Die Herzkrankheiten der Opernhelden

Juni 2007 | Medizin & Trends

„Don Giovanni“ verkörpert den Mann unserer Zeit. Davon ist der Kardiologe und Musikkenner Dr. Georg Titscher überzeugt: Der risikoreiche, rast- und ruhelose Lebensstil beschert dem Helden der Mozartoper einen Herzinfarkt mit tödlichem Ausgang. Aber auch andere Opernkomponisten lassen uns mitten ins Herz ihrer Heldinnen und Helden blicken, wie der Arzt für MEDIZIN populär analysiert.
 
Von Mag. Wolfgang Bauer

In wenigen Wochen gibt es bei den Festspielen von Salzburg, Bregenz, Erl & Co wieder Opernmusik vom Feinsten. Das lässt die Herzen von Musikliebhabern wie Dr. Georg Titscher höher schlagen. Der Oberarzt an der II. Medizinischen Abteilung (Kardiologie) des Hanusch-Krankenhauses in Wien hat sich auf das Gebiet der Psychokardiologie spezialisiert, beschäftigt sich also mit den Einflüssen von Gefühlen und Stimmungen auf das Herz-Kreislaufsystem – und ist ein glühender Opernfan. Allerdings genießt er die Opernklänge nicht nur als Kunstliebhaber, sondern auch als Arzt. Denn er findet in dieser musikalischen Gattung sehr viel Gespür und Wissen der Komponisten für jene Dinge, die ihn beruflich beschäftigen: die Psychosomatik des Herzens – von Rhythmusstörungen bis zum Herzinfarkt. „Das Herz ist ein hochsensibles Organ, die Herz-Kreislauftätigkeit hängt sehr stark mit der jeweiligen Gefühlslage zusammen. Und diese physiologischen Zusammenhänge werden von manchen Komponisten auf ganz besondere Art und Weise musikalisch dargestellt“, so der Kardiologe.

Tiefenpsychologe Mozart
Besonders die Opernmusik Wolfgang Amadeus Mozarts hat es dem Arzt angetan. „Mozart bringt wie kaum ein anderer Komponist in seinen Opern Menschenschicksale, Konflikte und Beziehungskrisen auf die Bühne, die uns bewusst und unbewusst tiefe Einblicke in die menschliche Psyche gewähren. Das sind nicht einfach Helden oder Bösewichte, sondern sie vereinen zwei Seelen in einer Brust, sie haben widerstrebende Gefühle und werden von inneren Konflikten gequält“, sagt Titscher. Die Oper – eine musikalische Schilderung des menschlichen Gefühlslebens mit allen Tiefen und Untiefen!
Eines der schönsten Beispiele dafür ist für Dr. Titscher die Arie „O wie ängstlich, o wie feurig“ des Belmonte in der Mozart-Oper „Die Entführung aus dem Serail“. Belmonte ist seiner in den Orient entführten und an einen Fürsten verkauften Verlobten Konstanze nachgeeilt, um sie aus dem fürstlichen Palast zu entführen und wieder nach Hause zu holen. Unmittelbar vor der Begegnung mit ihr ist er aber hin- und hergerissen zwischen der Freude des Wiedersehens und der Sorge, ob sie ihm treu geblieben ist und ihn noch liebt. Dr. Titscher: „Das bestimmende musikalische Element der Arie ist ein Klopfmotiv. Es handelt sich um das Klopfen des liebenden, anfangs mehr ängstlich stockenden als feurigen Herzens von Belmonte. Der musikalisch unterbrochene Rhythmus drückt die Stimmung der Unentschlossenheit und Angst Belmontes aus. Erst am Schluss der Arie verschwindet die Arrhythmie, das Herz schlägt wieder rhythmisch, damit ist es auch mit der zaghaft ängstlichen Stimmung vorbei – eine wunderbare musikalische Schilderung von gegensätzlichen Gefühlen, wie wir sie auch aus der psychosomatischen Medizin kennen.“

Gefühlswelt in Tönen
Unterschiedliche, ja gegensätzliche Gefühle kommen auch in der Mozartoper „Così fan tutte“ zum Ausdruck. In der so genannten Felsenarie besingt Fiordiligi ihre standhafte Treue zu ihrem Verlobten Guglielmo. Das Orchester spielt aber zu ihrer felsenfesten Überzeugung eine fallende Sequenz, wodurch angedeutet wird, dass sie ihren Treueschwur nicht wird halten können, wird sie doch von einem anderen Mann heftig umworben. Mozart spielt also mit Hilfe musikalischer Mittel mit dem Bewussten und dem Unbewussten sowohl seiner Figuren als auch der Zuhörer.
So etwas war, weiß Kenner Titscher, für das damalige Opernpublikum völlig neu. Seinerzeit drückten Arien hauptsächlich eine einzige große Emotion aus, wie zum Beispiel Liebe, Rache oder Trauer. Auch Mozart selbst komponierte solche Arien, man denke an die bekannte Rache-Arie der Königin der Nacht aus der „Zauberflöte“. Aber Mozart war es auch, der einen bis dahin nicht üblichen Wechsel der Affekte innerhalb einer Arie vollzog. „Damit zeigt uns Mozart erstmals in der Musikgeschichte auch das Unbewusste der handelnden Personen“, sagt Titscher.

