Ab jetzt können Kinder von den neuen Gratis-Zahnspangen profitieren. Warum Zahnspangen immer öfter benötigt werden, wie sie wirken und wo die Grenzen der Behandlung mit den Klammern für Kinderzähne liegen.
Von Mag. Sabine Stehrer
Der bloße Eindruck beim Blick in junge Gesichter täuscht nicht: Tatsächlich ist die Zahl der Kinder, die eine Zahnspange tragen, in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Fast ein Drittel hat mittlerweile eine Klammer im Mund. Und das hat mehrere Gründe. So werden Zahnspangen eher als früher auch schon bei leichteren Zahnfehlstellungen empfohlen. Zugleich werden die Apparaturen heute eher akzeptiert als in Zeiten, wo sie als Fressgitter, Hasenklammern oder Schneeketten verschrien waren – lächelten doch auch die britischen Prinzen William und Harry sowie Stars wie Britney Spears und Tom Cruise mit Brackets in Kameras. Die Hauptursache für den Zuwachs an Zahnspangenträgern ist aber eine andere, weiß Univ. Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon, Leiter der Abteilung für Kieferorthopädie an der Bernhard-Gottlieb-Universitätszahnklinik in Wien. „Im Wesentlichen liegt der Anstieg daran, dass immer mehr Kinder sogenannte Dysgnathien haben, also korrekturbedürftige Kiefer- und Zahnfehlentwicklungen“, erklärt er. Die Ursache dafür ist laut dem Mediziner die Evolution. Anders als der Neandertaler ernährt sich der Mensch der Moderne kaum noch von schwer zu beißender Kost, und für Gekochtes braucht er keine langen Kieferknochen mehr. So werden die Knochen immer kürzer, und die Zähne, deren Zahl bisher nahezu gleich geblieben ist, haben immer weniger Platz. Daher stehen sie zu eng beieinander, verdrehen sich, weichen nach außen oder innen aus oder kippen sogar. Oft werden diese zunehmenden angeborenen Fehlstellungen noch durch ungünstige Gewohnheiten im Kleinkindalter verstärkt, so Bantleon: „Zum Beispiel durch das lange Tragen von Schnullern oder langes Daumenlutschen.“ Daumen und Schnuller wirken wie ein Stemmeisen auf die Zähne ein, die unteren werden nach innen gedrückt, die oberen können später auseinanderklaffen.
Schutz vor Karies, Spott & Co
Gut nur, dass bei schwerwiegenden Fehlstellungen ab jetzt, Anfang Juli, die Krankenkassen die Kosten von Zahnspangen für Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren übernehmen (siehe dazu Webtipp unten). Eine Klammer für Kinderzähne ist laut Hans-Peter Bantleon aber nicht nur in schweren Fällen sinnvoll und anzuraten, sondern auch bei leichteren Fehlentwicklungen, denn: „Jede Dysgnathie kann zu einer Reihe an gesundheitlichen Problemen führen.“ Dazu zählen etwa Zahnerkrankungen wie Karies oder Zahnfleischentzündungen, die bei Fehlstellungen eher entstehen, da der Mund schwieriger zu reinigen ist. Lassen sich bedingt durch die Fehlstellung die Lippen nicht schließen, atmet das Kind oft durch den Mund, was besonders anfällig für Atemwegsinfektionen vom Halsweh über den Schnupfen bis hin zu Husten macht. Durch Fehlbelastungen beim Kauen kann es auch zu schmerzhaften Verspannungen der Kaumuskulatur und der Nackenmuskulatur kommen sowie zu Überbelastungen und Entzündungen bis hin zur Arthrose der Kiefergelenke. Drückt ein Kieferknochen auf Nerven, besteht die Gefahr für einen Tinnitus, permanent tränende Augen oder ein chronisches Zungenbrennen. „Außerdem“, nennt Bantleon einen weiteren wichtigen Grund für eine Korrektur von Dysgnathien, „sind Fehlstellungen immer auch noch ein ästhetisches Problem“. Und davon sollten Kinder besser befreit werden, damit sie vor Spott geschützt sind und später schöne Zähne haben, was attraktiv macht.
