Wir brauchen die Angst wie die Luft zum Atmen: Bei Gefahr schärft sie unsere Sinne, mahnt sie uns zu Besonnenheit, kann sie uns das Leben retten. Wenn das Fürchten aber überhandnimmt und immer öfter ohne tatsächliche Bedrohung auftritt, wird das Leben zum Horror. Angststörungen sind noch vor Depressionen die häufigsten psychischen Leiden – in Österreich ist etwa jeder Vierte betroffen. Viele sind sich ihrer Erkrankung nicht bewusst und nehmen die oft massiven Einschränkungen im Alltag mitunter jahrelang hin. Wie sich krankhafte Angst äußern und welche dramatischen Auswirkungen sie haben kann.
Von Mag. Alexandra Wimmer & Mag. Karin Kirschbichler
Monika K. wird ihres Lebens nicht froh. Die 67-Jährige, die mit ihrem Ehemann ein hübsches Häuschen am Land bewohnt, lebt in ständiger Furcht: Sie sorgt sich um ihre Tochter, die beruflich viel reisen muss. Sie zittert mit dem Enkelsohn: Was, wenn er die Matura nicht schafft? Kommt ihr Mann einmal später als üblich von seinem Spaziergang zurück, befürchtet sie gleich einen Unfall oder Herzinfarkt. Überall lauern Bedrohungen und Gefahren – Monika K. hat eine regelrechte Angst vor dem Leben. Sie leidet, ohne es zu ahnen, an einer Angsterkrankung, einer generalisierten Angststörung, und den daraus resultierenden Einschränkungen. Wegen der endlosen Befürchtungen sind die Betroffenen ständig unter Hochspannung: „Sie werden schreckhaft oder fühlen sich dauernd auf dem Sprung“, beschreibt es OA Dr. Peter Berger, Leiter der Panikambulanz am Wiener AKH. Das erschöpft; viele kommen nicht einmal nachts zur Ruhe.
Alltäglicher Horror
Zwar sind Krankheiten, Unfälle, Trennungen und andere Verluste allgemein gefürchtete Ereignisse im Leben. Gewinnt die Angst davor jedoch die Oberhand, so verdrängt sie die vielen erfreulichen Seiten des Daseins – und das Leben selbst wird, wie im Fall von Monika K., zum Horror. Daneben können auch vermeintliche Kleinigkeiten – das Fahren im Aufzug, der Einkauf im Supermarkt, Tiere wie Hunde, Spinnen, Wespen – zur Quelle übersteigerter Ängste werden.
„Oft ist es schwierig, die Grenze zwischen „normal“ und „krankhaft“ zu ziehen“, betont der deutsche Angstforscher Prof. Dr. Borwin Bandelow von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Göttingen. Ist jemand einfach sehr schüchtern oder leidet der Betreffende an einer Sozialphobie? Ist ein ängstliches Naturell oder eine generalisierte Angststörung verantwortlich für die ausgeprägte Schreckhaftigkeit? Handelt es sich um normale Furcht oder den Beginn einer Panikattacke?
Krankhafte Angst hat viele Gesichter: Treten auf Partys oder Firmenfeiern regelmäßig Zittern, Schwindel und Benommenheit auf? Übermannt einen im Einkaufszentrum immer wieder plötzlich die Angst, ohnmächtig zu werden? Verursacht der Anblick einer Spinne Schweißausbrüche, Mundtrockenheit, Herzklopfen? Bei Sandra S. (47) ist das so: Die erfolgreiche Anwältin lehrt mit scharfzüngigen Plädoyers ihren Gegnern bei Gericht das Fürchten. Von der Souveränität ist nichts mehr übrig, sobald sie sich im gleichen Raum mit einer Spinne befindet: Sie wird zum bebenden Häufchen Elend, das sich erst beruhigt, wenn das „grausliche Tier“ beseitigt ist. Zu den vielen Opfern krankhafter Angst zählt auch ORF-Moderator Wolfram Pirchner (siehe Interview unten): In seinem kürzlich erschienenen Buch schildert er, wie ihn urplötzlich auftretende Schwindelanfälle, Atemnot, Engegefühle, Schweißausbrüche immer wieder in Todesangst versetzt haben. „Panikstörung“ lautete schließlich die Diagnose, seinen „Weg zurück ins Leben“ geht er bis heute.
