Dystonie: Wenn die Muskeln nicht gehorchen

Februar 2008 | Medizin & Trends

In Österreich sind etwa 10.000 Menschen von Dystonie betroffen – die Dunkelziffer ist allerdings deutlich höher, da diese Krankheit auch von Ärzten häufig übersehen bzw. als rheumatische oder psychiatrische Erkrankung falsch eingestuft wird. Von Dystonie betroffen sein können Personen jedes Alters – betrifft sie mehrere Körperregionen, beginnt sie teils schon im Kinder- und Jugendalter, ist sie auf einen Körperteil beschränkt eher im späteren Alter.
 
Von Mag. Christian F. Freisleben-Teutscher

Bei Menschen mit Dystonie ziehen sich Muskeln in einer oder mehreren Körperregionen unkontrollierbar zusammen. So kann es z. B. zu Fehlhaltungen im Halsbereich kommen. „Weiters kann es zu einem Krampf der Augenlider kommen und zu unregelmäßigem und krampfhaftem Blinzeln, das in schweren Fällen bis zur funktionellen Blindheit führen kann“, erklärt Univ.Prof. Dr. Peter Schnider, ärztlicher Leiter der Neurologie am Landesklinikum Thermenregion Hochegg in Niederösterreich. Eine Folge von Dystonie können Verkrampfungen der Sprechmuskulatur sein, die eine gepresste oder verhauchte Sprache bewirken. „Manchmal treten Dystonien nur bei ganz bestimmten Tätigkeiten auf, etwa beim Schreiben oder auch beim Musizieren“,so Schnider. So soll der deutsche Komponist und Pianist Robert Schumann an einer so genannten fokalen Dystonie des Mittelfingers der rechten Hand gelitten haben: Über seine „leidende Hand“ und den Finger, der „uncorrigible“ schien, klagte Schumann in vielen Briefen an seine Frau Clara.

Die Symptome der Dystonie können bis zu einem gewissen Grad gelindert werden, die Krankheit selber ist aber auch heute noch nicht heilbar. Schnider bedauert, dass „Dystonie leider immer wieder als psychisches Leiden (dis)qualifziert wird und die Betroffenen oft entsprechend ausgegrenzt werden“. Er betont, dass„ Wahrnehmung, Gedächtnis, Empfinden sowie intellektuelle Leistungsfähigkeit nicht betroffen sind. Psychische Probleme können eine Reaktion auf die Symptome sein. Menschen mit Dystonie können von Vereinsamungs- und Rückzugstendenzen betroffen sein, auch weil sie oft ausgegrenzt werden. Wichtig ist, diese Menschen ernstzunehmen und sie auf ihrem Weg zu unterstützen.“ –„Wir sind vielleicht krumm, aber nicht dumm“, bringt es eine Betroffene auf den Punkt. Sie leiden unter unkontrollierbaren Verspannungen der Muskeln, die zu Fehlhaltungen im Halsbereich, Zuckungen im Gesicht und anderen Beeinträchtigungen führen. Und sie leiden unter den Vorurteilen ihrer Umwelt, die sie als „psychisch krank“ ausgrenzt.

OFT VERGEHEN JAHRE BIS ZUR DIAGNOSE
Für Schnider ein zentrales Problem bei Dystonie ist, dass Betroffene häufig jahrelange Wege zu verschiedenen Ärzten und Psychotherapeuten hinter sich haben, ohne dass die Krankheit richtig erkannt wurde. „Die rasche und richtige Diagnose ist aber Voraussetzung für eine angemessene und wirkungsvolle Therapie! Taucht ein entsprechender Verdacht auf, sollte möglichst rasch an einen Neurologen überwiesen werden, der auf Bewegungsstörungen spezialisiert ist.“

Bei den meisten Betroffenen finden sich keine eindeutigen Ursachen für die Krankheit – es gibt Vermutungen für genetische Ursachen. In etwa einem Fünftel der Fälle können ein Schlaganfall oder Hirnverletzungen Symptome einer Dystonie verursachen.

Lange Zeit gab es für Dystonie keineTherapie, seit einigen Jahren wird Botulinum-Toxin meist mit sehr gutem Erfolg eingesetzt. Es ist ein Gift des Bak-teriums Clostridium botulinum und wird unter anderem auch in der Schmerztherapie eingesetzt. Das Mittel wird lokal in die von der Dystonie betroffenen Muskeln injiziert und führt dort zu einer Muskelentspannung, die zirka drei bis sechs Monate anhält – die Behandlung muss also zwei bis drei Mal im Jahr wiederholt werden. „Es ist ein erprobtes und sicheres Medikamentmit einer großen therapeutischen Breite. Nebenwirkungen treten wenn, dann selten und lokal auf bzw. fallen sehr milde aus“, betont Schnider. Zum Beispiel kann bei einer Injektion in einen Halsmuskel eine leichte vorübergehende Schluckstörung auftreten. Zwei Drittel der Patienten sprechen sehr gut auf die Behandlung an. Eine mögliche Alternative ist in manchen Fällen, besonders bei hohem Leidensdruck, die „tiefe Hirnstimulation – dabei werden kleine Elektroden in die Bewegungszentren des Gehirns implantiert, die als Schrittmacher eine Normalisierung der Bewegungen bewirken“, berichtet Schnider.