Beste Zeit ab zehn Jahren
Wann die beste Zeit für eine Klammer ist, hängt zwar von der individuellen Problemlage ab, doch es gibt auch ein paar allgemeingültige Regeln. Hat das Kind schon im Kindergartenalter aufgrund von Fehlstellungen Schwierigkeiten – ob beim Beißen oder wegen Hänseleien – ist es laut Hans-Peter Bantleon manchmal schon ab dem Alter von fünf Jahren sinnvoll, die Disharmonien im Mund zu korrigieren. „Meistens lohnt es sich aber, etwa bis zum zehnten Lebensjahr zu warten“, so der Mediziner. Denn ab dann und bis zum Alter von zirka 13 Jahren wachsen die Kieferknochen besonders schnell. Bantleon: „Daher gelingen in dieser Zeit auch Korrekturen der häufigsten Fehlstellungen, die alle auf ein Missverhältnis zwischen dem Ober- und Unterkiefer zurückgehen, vergleichsweise rasch.“ Die am weitaus meisten verbreitete Dysgnathie ist der Distalbiss, im Volksmund Hasengebiss genannt, weil die oberen Zähne bedingt durch einen längeren Ober- als Unterkiefer wie beim Hasen hervorstehen. Auch Tiefbisse, wo das Missverhältnis zwischen Ober- und Unterkiefer akkurat so ausfällt, dass die oberen Frontzähne die unteren bedecken, entstehen oft. Etwas seltener entwickeln sich weitere Fehlstellungen: Die Progenie, wo der Unterkiefer dem Oberkiefer vorsteht, der offene Biss, bei dem der Mund auseinanderklafft, der Kreuzbiss, wo die Unterkieferzähne über die äußeren Oberflächen der Oberkieferzähne ragen sowie der Scherenbiss, bei dem die Unterkieferzähne an den Innenflächen der oberen Zähne vorbei beißen.
Schnellste Hilfe mit Gerät
Arten von Klammern für Kinderzähne, die diese Fehlstellungen beseitigen, gibt es viele, sie sind auch in allen möglichen Materialien und Farben erhältlich. Am besten beraten sind Betroffene laut Bantleon aber mit einem sogenannten bimaxillären Gerät, das über Nacht und einige Stunden am Nachmittag getragen wird. Das Gerät übt über einen Außenbogen einen Zug auf Kieferknochen aus, beeinflusst das Wachstum und korrigiert die Position der beiden Kieferhälften zueinander. Zugleich werden herausragende Zähne in Reih und Glied gebracht. Mit solchen Geräten können Fehlstellungen in vergleichsweise kurzer Zeit beseitigt werden, „meist schon binnen eineinhalb Jahren“, informiert Bantleon.
Manchmal ist danach noch für eine Weile das Tragen einer festsitzenden Zahnspange nötig. Dafür werden Befestigungselemente, Brackets, auf die Zähne geklebt und üben entweder für sich allein genommen oder in Kombination mit einem Gaumenbogen oder einer Gaumenplatte so lang Kräfte auf schiefe Zähne und Zahnwurzeln aus, bis die Zähne gerade stehen. Bei etwas leichteren Fehlstellungen reicht oft auch eine festsitzende Spange allein aus, um sie auszugleichen, so Bantleon. Sehr leichte Zahnschiefstellungen lassen sich mit losen, herausnehmbaren Zahnspangen beheben. So empfehlenswert sie auch sind: Alles können die Klammern für Kinderzähne nicht leisten, räumt HansPeter Bantleon ein: „Bei besonders starken Missverhältnissen zwischen Ober- und Unterkiefer, also wenn zum Beispiel die Rücklage des Unterkiefers sehr groß ist, stoßen die Apparaturen an ihre Grenzen.“ Doch dann gibt es andere Hilfen – operative Eingriffe, wo beispielsweise mit verschiedenen Maßnahmen die Kieferknochen gekürzt oder verlängert werden.
Webtipp:
Infos zu den Gratis-Zahnspangen auf www.bmg.gv.at/home/Gesundheitsleistungen/Gratis_Zahnspangen/
Stand 07-08/2015