Viele Alarmsignale
Dabei ist Angst eigentlich ein lebenswichtiges Warnsignal: Seit Urzeiten schärft sie die Sinne und stellt sicher, dass wir bei Gefahr lebensrettende Maßnahmen setzen: Kampf oder Flucht. „Dass Ängste auf dem Erbweg auf die Nachfahren übertragen werden, ist bis heute sinnvoll“, betont Angstforscher Bandelow. Wenn das Fürchten aber überhandnimmt, wird es zur Belastung und Krankheit: „Wenn man sich wenigstens die Hälfte der Zeit mit der Angst beschäftigt oder ihretwegen sein Leben umstellen muss, sei es die Arbeit oder Partnerschaft betreffend; wenn man Beruhigungsmittel nimmt oder Alkohol trinkt, um die Ängste zu bekämpfen oder aufgrund der Angst eine Depression oder Suizidgedanken entwickelt“, nennt Bandelow mögliche Anzeichen für eine Angststörung. Kreisen die Gedanken unentwegt panisch um das Wohl der Kinder, unternimmt man aus Angst vor einem Unfall schon gar keine Reise mehr, greift man wegen der vielen Sorgen schon regelmäßig zu Beruhigungsmitteln, ist womöglich nicht das Leben selbst, sondern die Angst davor Schuld an den Problemen – dann sollte man sich vertrauensvoll an einen Arzt wenden.
Einer Angsterkrankung auf die Schliche zu kommen, sei zwar auch für die Ärzte nicht einfach, räumt Experte Berger ein. In den letzten zehn, 15 Jahren habe sich diesbezüglich aber einiges getan: „Früher irrten Menschen mit einer Panikstörung im Durchschnitt sieben Jahre lang durch das Gesundheitssystem, bis die richtige Diagnose gestellt wurde“, so der Psychiater und Neurologe. „Heute ist das oft schon nach einigen Monaten der Fall.“
Fataler Kreislauf
Ist eine Angsterkrankung erkannt, wird sie heute mit einer Kombination aus Medikamenten (z. B. Antidepressiva) und Psychotherapie (z. B. Verhaltenstherapie) behandelt. Geschieht das nicht frühzeitig, riskiert man dramatische Folgen: Angst wird zum ständigen Begleiter, verselbstständigt sich und wird schließlich selbst zum Angstauslöser. Aus Angst vor der Angst „vermeiden etwa Menschen mit einer Panikstörung zunehmend jene Orte oder Situationen, in denen Attacken aufgetreten sind“, gibt Peter Berger ein Beispiel. „In der Folge kommt es häufig zu einer weiteren Angsterkrankung, der Agoraphobie oder Platzangst: Man traut sich nicht mehr in Geschäfte oder öffentliche Verkehrsmittel und geht im Extremfall gar nicht mehr allein außer Haus.“ Angstzustände in gesellschaftlichen Situationen, in der Fachsprache „Sozialphobie“ genannt, münden ebenfalls in zunehmende Isolation, wenn nichts dagegen unternommen wird. „Speziell, wenn die Betroffenen nicht wissen, was ihnen eigentlich fehlt, werden viele obendrein depressiv oder versuchen, die Angst mit Alkohol oder Beruhigungsmitteln zu dämpfen“, warnt Peter Berger. „Dann besteht die Gefahr, außerdem in eine Suchterkrankung zu rutschen.“
Regie des Grauens
