Umsorgen bis zum Umfallen

Januar 2014 | Gesellschaft & Familie

Wenn Pflege über die Belastungsgrenze geht
Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause im Kreis der Familie betreut; meistens sind es die Frauen, die diese Aufgabe übernehmen. Jede Vierte verausgabt sich dabei so sehr, dass die eigene Gesundheit angegriffen wird. Etwas Erleichterung verspricht die Pflegekarenz, die am 1. Jänner 2014 in Österreich eingeführt wurde.
 
Von Mag. Karin Kirschbichler

16 Jahre lang hat Roswitha K. ihren Mann gepflegt, der nach einem Schlaganfall an den Rollstuhl gefesselt war. 16 Jahre, in denen sich alles um ihn gedreht hat. „Und dann hat mich auf einmal jemand gefragt, wie es denn eigentlich mir geht“, erinnert sich Frau K., und kann es bis heute nicht fassen: „All die Jahre hatten sich alle immer nur nach meinem kranken Mann erkundigt. Und plötzlich interessierte sich jemand für mein Befinden! Später ist mir klar geworden, dass ich mir die ganze Zeit über gar nicht erlaubt hatte, darüber nachzudenken, wie ich mich fühle. Sonst wäre ich vielleicht zusammengebrochen.“
Kurz vor dem Zusammenbruch stand Anna F., die für die Pflege ihrer kranken Mutter sogar ihren Beruf aufgegeben hat. Inmitten der ohnehin großen Belastungen, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung mit sich bringt, fachte die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung wieder auf. „Eigentlich hatte ich einen großen Ärger auf sie, denn sie war mir nie eine gute Mutter gewesen“, erzählt Anna F. „Sie hat mir nie gegeben, was ich gebraucht hätte, hat mich immer nur manipuliert. Und doch habe ich mich verpflichtet gefühlt, sie nicht im Stich zu lassen, als sie krank wurde.“ Auch die nunmehr vertauschten Rollen haben der pflegenden Tochter große Schwierigkeiten bereitet. „Jetzt war meine Mutter das Kind, und ich quasi Mutter für die Mutter. Es war schwer auszuhalten, die Frau, die mich immer nur bevormundet hatte, jetzt so ohnmächtig zu erleben.“ Über den großen inneren Konflikten ist Anna F. selbst krank geworden: „Weil ich den Ärger, den ich nicht ausdrücken konnte, gegen mich selbst gerichtet habe, ist es mir psychisch immer schlechter gegangen.“

Bis an den Rand der Erschöpfung
Bis zu eine Million Menschen, so die Schätzung aus dem Sozialministerium, sind in Österreich in die Pflege von Angehörigen involviert. Meist sind es die Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter, die diese Aufgabe übernehmen; Pflichtgefühl und Selbstverständlichkeit sind ihre hauptsächlichen Motive. „Der hohe Druck durch die verinnerlichte Norm der Verpflichtung trägt nicht unerheblich dazu bei, dass bis an den Rand der Erschöpfung und bis zur Selbstaufgabe gepflegt wird“, weiß Dr. Johanna Franz. Die Wiener Allgemeinmedizinerin und Psychotherapeutin betreut in ihrer Praxis viele Menschen, die ein krankes Familienmitglied beinahe bis zum Umfallen umsorgt haben und deswegen an Beschwerden, Erkrankungen aller Art lavieren.
Pflegende Angehörige, so zeigt auch ein Bericht des Österreichischen Instituts für Gesundheitswesen, werden häufiger krank und sind anfälliger für stressbedingte gesundheitliche Probleme als die Durchschnittsbevölkerung. 70 Prozent macht die körperliche Belastung zu schaffen, die sich aus der Pflege ergibt. Unter dem Heben, Tragen, Stützen leiden insbesondere das Kreuz, die Schultern, die Gelenke. 80 Prozent der pflegenden Angehörigen fühlen sich psychisch überlastet. Auf die Seele drücken vor allem die Überforderung, das hohe Maß an Verantwortung und die Aussichtslosigkeit der Situation. „Burn-out, Depressionen, aber auch psychosomatische Beschwerden wie Schlafstörungen oder Rückenschmerzen sind die häufigsten Gründe, weshalb pflegende Angehörige zu mir in die Praxis kommen“, sagt Johanna Franz.

