Selbst wenn sie todunglücklich in ihrer Beziehung sind, halten sie verzweifelt daran fest: Menschen, die emotionale Abhängigkeit mit Liebe verwechseln. Eine Expertin erläutert die Ursachen – und wie man sich aus dem emotionalen Gefängnis befreit.
Von Mag. Alexandra Wimmer
„Ich habe solche Angst, Lukas zu verlieren. Er ist mein Ein und Alles!“ Nach einem heftigen Streit mit ihrem Lebensgefährten weint Sarah sich bei ihrer besten Freundin aus. Wieder einmal. Zum x-ten Mal bekommt diese zu hören, dass Sarah allein der Gedanke an eine Trennung in tiefe Verzweiflung stürzt. Für die knapp 30-Jährige gibt es kein anderes Thema als die Beziehung: Sie ist die Quelle all ihrer Hoffnungen – und ihres ganzen Kummers.
Sarah und Lukas – ein gewöhnliches Liebespaar? Wohl kaum. Tatsächlich sind die beiden in eine ungesunde Abhängigkeit verstrickt. Liebe mit Abhängigkeit zu verwechseln ist ein verbreitetes Phänomen, das Experten zufolge weiter zunehmen wird. Sich zu jemandem hingezogen zu fühlen und ihn nicht loslassen zu wollen, heißt längst nicht, dass man denjenigen auch liebt.
Mein Ein und Alles
Im Gegensatz zu einer Liebesbeziehung, in der man einander will, basiert die „Abhängigkeitsbeziehung“ darauf, dass man einander braucht: Man braucht den anderen, weil er Geborgenheit oder Halt gibt, unterstützt, tröstet oder das Selbstwertgefühl stärkt. Frauen sind – wahrscheinlich aufgrund der Sozialisation – öfter in der klammernden, sich kümmernden Position als Männer.
Prinzipiell bringt jede Beziehung auch mit sich, dass man sich bindet und bis zu einem gewissen Grad abhängig macht. Viele haben zudem unweigerlich das Gefühl, den Partner zum Glücklichsein zu brauchen. Problematisch wird es, wenn die Abhängigkeit das gesunde Maß übersteigt, wenn der andere zur einzigen „Glücksquelle“ wird. Gibt es keine Individualität, kein Eigenleben mehr, wird die Abhängigkeit destruktiv.
Im Klammergriff
Während Sarah ihr ganzes Leben nach Lukas ausrichtet, scheint dieser vordergründig unbeteiligt. Tatsächlich sind beide Partner gleichermaßen in eine emotionale Abhängigkeit involviert, betont die Wiener Allgemeinmedizinerin, Sexual- und Paartherapeutin Dr. Claudia Wille: „Die Rollen sind genau zugewiesen, es gibt eine unausgesprochene Übereinkunft.“
Emotional Abhängige bzw. bindungssüchtige Menschen beschäftigen sich in Gedanken ständig mit dem Partner und der Beziehung. Sie definieren sich und ihren Selbstwert über den anderen, der idealisiert und auf ein Podest gehoben wird. Weil sie vor allem mit dem Partner zusammen sein wollen, werden eigene Interessen, Kontakte zu Freunden und Familie vernachlässigt. Wer aber keine Hobbies und Freunde hat, klammert noch mehr – ein Teufelskreis. Hinzu kommt oft eine starke Eifersucht. Nicht selten fühlt der andere sich von dem Klammergriff eingeengt, wagt jedoch nicht, sich daraus zu befreien.
Liebes- und Vertrauensdefizit
Besonders gefährdet, sich emotional abhängig zu machen, sind Menschen, die Defizite aus der Kindheit mitbringen, sagt Wille. „Wenn man als Kind zu wenig Wertschätzung, Liebe und Vertrauen erlebt hat, führt dies zu einem sehr schlechten, instabilen Selbstwertgefühl.“ Waren die Bindungen zu den Bezugspersonen unzuverlässig, ambivalent, kam es zu Ablehnung oder gar zu Misshandlungen, beeinträchtigt dies außerdem die Fähigkeit, sich selbst und anderen Menschen zu vertrauen. Sarah etwa hat als Trennungskind sehr darunter gelitten, dass der Vater die Familie verlassen hat.
Emotionaler Missbrauch in der Familie erhöht ebenfalls das Risiko, später emotional abhängig zu werden: Dazu zählen Entwertungen („du bist dumm“ etc.), Spott oder Liebesentzug, übermäßige Kontrolle oder Manipulation. Wird ein Kind in eine überfordernde Rolle gedrängt, zum Partnerersatz gemacht, ist dies ebenfalls sehr belastend.