Ausgangspunkt der Angst ist übrigens das Gehirn – wo genau, ist nicht restlos geklärt. „Feststeht, dass ein regelrechtes Netzwerk mit verschiedenen Zentren existiert – Amygdala, Thalamus, Hypothalamus, Hippocampus –, die damit beschäftigt sind, Angst zu erzeugen“, sagt Bandelow. Damit sich eine Angsterkrankung entwickeln kann, kommt es, lapidar gesagt, zu einer Verschiebung zweier, sich ständig streitender Systeme im Gehirn: „Das Belohnungssystem orientiert sich am Schönen und Guten; es will essen, trinken, Sex und andere Belohnungen haben“, präzisiert der Angstforscher. Das Angstsystem andererseits ist stets in Alarmbereitschaft, es warnt vor allen möglichen Gefahren und Problemen. „Will man Mammutfleisch essen, muss man das Mammut erst erlegen, was gefährlich sein kann“, gibt Bandelow ein Beispiel aus Urzeiten. „Oder man begehrt eine junge Frau und hat zugleich Angst davor, sich einen Korb zu holen.“
Bei krankhafter Angst übernimmt das Angstsystem die Regie, wenn auch zumeist nur in einem bestimmten Bereich. „Jemand mit einer Sozialphobie hat meistens nicht gleichzeitig krankhafte Angst vor Spinnen“, gibt Bandelow ein Beispiel. Warum es zu dieser Verschiebung kommt, ist bis heute nicht restlos geklärt. Vererbung, Umweltfaktoren, aber auch belastende Lebensumstände werden von den Experten als Ursachen genannt. Zu Angstauslösern können laut dem Spezialisten Berger sogar vordergründig positive Ereignisse werden, wenn sie als große Herausforderungen erlebt wurden, wie z. B. die eigene Hochzeit oder die Geburt eines Kindes.
Angst als Kick
Dass das Fürchten nicht immer nur negativ erlebt wird, weiß jeder, der sich gerne Gruselfilme anschaut, und jeder, der die Angst regelmäßig herausfordert. Experten orten heute einen Trend zu erhöhter Risikobereitschaft: In Zeiten von Airbag, Schutzhelmen und Sicherheitsgurten wollen viele nicht auf den Kick durch die Angst verzichten; ob beim Bungee Jumping, Wildwasser-Schwimmen oder Krimilesen: „Da Angst auch etwas Stimulierendes hat, suchen wir immer wieder die Herausforderung“, bestätigt Psychiater Peter Berger. „Es gibt sie durchaus, die Lust an der Angst.“
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Panik, Phobie & Co:
Die vielen Gesichter der Angst
Als einfache Phobie bezeichnet man die krankhafte Angst vor konkreten Auslösern wie Tieren (z. B. Spinnen, Wespen, Hunden) oder Situationen/Ereignissen (z. B. enge Räume, Fliegen, Gewitter). Jeder Zehnte ist irgendwann im Leben davon betroffen.
Bei einer sozialen Phobie hat man ausgeprägte Ängste in gesellschaftlichen Situationen. Die Betroffenen fürchten sich u. a. davor, in Gesellschaft die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich peinlich zu verhalten. Zwischen sieben und 13 Prozent der Bevölkerung leiden daran.
Eine Panikstörung äußert sich durch plötzlich auftretende Panikattacken (Schwindel, Zittern, Herzrasen, Atemnot, Engegefühl) oft in ganz alltäglichen Situationen. Drei bis vier Prozent der Bevölkerung sind betroffen; weitere vier bis fünf Prozent entwickeln in der Folge außerdem eine Agoraphobie, eine Platzangst.
Die generalisierte Angsterkrankung ist gekennzeichnet durch übermäßige Sorgen und Befürchtungen, die sich um alle Lebensbereiche drehen können. Fünf Prozent der Bevölkerung haben eine generalisierte Angststörung.
