gemacht hat. Was macht die Pubertät zu immer dramatischeren Krisenjahren? Das hat MEDIZIN populär Experten gefragt. Schließlich müssen sich die allermeisten Eltern zwar nicht mit solchen Extrem-Kindern herumschlagen, sind aber trotzdem extrem gefordert: Denn die Kampf- und Konfliktzeit Pubertät beginnt heute früher, endet nicht wie einst schon nach zwei, drei, sondern mitunter erst nach zehn Jahren und verläuft immer aggressiver. MEDIZIN populär über die Hintergründe.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer und Mag. Sabine Stehrer

Zwölfjährige, körperlich voll ausgereifte Mädchen, die – geschminkt und gestylt – locker als 17-Jährige durchgehen, 13-jährige Burschen, die sich im Internet über Analverkehr und Intimrasur schlau machen und ihr „erstes Mal“ planen – die Geschlechtsreife beginnt immer früher. Um wie viel früher, weiß Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, Gynäkologin, Psychotherapeutin, Erziehungsberaterin und Gründerin der ARGE Erziehungsberatung in Wien. „Im Jahr 1830 setzte bei den Mädchen die Menarche, also der Beginn der Monatsblutung, und damit die Pubertät mit rund 17 Jahren ein“, so die Expertin. „1980 lag der Beginn der Monatsblutung bei durchschnittlich 12,5 Jahren und heute beginnt sie nochmals rund ein dreiviertel Jahr früher.“ Auch bei den Burschen, bei denen die Pubertät nicht schlagartig, sondern nach und nach einsetzt, hat sich der Beginn nach vorne verschoben – sie erfolgt im Schnitt zwei Jahre später als bei den Mädchen.

Woran liegt die Frühreife der Kinder? „Sie kommt unter anderem daher, dass unsere Gesellschaft heute eine durchwegs gute und hochkalorische Ernährung bieten kann“, erklärt die Gynäkologin. „In der menschlichen Entwicklungsgeschichte gibt es erst seit den letzten paar Generationen ein über lange Strecken gesichertes Kalorienangebot.“ Was die Kalorienzufuhr bewirkt? „Im heranwachsenden Organismus wird ein Fettdepot angelegt – ab einem bestimmten Ausmaß erhält der weibliche Körper das Signal zu menstruieren.“ Die frühe Entwicklung der Burschen werde vor allem durch die zunehmende Sexualisierung der Gesellschaft durch die Medien gefördert. „Die ständige Präsenz von sexuellen Impulsen scheint stark stimulierend auf den Organismus zu wirken.“

Geschlechtsreife & Gehirn
Die Pubertät beginnt nicht nur früher, sie dauert auch wesentlich länger – waren es einst zwei, drei Jahre, so kann sie heute bis zu zehn Jahre dauern. Warum? „Die Pubertierenden haben zwar einen körperlich reifen Organismus, die neuro-physiologische Entwicklung hinkt aber nach, weil bestimmte Partien im Gehirn erst mit 21, 22 Jahren ausgereift sind“, weiß Leibovici-Mühlberger. Zu diesen Hirnpartien zählt etwa der präfrontale Cortex, der für das planerische Denken, die Voraussicht, das langfristige Abschätzen von Konsequenzen zuständig ist. Auch die Amygdala, verantwortlich für die Affektkontrolle, ist bei den Pubertierenden noch nicht ausgereift. Im Klartext: Trotz frühreifer Körper – die neurologische Reifezeit hat sich bis heute nicht wirklich verändert. Erst mit rund 20 Jahren geht die anstrengende Konflikt- und Kampfzeit ins junge Erwachsenenalter über.