Wichtige sonstige Standbeine der Behandlung sind unterstützend auch Physiotherapie, unterschiedliche Entspannungstechniken, unterstützende psychologische oder psychotherapeutische Betreuung für eine bessere Krankheitsverarbeitung und in machen Fällen auch Osteopathie bzw. Akupunktur. Schnider unterstreicht, dass „ein wichtiger Aspekt zudem die berufliche Integration sowie die möglichst umfassende Förderung eines selbstbestimmten und aktiven Lebens ist“. „

***************

BETROFFENE BERICHTEN

„Meine Bewegungen machen sich selbstständig“
Christa H. über die Anfänge ihrer Krankheit

„Ich spüre ein steifes Genick und sehe verschwommen beim Autofahren. Irgendetwas rätselhaftes passiert in meinem Körper. Meine Bewegungen machen sich selbstständig. Mein Kopf spielt verrückt. Nichts funktioniert mehr richtig. Große Ratlosigkeit macht sich breit. Es folgen Behandlungen, Infusionen, Medikamente, Massagen und alles mögliche, und …es wurde wieder besser.“

1990 wurde es dann wieder schlimmer, Frau H. war von einem Moment auf den anderen „schief und steif. Ärzte, Ärzte, Ärzte aber keine Hilfe, keine Linderung der Schmerzen, kein Ende der Krämpfe“.

Bei Frau H. wirkten Injektionen mit Botulinum-Toxin – „ein mühsamer Weg, aber ich konnte wieder arbeiten, meinen Betrieb führen, ein bisschen leben“. Aufgrund ihrer Erlebnisse wurde sie 1995 zur Gründerin der„Österreichische Dystonie Gesellschaft“.

„An den freien Tagen bin ich praktisch blind“
Elisabeth F. wünscht sich mehr Verständnis für ihre Bedürfnisse

„Durch meine Krankheit ist die Zeit, in der ich ohne Aufhalten eines Augenlids mit der Hand und fallweise sogar ohne Probleme sehe, auf zirka 20 Prozent beschränkt“, berichtet Elisabeth F. Sie versucht diese Zeit durch diverse oft sehr kostenintensive Therapien zu steigern. „Ich gehe an vier Tagen arbeiten. Den fünften Tag brauche ich, um mit Hilfe von ein bis zwei Therapien die nächsten Tage wieder ‚fit‘ für meinen Job zu sein.“ Am Wochenende versucht sie zu entspannen oder nutzt die Zeit für Bewegungstherapien „um am Montag und Dienstag wieder eine gute Phase zu haben. An den freien Tagen bin ich praktisch blind, da ich nach der Arbeit nicht mehr die Kraft habe, ein Augenlid mit den Fingern zu öffnen und der ganze Körper schmerzt.“ Sie suchte bei diversen Stellen um Haushaltshilfe, eine Begleitung für Besuche bei Ärzten und Therapeuten sowie für den Weg zur Arbeit an – bis-lang ohne wirkliche Erfolge.

 „In den Augen der Sozialversicherung haben Therapien wie Craniosacrale Behandlung, Shiatsu-Therapie oder Fußreflexzonen-Massage wenig bis keinen Wert – obwohl gerade diese Maßnahmen mir ein einigermaßen‚ normales‘ Leben ermöglichen“, ist Frau F. nach unendlichen Telefonaten und Schreiben oft schon sehr frustriert. Auch Psychotherapie wird ihr nur anteilsmäßig vergütet. „Eigentlich möchte ich meine Tochter nicht länger belasten und ein eigenständiges Leben führen – aber wirkliche Unterstützung dazu zu bekommen ist oft unmöglich!“

***************
KontaktTipp
„Österreichische Dystonie Gesellschaft“

Eine Hauptbotschaft, die durch die 1995 gegründete Selbsthilfeorganisation gesendet werden soll, ist: „Du bist nicht alleine!“ Die „Österreichische Dystonie Gesellschaft“ (ÖDG) setzt auf Informations- und Aufklärungsarbeit. „Wir wollen der Ausgrenzung von Menschen mit Dystonie entgegenwirken und die Sicherung rascher Diagnosen sowie eines breiten Feldes adäquater Behandlungen unterstützen“, so die Gründerin Christa H. Betroffene werden bei den oft mühsamen Verhandlungen mit den Krankenkassen, der Pensionsversicherung und sonstigen Kostenträgern unterstützt. Außerdem wird bei Bedarf individuelle Beratung und Unterstützung vermittelt. Auch die Entstehung von Dystonie-Selbsthilfegruppen wird gefördert.

www.dystonie.at 

   

aktuelle Ausgabe

MP Cover 2023-06

Sie wollen mehr?

Das freut uns!

 

WÄHLEN SIE EINFACH AUS:
» ABO «

» MEDIZIN-populär-APP «
» E-MAGAZIN «

(im Austria Kiosk)

Abo bestellen

E-Magazin

Abo Service

Gewinnspiel

Kontakt

Newsletter

aktuelle Ausgabe

MP Cover 2023-06

Sie wollen mehr?

Das freut uns!

 

WÄHLEN SIE EINFACH AUS:
» ABO «

» MEDIZIN-populär-APP «
» E-MAGAZIN «

(im Austria Kiosk)

Abo Service

E-Magazin

Gewinnspiel

Kontakt

Newsletter

Abo Service

Gewinnspiel

E-Magazin

Newsletter