Vom Pflegenden zum Patienten
„Die Betreuung Pflegebedürftiger in den Familien stellt einen enormen gesellschaftlichen Nutzen dar und entlastet das Gesundheitssystem“, betont Franz. „In Geld ausgedrückt sind es mehr als drei Milliarden Euro pro Jahr, die hier an Leistungen erbracht werden“, ergänzt Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger. Für Johanna Franz stellt sich allerdings die Frage, ob die Folgekrankheiten aufgrund der Belastungen durch die Langzeitpflege das Gesundheitssystem nicht erst recht wieder strapazieren. „Ausreichend belegen lässt sich das leider nicht“, bedauert sie. „Weil die Zeit für Gespräche in den Arztpraxen immer mehr weggespart wird, können die Zusammenhänge nicht erfasst werden. Gesprächsmedizin ist aber vor allem auch im Umgang mit pflegenden Angehörigen das wichtigste Instrument, um zu verhindern, dass auch sie zu Patienten werden“, kritisiert Franz die Beschränkungen durch die Gesundheitspolitik.
An ihren Hausarzt wollen sich die Frauen und Männer, die die Langzeitpflege eines Familienmitglieds übernehmen, auch mit ihrer Unsicherheit wenden können, weiß die Allgemeinmedizinerin Franz aus Erfahrung: „Sie haben Angst, etwas falsch zu machen, eine Entscheidung zu treffen, die zu einer Verschlechterung des Zustands oder vielleicht sogar zum Tod führen könnte. Auch in diesem Punkt ist ärztliche Unterstützung gefragt.“ Psychotherapeutische Unterstützung wiederum kann helfen, mit seelischen Belastungen besser umgehen zu lernen und die oft schwierige Familiendynamik aufzulösen, die sich aus der Pflegesituation ergibt. „Nicht selten entstehen große Spannungen, wenn zum Beispiel alle Verantwortung für einen pflegebedürftigen Elternteil einem Geschwister aufgebürdet wird.“

Neu: Pflegekarenz, Pflegeteilzeit
Unterstützung von weiteren Familienmitgliedern oder von mobilen Pflegediensten schließlich ist das Um und Auf, um zu verhindern, dass Belastungsgrenzen überschritten werden. Immerhin verausgabt sich jede vierte pflegende Person so sehr, dass die eigene Gesundheit angegriffen wird. Die Gefahr der Überforderung ist dann besonders groß, wenn neben der kranken Person auch noch Kinder betreut werden und/oder einem Beruf nachgegangen wird. 30 Prozent der pflegenden Angehörigen sind erwerbstätig und müssen Job und Pflege unter einen Hut bringen. Für sie soll die bezahlte Pflegekarenz bzw. Pflegeteilzeit, die seit 1. Jänner in Anspruch genommen werden kann, etwas Erleichterung bringen. Damit bekommen nahe Verwandte die Möglichkeit, bis zu drei Monate ganz oder teilweise aus dem Berufsleben auszusteigen, um sich den Pflegeaufgaben widmen zu können. Voraussetzungen dafür sind: Pflegegeldstufe 3 des Angehörigen, Stufe 1 im Fall eines Kindes oder bei Demenz und das Einverständnis des Arbeitgebers.
„Das ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung“, begrüßt Birgit Meinhard-Schiebel im Namen der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger diese Maßnahme. „Allerdings sollte ein Rechtsanspruch darauf bestehen. Dass es die Zustimmung des Dienstgebers braucht, ist ein echter Pferdefuß.“ Auch die Beschränkung auf nahe Verwandte ist für Meinhard-Schiebel zu kurz gegriffen: „Man nimmt auf die sich verändernde Gesellschaft keine Rücksicht.“ So werden etwa Ehen immer öfter auch in höherem Alter geschieden, immer mehr Menschen leben in formal nicht festgelegten Beziehungen, immer mehr Frauen bleiben kinderlos. „Weil niemand anderer da ist“, übernehmen im Krankheitsfall zunehmend andere Personen die Pflege – Freunde, Nachbarn, nicht eingetragene Lebenspartner: „Auch sie sollten Rechte bekommen“, plädiert Meinhard-Schiebel.
Über das Recht auf Pflegekarenz wäre Roswitha K. seinerzeit froh gewesen: „Ich habe zwar nur in Teilzeit gearbeitet, aber oft hat es mich schier zerrissen zwischen Beruf, Kindern und der Betreuung meines Mannes.“ Wie viele pflegende Angehörige möchte aber auch sie die Zeit nicht missen, in der sie sich so intensiv um ihren Mann gekümmert hat: „Am Anfang war es sehr schwer. Mein Mann, der immer der Starke von uns beiden war, konnte es nicht ertragen, auf mich angewiesen zu sein. Er ist oft aggressiv geworden und hat viel mit mir geschimpft. Aber später, als er sich damit versöhnt hat, hatten wir auch unsere schönen Momente. Wir sind uns in der Zeit wieder ein Stück näher gekommen.“

****************
Pflege in Zahlen

  • Rund 440.000 Menschen in Österreich beziehen Pflegegeld.
  • Rund 80 Prozent der Pflegegeldbezieher werden zu Hause betreut.
  • Mehr als 70 Prozent der Hauptbetreuungspersonen sind Frauen.
  • 30 Prozent der pflegenden Angehörigen sind erwerbstätig.
  • 40 Prozent der Betreuungsleistungen werden vom Ehe- bzw. Lebenspartner erbracht, mehr als 25 Prozent von den Kindern, vor allem von Töchtern, für ihre Eltern.
  • 85 Prozent der pflegenden Angehörigen betreuen eine Person, zwölf Prozent sind für zwei Personen da.
    (Quelle: Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz)

Tipps:
Information zu Pflegekarenz bzw. Pflegeteilzeit: Bundessozialamt, www.bundessozialamt.gv.at, Telefon 05 99 88
Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger: www.ig-pflege.at, Telefon 01/58 900-328

 

Stand 01/2014

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