Überforderung & Unsicherheit
Bis dahin sorgt außerdem der gesellschaftspolitische Druck dafür, dass die Jahre des Umbruchs, der Selbstfindung und Neuorientierung zunehmend aggressiv verlaufen. Verhaltensauffälligkeiten nehmen zu – in den Schulen etwa gelten 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen als verhaltensauffällig, heißt es seitens des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie. „Unsere Gesellschaft propagiert die frühe Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von Jugendlichen, nicht zuletzt, um aus Kindern Konsumenten zu machen“, berichtet Leibovici-Mühlberger. Dies erschwere den Eltern auch die Begleitung ihrer Kinder. „Es arbeiten viele gesellschaftliche Tendenzen gegen den Obsorgeauftrag von Eltern“, so die Expertin. „Die Medien liefern Bilder ins Haus, was Teenager schon alles machen – von Konzertbesuchen über Interrailreisen – sobald die Eltern auf ihre Autorität pochen, kommt es zu massiven Konflikten.“

Andere Faktoren, Stichwort Wirtschaftskrise, sorgen für verstärkte Verunsicherung – ungewisse Zukunftsperspektiven mit steigender (Jugend-) Arbeitslosigkeit setzen den Kids zu. „Die Autonomie, das Hinausgehen in die Welt wird schwieriger, wenn die Pubertierenden darin keinen sicheren Platz für sich sehen“, betont die Therapeutin. Werde ich mein Auskommen finden? Werde ich eine Familie haben können? Werde ich den Beruf, den ich jetzt auswähle, langfristig ausüben können? „Wie diese Zweifel und Ängste sich ihren Weg bahnen, ob destruktiv oder eher konstruktiv, ist abhängig vom Individuum, dem Verlauf der frühen Kindheit, aber auch von der genetischen Disposition“, so Leibovici-Mühlberger.

Umbau & Umwälzungen
Unabhängig vom Individuum sind die drastischen Veränderungen, die gleich auf mehreren Ebenen gleichzeitig vor sich gehen und die Jugendlichen – und Eltern gehörig durcheinander rütteln. „Die Pubertät ist mehr als ein Übergang von einer Lebensphase in die andere“, sagt auch Dr. Paulus Hochgatterer, Primar der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Tulln in Niederösterreich. „Sie ist ein hochkomplexes Phänomen, ein Prozess der biopsychosozialen Veränderungen. Das heißt, es kommt zu körperlichen, psychischen und sozialen Umwälzungen, der Pubertierende muss zu einem neuen Erwachsenen-Ich finden und sich in der Familie und im Freundeskreis neu positionieren.“

Am Anfang steht der Umbau des Körpers. Was den Startschuss für die Pubertät gibt, entdeckten erst im vergangenen Dezember britische und türkische Wissenschaftler der Universitäten Cambridge und Cukurova. Sie identifizierten den Botenstoff Neurokinin B. Das Hormon aus dem Hypothalamus im Zwischenhirn setzt jene Flut an Hormonen frei, die für die Entwicklung zur Frau bzw. zum Mann notwendig sind.
Wachstumshormone lösen bei beiden Geschlechtern einen Wachstumsschub aus. Bei den Mädchen werden die Hüften breiter, Brüste, Schamlippen und Schamhaare beginnen zu wachsen, die Eierstöcke bilden sich aus und das weibliche Geschlechtshormon Östrogen sorgt dafür, dass der erste Zyklus beginnt. Die erste Regelblutung setzt ein, eine Schwangerschaft ist möglich. Bei den Buben setzt der Schub im Schnitt um zwei Jahre später ein: Die Schultern verbreitern sich, die Körperbehaarung nimmt zu, Hoden und Penis wachsen, in den Hoden wird Testosteron, das männliche Geschlechtshormon, produziert, es kommt zum ersten Samenerguss, die Zeugung von Kindern ist möglich. Außerdem setzt der Bartwuchs ein, der Stimmbruch beginnt, und die Stimme wird langsam tiefer.

