Das macht die Kinderpsyche stark

Januar 2014 | Psyche & Beziehung

Von A wie Aufmerksamkeit bis Z wie Zärtlichkeit reicht das Rüstzeug, das Kinder brauchen, um sich psychisch gesund zu entwickeln. Im letzten Teil der Serie erläutert ein Experte die wichtigsten Faktoren für das seelische Wohl Heranwachsender.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

„Der Job von Eltern ist es, sich überflüssig zu machen“, bringt es Prim. Dr. Paulus Hochgatterer, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Tulln, auf den Punkt. Wie das funktioniert? Für ihre gesunde Entwicklung brauchen Heranwachsende ein funktionstüchtiges „Rüstzeug“, angefangen beim elterlichen Vorbild.

Eltern: Maßgebliche Vorbildwirkung

Wie gehen Papa und Mama miteinander um? Wie verhalten sie sich Freunden und Kollegen gegenüber? Was erzählen sie über die Arbeit? Wie gestalten sie ihre Freizeit? Was ist ihnen überhaupt wichtig? Das Verhalten, der Lebensstil, die Werte der Eltern – all das beeinflusst die  kindliche Entwicklung beträchtlich. „Das elterliche Vorbild ist immens wichtig“, betont Paulus Hochgatterer. „Die Identifikation mit den Bezugspersonen ist in der Kindheit einer der stärksten Mechanismen überhaupt.“
Diese Vorbildwirkung schließe auch „psychische Phänomene im engeren Sinn“ mit ein, betont Hochgatterer und verweist auf den Umgang mit Emotionen: „Wie gehe ich als Vater oder Mutter mit starken Gefühlen um? Kann oder darf ich weinen, wenn ich traurig bin? Zeige ich es, wenn ich zornig bin?“

Gefühle: Bereichernde Emotionalität

Punkto Emotionen ist das elterliche Vorbild allein natürlich nicht genug; die Bedeutung von Liebe, Zuwendung und Zärtlichkeit ist glücklicherweise hinlänglich bekannt. „Günstig ist weiters – und das lässt sich bis zu einem gewissen Grad erlernen – die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen, also Emotionalität“, ergänzt Paulus Hochgatterer. „Damit vermittelt man dem Kind, dass Gefühle nicht nur normal sind im menschlichen Leben. Gefühle sind außerdem etwas, das das Leben bereichert und daher etwas, das man auch zeigen darf.“ Elterliche Trauer oder Grant sind den Kindern also durchaus zumutbar: „Wenn man als Vater oder Mutter zornig ist, darf man diesen Zorn in einem bestimmten Ausmaß auch zeigen“, erklärt der Mediziner.
Indem Kinder die Gefühlswelt als wichtig und bereichernd erleben, haben sie eine solide Basis für einen gesunden Umgang mit Emotionen im weiteren Leben. Ein wohltuender Nebeneffekt, der mit dem Ausdrücken der emotionalen Befindlichkeit einhergeht: „Gefühle sind notwendigerweise auch mit dem Herstellen von Verbundenheit und Nähe verknüpft“, erklärt Hochgatterer. Das gilt nicht nur für „positive“ Emotionen wie Liebe oder Zärtlichkeit. Auch wenn man z. B. wegen eines Verlusts traurig ist, „erzeugt das in der Regel ein Gefühl von Verbundenheit“, verdeutlicht Hochgatterer.

Konflikte: Solide Gesprächs- und Streitkultur

Die Klassenkameraden nerven? Die Mathelehrerin war gestern „total ungerecht“? Die sich mehrenden sozialen Beziehungen von Heranwachsenden verlangen verstärkt nach sozialer Kompetenz; es braucht die Fähigkeit eines gesunden Miteinanders, sich mitzuteilen und Widersprüche auszudrücken. Der Grundstein dafür wird wiederum in der Familie gelegt. „Streitkultur ist wichtig; denn prinzipiell sind Konflikte etwas, das besser ausgetragen als vermieden wird“, betont Paulus Hochgatterer und präzisiert: „Dabei sollte man sich auch und gerade mit den Gefühlen auseinanderzusetzen, die man primär als unangenehm empfindet.“ Das heißt: Wenn das Kind zornig, trotzig, grantig ist, ist es hilfreich, mit ihm darüber zu reden und die Gefühle zu thematisieren.  
Außerdem wichtig, etwa wenn es in der Schule zu Streitereien oder Ärgernissen kommt: eine Bezugsperson. „Konflikte sollte man besser mit einer dritten Person teilen anstatt sie zu zweit auszutragen“, erklärt der Mediziner. Wenn sich zwei Schüler streiten, könnte ein Lehrer oder eine Lehrerin hinzugezogen werden. „Ein Konflikt wird in der Regel allein schon durch das Hinzuziehen einer dritten Person entschärft“, sagt der Experte. „Diese muss nicht notwendigerweise neutral sein oder eine Schiedsrichterrolle übernehmen.“ Indem ein Unbeteiligter den Konflikt von einer distanzierten Warte aus beobachtet, fällt es auch den Kindern leichter, sich von dem Streit zu distanzieren – und zu einer Lösung zu gelangen.