Das gebrochene Herz
Opernhelden sterben häufig auf sehr dramatische Weise – im Kampf, durch Gift usw. Es gibt aber auch eindrucksvolle Beispiele für eine Todesart, die auch die moderne Medizin beschäftigt: den psychosomatisch bedingten Herztod. Auch auf diesem Gebiet ist Mozart zu nennen. „Sein Don Giovanni stirbt den Tod unserer Zeit. Im besten Mannesalter ereilt ihn der Herzinfarkt“, ist für Dr. Titscher klar. Don Giovanni zeigt ein typisch modernes männliches Risikoverhalten: Er ist ruhelos, hetzt von einem missglückten Abenteuer zum nächsten. Das spiegelt auch die Musik wider. Hier gibt es keinen ruhigen Moment, keinen Augenblick der Besinnung, der Kontemplation. Don Giovanni singt kurze, hastige Sätze, als einzige Hauptperson der Oper singt er keine Reflexionsarie, bietet also keine große Darstellung von Gefühlen. Für ihn gibt es kein Innehalten, nur Vorwärtsdrängen, sagt Titscher. „Er zeigt aber auch andere moderne Risikofaktoren, er isst zum Beispiel hastig, verschlingt große Bissen. Andere Männer sind in seinen Augen Konkurrenten, denen er die Frau wegnimmt. Diese wiederum sind für ihn nur Sammelobjekte, Zeichen seiner sexuellen Leistungsfähigkeit.“
Die tragische Konsequenz seines Verhaltens: Herzinfarkt. Dieser ereilt ihn während einer üppigen Mahlzeit, als ihm der Komtur die Hand reicht – ein hoher Beamter, der die Vaterfigur symbolisiert. Da bekommt Don Giovanni schrecklich brennende Schmerzen in der Brust: „Wer zerreißt mir die Seele? Wer wühlt in meinen Eingeweiden? Welche Qual, ach, welches Rasen!“, singt der Held. Für den Kardiologen Titscher ist der Sachverhalt klar: „Don Giovanni stirbt auf der Suche nach seiner Identität, auf der Suche nach dem Vater, an dem er zerbricht, in dem Moment, in dem er erkennen muss, dass sein ganzes Leben sinnlos gewesen ist.“

Gestörter Rhythmus
In Peter Iljitsch Tschaikowskys Oper „Pique Dame“ kommt es ebenfalls zu einem kardiologisch interessanten Ereignis: zum Tod durch Herzrhythmusstörung. Der Offizier Hermann, ein neurotischer, selbstzerstörerischer Spieler, will der alten Gräfin, „Pique Dame“ genannt, das Geheimnis dreier gewinnbringender Karten entlocken. Doch die Gräfin schweigt, Hermann bedroht sie daraufhin mit der Pistole. Sie ist diesem Schrecken nicht gewachsen und sinkt tot in ihren Lehnstuhl zurück. Bemerkenswert ist für Dr. Titscher Tschaikowskys musikalische Umrahmung dieser Szene. Der Komponist lässt uns nämlich genau miterleben, woran die alte Dame stirbt. „Wir hören im Orchester den Herzschlag der Gräfin, wir spüren die Angst und Spannung im abgehackten Rhythmus. In dem Moment, in welchem die Gräfin erschrickt, bringt ein kurzer scharfer Forte-Einsatz den bisherigen Rhythmus durcheinander. Es entsteht ein extremer polyrhythmischer Effekt, die Gräfin bekommt also Rhythmusstörungen, ganze Salven von Extrasystolen – wie die Herzzwischenschläge genannt werden. Der Zustand wird lebensgefährlich, was durch die Wiederholung um eine Quart höher dargestellt wird. Schließlich kommt es zum Zusammenbruch der Frau“, so der Kardiologe, der überzeugt davon ist, dass sich dem beklemmenden Eindruck dieser Szene wohl kaum ein Zuhörer entziehen kann.
Ebenso überzeugt ist Dr. Georg Titscher davon, dass die Oper der psychosomatischen Medizin sehr viel zu geben hat, ja dass manche Komponisten mindestens genauso gute Kenner leib-seelischer Zusammenhänge sind wie Ärzte und Psychotherapeuten. Wie sagte schon der Psychiater und Kenner der österreichischen Seele, Erwin Ringel? „Höre dir eine gute Opernaufführung an, und du weißt, worauf es ankommt in deinem Leben!“


   

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