„Diese körperlichen Veränderungen sind für die Pubertierenden psychisch nicht einfach zu bewältigen“, weiß Hochgatterer. „Sie sehen sich im Spiegel und müssen sich mit der Tatsache abfinden, dass sie ein bisschen komisch aussehen.“ Bei vielen wachsen zuerst Arme und Beine in die Länge, das Ergebnis kann schlaksig wirken. Häufig bescheren die Hormonschübe Pickel oder Akne, die Schweißproduktion erhöht sich, der Körpergeruch wird „streng“.
Spricht jemand diese Veränderungen auf eine Art und Weise an, die die Betroffenen als verletzend empfinden, kann das Überreaktionen auslösen. „Die Pubertät ist eine Phase der erhöhten psychischen Verwundbarkeit“, weiß Experte Hochgatterer, „und besonders, was das Thema Körper anbelangt, sind die Pubertierenden extrem leicht zu kränken.“

Party & Provokation
Auf psychischer und sozialer Ebene geht es nicht weniger heikel zu. Hier sind es zwei Themen, die die Pubertierenden zentral beschäftigen, sagt Hochgatterer. „Das ist einerseits die Suche nach Konflikten, die der Abgrenzung zu den Eltern und dem Finden und Stabilisieren einer neuen sozialen Rolle im Familien- und Freundeskreis dient, und andererseits ist das das Erlernen des Umgangs mit der eigenen Sexualität.“

Je nach dem Wesen des Heranwachsenden und der Konfliktkultur, die im Umfeld herrscht, fallen die Auseinandersetzungen heftiger oder weniger heftig, lauter oder leiser aus. Die Pubertierenden greifen die Eltern nicht selten persönlich an, um zu ihrem Streit zu kommen. Auch tun Jugendliche oft gezielt das, was verboten ist, um die Eltern zu ärgern und zum Streit zu provozieren: Rauchen, Alkohol trinken und so lange Party machen, bis der vereinbarte Zeitpunkt des Nachhausekommens längst verstrichen ist.

Die Veränderung der sozialen Rolle im Freundeskreis funktioniert ebenfalls über Konflikte, die provoziert werden. Beleidigungen, Beschimpfungen, Raufereien und Mobbing stehen unter Pubertierenden an der Tagesordnung. Auch das ist nicht so einfach wegzustecken, führt zu einem Hin und Her im Denken und kann gepaart mit dem emotionalen Auf und Ab, das allein die Hormonschübe bescheren, die heranwachsenden Söhne und Töchter aus dem Lot bringen. Der Trost für die Eltern: Von einem Tag auf den anderen kann aus einem griesgrämigen ein fröhlicher, blödelnder und kichernder Pubertierender werden – wenn etwas Schönes in sein Leben tritt, wie zum Beispiel die erste Liebe. Spätestens dann aber rückt das Lernen des Umgangs mit der eigenen Sexualität in den Vordergrund. Und auch die Gedanken daran machen wiederum unsicher, bringen Selbstzweifel und werfen eine Vielzahl von Fragen auf. Für Eltern wichtig: Den Kindern in dieser Situation alle Information zu geben, die sie haben wollen. Und wann sind die Krisenjahre endlich überstanden? Hochgatterer: „Wenn die Konflikte weniger geworden sind und man den Eindruck gewinnt, dass das einstige Kind sein neues Ich so weit entwickelt hat, dass es zu einer erwachsenen und stabilen Identität gefunden hat.“

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INTERVIEW

Die Wiener Gynäkologin, Psychotherapeutin und Erziehungsberaterin Dr. Martina Leibovici-Mühlberger über Maßnahmen, die die Krisenzeit Pubertät in eine Chance für Kinder und Eltern verwandeln können.

MEDIZIN populär
Was können Eltern tun, um ihre Kinder in der Pubertät zu unterstützen?  

Dr. Martina Leibovici-Mühlberger
In der Pubertät erntet man zumeist die Früchte, die man in der frühen Kindheit gesät hat. Zeit, Zuwendung und Zärtlichkeit sollten die Kinder auch in der Pubertät noch erhalten. Sie sind jetzt besonders verletzlich und sollten behutsam behandelt werden. Was sie brauchen, ist die schrittweise Akzeptanz ihrer Autonomie sowie Anteilnahme.