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Interview
„Wenn die Panik kommt, schicke ich sie weg“
Über seinen Weg aus der Angst hat der beliebte ORF-Moderator Wolfram Pirchner jetzt ein Buch geschrieben. Im Interview mit MEDIZIN populär erzählt der 56-Jährige, wie er seine Panikstörung bezwungen und dadurch zu einem selbstbestimmten Leben gefunden hat.
MEDIZIN populär:
Vor nicht ganz zehn Jahren hat Sie vor laufender Kamera urplötzlich eine Panikattacke getroffen, während Sie die „Zeit im Bild“ moderiert haben. Zwei Jahre lang haben Sie massiv an dieser Angststörung gelitten. Wie geht es Ihnen heute?
Wolfram Pirchner:
Es geht mir hervorragend. Was aber nicht heißt, dass ich panikfrei bin.
Das heißt, manchmal kommt die Angst zurück?
Ja, durchaus. Allerdings haben sich mein Zugang zur Angst und der Umgang damit verändert. Vor allem bestimmt die Angst nicht mehr mein Leben.
Sie hat ihren Schrecken verloren?
Genau. Wenn ich heute eine leichte oder mittlere Attacke bekomme, dann leide ich nicht. Früher hatte ich, wenn Schweißausbrüche, Herzrasen und Beengungsgefühle aufgetreten sind, Todesangst. Heute weiß ich, dass ich nicht sterben werde und es nach gewisser Zeit wieder vorbeigeht.
Haben Sie Strategien, wie Sie mit einer Panikattacke umgehen?
Ja. Mittlerweile beeinflusse ich diese mental so stark, dass ich sie wegschicke, indem ich sage: Ich kann dich jetzt nicht brauchen, verschwinde! Außerdem fasse ich sie als Alarmsignal meiner Seele auf, die mir damit sagt: „Lieber Freund, du mutest dir schon wieder zu viel zu.“
Das heißt, Sie haben durch die Panik etwas über sich selbst gelernt?
Genau. Ich habe früher meistens eine Rolle gespielt: Ich muss funktionieren. Ich muss gut sein. Ich muss schön sein. Ich muss… Heute ist der Perfektionismus auf ein Minimum geschrumpft, er wurde ersetzt durch Professionalität und vor allem Authentizität.
Das klingt, als wären Sie für Ihre Ängste sogar dankbar…
Auch wenn das vielleicht komisch klingt: Dass ich Panikattacken hatte, war eins vom Besten, was mir in meinem Leben passiert ist. Dadurch habe ich begonnen, mich mit mir selbst zu beschäftigen: Wie behandle ich mich selbst? Wie wichtig ist es, was andere Menschen über mich sagen oder denken? In Bezug auf meine Individualität, meine Lebensqualität und Lebensfreude hat die Erfahrung mich auf einen Weg gebracht, den ich so nicht erreicht hätte.
Sehen Sie sich grundsätzlich als eher ängstlichen Menschen?
Ganz im Gegenteil: Ich war immer ein Abenteurer und eher rebellisch – nach außen stark und vor Gesundheit strotzend. Hätte ich mich nicht geoutet, wäre niemand darauf gekommen, dass ich unter Panikattacken leide.
Sie haben Ihre Krankheit schließlich live im Fernsehen enthüllt, bereuen Sie das heute?
Öffentlich zu meiner psychischen Krankheit zu stehen, war erst ein wenig seltsam. Für Außenstehende steht dadurch ja auf der Stirn: „Ich habe einen Huscher.“ Und es stimmt ja auch: Ich bin verrückt, im Sinne von „ein bisschen aus der Mitte“. Bis heute gehe ich hin und wieder zu einem Psychotherapeuten – das tut meiner Seele ausgesprochen gut.
Buchtipp:
Pirchner
Nur keine Panik
Mein Weg zurück ins Leben.
ISBN 978-385002-867-7
224 Seiten, € 19,95
Amalthea Verlag, 2014
Stand 09/2014