Trauma: SOS der Seele

Juni 2008 | Gesellschaft & Familie

Wie Menschen ein Trauma überleben und überwinden können
 
Das Inzestverbrechen in Amstetten löste allgemeines Entsetzen und ungläubige Betroffenheit aus. Wie ist es möglich, dass ein Mensch einem anderen so Schlimmes zufügen kann? Und wie ist es möglich, dass ein Mensch so etwas Schlimmes über viele Jahre ertragen und überleben kann? Bei traumatischen Erlebnissen wie Missbrauch, Gewalt oder Geiselnahme funkt die Seele gleichsam „SOS“, der Organismus schaltet auf sein Notprogramm und nützt seine ureigenen Überlebensstrategien. Lesen Sie, welche das sind.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Die Muskeln sind angespannt, die Reaktionsfähigkeit ist beschleunigt, Herzfrequenz und Blutdruck steigen – auf eine gefährliche oder bedrohliche Situation reagiert der Organismus mit einer Fülle von Stressreaktionen und macht sich damit bereit, zu kämpfen oder zu fliehen. Dieser Kampf-Flucht-Mechanismus ist die erste der drei Überlebensstrategien, die wir angesichts einer Gefahr entwickeln.

Chronologie des Überlebens
„Es gibt eine abgestufte Folge von Reaktionsabläufen“, erklärt Dr. Sylvia Wintersperger, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin sowie Mitbegründerin des Zentrums für Angewandte Psychotraumatologie in Wien. „Wenn der Organismus eine Gefahr registriert, schaltet sich ein automatisches Stresssystem ein.“ Die Schaltung geht von einem Teil des Gehirns aus: dem limbischen System, gleichsam unserem „emotionalen Gehirn“.
Was passiert nun, wenn – wie im genannten Inzestfall – Kampf oder Flucht unmöglich sind? „Ist eine Situation extrem bedrohlich und kann man – obwohl das Stresssystem maximal aktiviert ist – weder kämpfen noch fliehen, verfällt der Organismus in einen Erstarrungszustand, den wir ,Freeze‘ nennen.“ Der Körper ist angespannt, wie erstarrt, der Blick geht ins Leere.
Dauert die Traumatisierung weiter an, eventuell über Stunden, ändert sich die Stressreaktion noch einmal. „Das Opfer gerät in den ,Submit-Zustand‘, den physiologischen Zustand der Unterwerfung“, erklärt die Psychiaterin. „Der Muskeltonus ist eher schlaff, der Blutdruck niedrig, das Opfer lässt völlig willenlos alles mit sich machen, was von ihm verlangt wird.“
Ist jemand nun über lange Zeit hinweg immer wieder extremen Stresssituationen ausgeliefert, so wird unbewusst einmal dieser, einmal jener Modus „gewählt“. „Bei einer Person, die diese Zustände immer wieder zum Überleben braucht, kann es sein, dass sie eine Art Aufteilung in innere seelische Anteile entwickelt. Das heißt: Ein Teil unterwirft sich, ein anderer Anteil versucht eventuell sogar, mit dem Täter zu verhandeln“, veranschaulicht Wintersperger. „Es sind wechselnde physiologische Zustände, mit denen der Körper reagieren kann und die sozusagen nebeneinander existieren.“

Bewusstsein verändert sich
Die genannten Mechanismen verstärkt die Natur bei Bedarf mit einem weiteren „Überlebenstrick“: Steigert sich eine Stresssituation ins Extreme – in Momenten höchster Gefahr und maximaler Todesangst – werden ab dem Freeze-Zustand zusätzlich Endorphine ausgeschüttet. „Die Natur mildert das Geschehen dadurch gleichsam ab. In diesem Moment tritt das Phänomen der Bewusstseinsveränderung ein“, erklärt die Psychotherapeutin. „Das Bewusstsein wird vage, trübe, alles erscheint unwirklich. Es gibt plötzlich kein Schmerzempfinden mehr, das Opfer kann sich an nichts mehr erinnern.“
Diese Bewusstseinsveränderungen sind reflexartige Vorgänge im Gehirn und werden in Summe als „Dissoziation“ bezeichnet. Die Dissoziation kann sich in Form von Derealisation („Alles ist so unwirklich“), von Depersonalisation („Ich spüre mich nicht mehr“) oder sogar als Außer-Körper-Erleben (man nimmt sich selbst als Außenstehender wahr) äußern. „Die Dissoziation hilft, etwas Schreckliches, das man erlebt, nicht wahrnehmen zu müssen“, erklärt Sylvia Wintersperger. Das geschehe typischerweise beim regelmäßigen sexuellen Missbrauch eines Kindes durch den eigenen Vater. Sobald das Kind realisiert, dass „es“ wieder passieren wird, schaltet sich ein anderer Bewusstseinszustand ein.