Wie kann man zu seinem plötzlich unnahbaren Kind wieder Kontakt herstellen?
Indem man präsent ist. Familiäre Rituale, z. B. regelmäßige gemeinsame Abendessen, fördern das Miteinander und bieten den Jugendlichen eine Struktur. Oder man lässt sich von den Jugendlichen in einem Detailbereich, in dem sie kompetenter sind als man selbst, etwa in Sachen EDV, unterstützen. Das gibt den Pubertierenden ein Gefühl von Wertschätzung und Akzeptanz.

Wie können Eltern, die sich nach vielen fruchtlosen Diskussionen resigniert zurückgezogen haben, wieder zu einer guten Gesprächsbasis finden?
Sie sollten mit den Kindern auf Augenhöhe kommunizieren und nicht ständig den besser wissenden Erwachsenen heraushängen lassen. Dann bekommen die Eltern auch ein gutes Gespür dafür, wo die Jugendlichen in ihrer Entwicklung gerade stehen. Empfehlenswert – speziell für jene Eltern, die schon in kommunikativen Schwierigkeiten mit ihren Kindern stecken – sind Diskussionen über neutrale Themen, etwa über Politik oder Kunst.

Wie wichtig ist es, Pubertierenden Grenzen zu setzen?
Sehr wichtig. Eine Grenze bedeutet ja nicht nur Einengung, sie strukturiert auch den Raum – Stichwort Ausgehzeiten. Wird dieser Raum vom Kind gut verwaltet, kann man die Grenze ausdehnen, wenn nicht, muss man die Grenze enger stecken. Den Jugendlichen sollte man dabei vermitteln, dass sie selbst mit ihrem Verhalten entscheiden, wie die Grenzen ausfallen.

Eine abschließende Empfehlung?
Eltern sollten konsequent und authentisch sein – und die Werte, die sie den Jugendlichen abverlangen, selbst leben.

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Aggression, Depression, Testosteron

Gewaltbereitschaft in der Pubertät

Krisenjahre Pubertät – in der Jugend sind auch die Anfälligkeit für psychische Störungen wie Depressionen sowie die Suizidgefahr deutlich erhöht. 35 Prozent der jugendlichen Mädchen und 20 Prozent der Burschen geben an, depressiv zu sein, acht Prozent äußern demnach Suizidgedanken – das ergeben Schülerbefragungen in der Schweiz. Für Österreich gibt es keine vergleichbare Studie, man rechnet aber mit ähnlichen Werten.
 
Die Gewaltbereitschaft richtet sich auch nach außen. In vielen Fällen sind es Burschen, die Aggression und Anspannung an der Umwelt abreagieren. „Das hat damit zu tun, dass ein forsch auftretender junger Mann immer noch als Prototyp des gelungenen Burschen gilt – zudem fördert das männliche Hormon Testosteron das aggressive Verhalten“, erklärt Dr. Martina Leibovici-Mühlberger von der ARGE Erziehungsberatung in Wien. Mädchen richten schwierige Emotionen eher gegen sich selbst, sie reagieren autoaggressiv – sei es mit Essstörungen oder indem sie sich selbst Verletzungen zufügen.

Die Umbruchsphase macht die Pubertierenden verletzlich und leicht irritierbar. „Fehlt es an Führung und Begleitung durch die Bezugspersonen oder ist man in einen schwierigen Freundeskreis geraten, so ist die Gefahr einer Abhängigkeit, sei es von Drogen oder Alkohol, erhöht.“ Studien dazu belegen: Je früher der kindliche Organismus mit Alkohol konfrontiert wird, umso höher ist das Risiko für die Entwicklung einer Sucht. Entsprechend alarmierend sind die Ergebnisse einer Umfrage, die die ARGE Erziehungsberatung (Leitung Leibovici-Mühlberger/ Kern) an 1100 Teenagern durchführte: Mehr als 200 der Befragten waren jünger als 13, als sie das erste Mal Alkohol konsumierten.

KontaktTipps
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Beratung für Eltern:
ARGE Erziehungsberatung
1070 Wien, Neubaugasse 1
E-mail: beratung@fitforkids.at
Telefon: 01/890 11 61
www.fitforkids.at
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Beratung für Kinder
und Jugendliche: „Rat auf Draht“
Telefon: 147
https://www.rataufdraht.at

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