Freunde: Aufgehoben bei Gleichaltrigen

Gemeinsam Musik hören, „chillen“ oder Computer spielen: Im Laufe der Kindheit gewinnt der Freundeskreis – im Fachjargon „Peergroup“ genannt – für den Nachwuchs zunehmend an Bedeutung. „Insbesondere in der Entwicklungsphase der Pubertät, in der es um die Distanzierung von den Eltern geht, ist die Gruppe der Gleichaltrigen enorm wichtig“, betont Hochgatterer. Mit der Bedeutung der Freunde rücken die Eltern etwas in den Hintergrund – und sind herausgefordert, ihren Kindern mehr Frei- und Spielraum zu gewähren. „Als Elternteil sollte man in der Lage sein, das Kind in dieser Gruppe auch in Ruhe zu lassen“, betont der Mediziner. „Normalerweise suchen pubertierende Kinder ohnehin zwischendurch immer wieder den Kontakt zu den Eltern und kommen quasi zum Auftanken zu ihnen. So lange das gegeben ist, braucht man sich keine Sorgen machen.“
Und wann sollten die Alarmglocken schrillen? „Wenn man den Eindruck hat, dass das Kind den Kontakt zu den Eltern oder zu anderen Mitgliedern der Familie eklatant reduziert, wenn man das eigene Kind als seltsam verändert oder sehr distanziert erlebt, sollte man aufmerksam werden“, erklärt der Mediziner.

Neue Medien: Freiräume & klare Position

Smartphone und PC
sind aus dem Alltag von Schulkindern nicht mehr wegzudenken – und damit eine „zuverlässige“ Quelle elterlicher Besorgnis und Verunsicherung: Wie viel Freiraum soll ich meinem Kind im Umgang mit Handy & Co gewähren? Wann sollte ich einschreiten und die Mediennutzung kontrollieren oder einschränken? „Kinder und vor allem Jugendliche können mit neuen Medien wesentlich besser umgehen als wir Erwachsenen. Insofern hat es wenig Sinn, wenn man allzu regulierend eingreift“, schickt Facharzt Hochgatterer voraus. „Was man den Jugendlichen trotzdem vermitteln sollte, ist, dass man als Vater oder als Mutter eine Position dazu hat.“ Wenn der Junior dem eigenen Gefühl nach schon zu lange mit dem Smartphone spielt, darf man das kundtun, „selbst wenn der Jugendliche das für verzopft oder unangebracht hält“.

Bindung: Vertrauen und behutsames Loslassen

So schwer es Eltern auch fallen mag: Auf dem Weg ins Erwachsenendasein ist das behutsame Loslassen der Kinder ein unumgänglicher Prozess. „Wenn die Kinder im Alter von elf, zwölf Jahren beginnen, die Pubertät zu spüren, sollte man als Mutter oder Vater die eigene Fürsorglichkeit etwas zurückfahren“, empfiehlt Paulus Hochgatterer.
Was man dem Nachwuchs damit (auch) vermittelt: „Ich habe Vertrauen, dass du das schon allein schaffst; ich weiß, dass du damit selbst gut zurechtkommst.“ Auch das Übertragen (altersgerechter) Pflichten – kleine Wege für die Familie, Aufgaben im Haushalt – stärkt das Selbstbewusstsein der Kinder.

Belastete Psyche: Guter Draht & professionelle Hilfe

Und was könnte darauf hindeuten, dass ein Kind seelische Probleme hat oder sogar psychisch erkrankt ist? „Ein Alarmsignal ist die plötzliche, eklatante und unerklärliche Veränderung im Verhalten eines Kindes“, erläutert Paulus Hochgatterer. „Wenn es dazu kommt, sollte man einen Profi aufsuchen, sei es einen Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, einen klinischen Psychologen oder einen Psychotherapeuten.“ Allerdings: Nicht immer verändere ein Kind sich plötzlich und dramatisch, erklärt der Facharzt und verweist auf den jüngsten Fall eines magersüchtigen Mädchens, das „unbemerkt enorm an Gewicht“ verloren hat. „In manchen Fällen passiert die Veränderung über einen längeren Zeitraum kontinuierlich und die Umgebung reagiert erst dann alarmiert, wenn es schon beinahe zu spät ist“, warnt Paulus Hochgatterer.
Um Veränderungen überhaupt und vor allem rechtzeitig wahrzunehmen, braucht es Aufmerksamkeit und einen „guten Kontakt“, einen Draht zum Nachwuchs. „Mindestens genauso wichtig ist außerdem der Kontakt zum anderen Elternteil oder einer weiteren Bezugsperson“, ergänzt der Facharzt. Warum? „Als Mutter oder als Vater neigt man dazu, anzunehmen, dass ohnehin alles gut läuft oder wieder in Ordnung kommt.“ Der Rat des Experten: „Wenn man bemerkt, dass man dazu neigt, sich selbst zu beruhigen, sollte man Austausch mit jemand anderem suchen.“

Stand 01/2014

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