Posttraumatische Belastung
Selbst wenn das Schreckliche schließlich durchlitten und die äußere Gefahr gebannt ist – der Schrecken ist längst noch nicht vorbei. Traumafolgestörungen wie die „posttraumatische Belastungsstörung“ machen den Opfern noch lange zu schaffen. Die anhaltende erhöhte Stressbereitschaft („Hyper­arousal“) etwa ist für die Betroffenen äußerst quälend. „Sie befinden sich permanent in einer übermäßigen Anspannung, sie können nicht schlafen, werden sehr jähzornig oder schreckhaft“, so Wintersperger.
Die Behandlung dieser Störungen im Rahmen einer Traumatherapie soll die Betroffenen schrittweise an ein normales Leben heranführen. „Wichtig ist vor allem, dass man diesen Menschen zunächst aktiv eine sichere Beziehung anbietet“, betont die Trauma-Expertin. Auch gilt es, die quälenden Erinnerungen (Flashbacks) in den Griff zu bekommen, um sie dann zu bearbeiten. „Belastende Erlebnisse, Bilder, Gefühle und Körperzustände drängen sich immer wieder auf.“ Dabei wird der Organismus regelrecht mit Eindrücken überflutet und der Patient ständig aufs Neue in Schrecken versetzt. Spezifische Übungen helfen den Traumatisierten, die schädlichen Bilder auf Distanz zu bringen. „Parallel dazu bemühen wir uns, eine gute innere Vorstellungswelt aufzubauen“, erklärt die Therapeutin.

Traumaarbeit
In Rahmen der Therapie erfahren die Betroffenen Schritt für Schritt, was genau mit ihnen während des Traumas passiert ist. „Man erklärt ihnen, dass sie nicht verrückt oder schuldig sind und dass sie unter den normalen Folgen von extremer, lang andauernder Belastung leiden.“ Erst nach einer unterschiedlich langen Phase der Stabilisierung wird das Trauma selbst bearbeitet.
Dass ein Opfer – wie von Elisabeth F. aus Amstetten berichtet – mit dem Täter niemals wieder etwas zu tun haben will, wertet die Therapeutin als gutes Zeichen: „Wir können erst am Trauma arbeiten, das Geschehen aus sicherer Distanz betrachten, wenn der Kontakt zum Täter sicher beendet ist.“ Werden traumatische Ereignisse nicht aufgearbeitet, können sie auf unbewusster Ebene vielschichtig und sogar über Generationen (z. B. Kriegstrauma) weiter wirken. „Menschen, die belastende Erlebnisse nicht integrieren konnten, leiden häufig unter ständiger Anspannung oder quälenden Erinnerungen“, weiß die Medizinerin. „In Stressmomenten kann es passieren, dass sie etwas weitergeben, was sie gar nicht weitergeben wollen, z. B. wenn eine Frau, die als Kind geschlagen wurde, plötzlich selbst zuschlägt.“

Es ist vorbei!
Gibt es Anzeichen dafür, dass ein Trauma tatsächlich überwunden ist? „Ein Trauma ist dann bewältigt, wenn der Betroffene die Geschehnisse vollständig erzählen kann und wenn dabei die emotionale Reaktion, z. B. Wut, Abscheu oder Verurteilung, in einem angemessenen Ausmaß vorhanden ist – immer verbunden mit dem Wissen: ,Es ist vorbei‘“, erläutert Sylvia Wintersperger. „Wenn es gelungen ist, die Traumatisierungen einzuordnen in Zeit und Raum der eigenen Biographie, dann ist das Trauma bewältigt und stört das Leben im Alltag nicht mehr.“

WEBTIPP:
Das Österreichische Netzwerk für Traumatherapie (ÖNT) informiert über Traumatherapeuten in Österreich unter www.oent.at
    

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