Nicht zuletzt kann eine Persönlichkeitsstörung (= dependente bzw. abhängige Persönlichkeitsstörung) verantwortlich für das Verhalten sein.
Fatale Rollenspiele
„Wenn man nicht lernt – sei es durch eine Therapie oder andere Wege der Selbsterkenntnis – selbst ein gutes Selbstwertgefühl aufzubauen, wird man sich einen Partner suchen, der diesen Mangel ausgleichen soll“, unterstreicht Wille. Die Betroffenen glauben, ohne den Partner nichts wert oder dem Leben nicht gewachsen zu sein. Sie tun alles, um zu verhindern, dass sie sich wieder abgelehnt, wertlos oder alleingelassen fühlen. Auch meinen sie, sich in der Beziehung viel gefallen lassen zu müssen, z. B. in sexueller Hinsicht.
Statt sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern, finden sie Sinn und Halt darin, sich um jemand anderen zu kümmern. Ein Beispiel: Er ist der Depressive, sie die Sich-Kümmernde. „Diese Rollenverteilung stabilisiert die Betroffenen“, erklärt Wille. Viele halten ein Leben lang an dem Beziehungsmuster fest.
Die Crux dabei: Das Rollenspiel drückt einmal mehr auf das Selbstwertgefühl. „Man spürt ja, wenn es nicht um einen selbst, sondern um eine bestimmte Funktion geht, die man erfüllen soll“, erklärt Wille.
Immense Wut
Auf der einen Seite klammern emotional Abhängige, andererseits haben sie heftige Wutausbrüche, „wenn sie ihre Bedürfnisse nicht erfüllt bekommt“, erklärt die Medizinerin. Ein Beispiel: Lukas erklärt Sarah, dass er sich abends mit Freunden zum Kegeln treffen will. Sarah hat aber insgeheim einen romantischen Abend geplant. Anstatt vielleicht ein wenig enttäuscht zu sein, verspürt sie eine rasende Wut – wieder einmal fühlt sie sich allein und im Stich gelassen. Sie beginnt Lukas wüst zu beschimpfen. Ihm vorzuwerfen, ihr Liebesglück sei ihm ganz egal. „Weil es zu einer existentiellen Verzweiflung kommt, werden Konflikte nicht auf einer erwachsenen Ebene ausgetragen“, erklärt Wille. Man fühlt sich dem anderen bzw. der Situation völlig ausgeliefert. Weil die Situation an Verletzungen in der Kindheit rührt, reagiert der emotional Abhängige kindlich – mit massiven Trotz- oder Wutanfällen.
Der andere hat aber auch seine Rolle in dem Beziehungsdrama: „Die Beziehungen sind oft geprägt von einer Hilflosigkeit des Abhängigen sowie des Partners, der sich nicht Nein zu sagen traut“, betont Wille. Während Sarah noch tobt, hat Lukas leise sein Handy herausgezogen und den Kumpels abgesagt. Statt zu seinem Bedürfnis zu stehen, tut er alles, um eine weitere Eskalation zu vermeiden – der Kreis der destruktiven Abhängigkeit schließt sich. Langfristig können sich „zerstörerische Beziehungskonflikte“ entwickeln, warnt Wille.
Eigenständig und vernetzt
Wege aus der Abhängigkeit? Vor allem müssen die Betroffenen zu ihrer Eigenständigkeit (zurück)finden und autonom werden, betont Wille. „Es ist hilfreich, in sich selbst eine stützende, wohlwollende, fördernde Instanz zu installieren, quasi eine innere Stimme, die sagt: Du schaffst das! Du bist nicht allein.“ Man sollte Dinge selbstverantwortlich tun, die glücklich machen: Hobbys aufnehmen, Freunde treffen etc. Es stärkt das Selbstvertrauen, wenn man erlebt, dass man etwas auch ohne den Partner in Angriff nehmen, bewältigen und genießen kann. Durch nährende Kontakte zu Freunden und Familie schwindet zudem die Panik vor dem Alleinsein: Man weiß, man hat ein soziales Netz, auf das man bauen kann. Die unterschiedlichen Ressourcen lockern die Fixierung auf den Partner. Dieser muss ebenfalls Schritte aus der Abhängigkeit tun. Wie Sarah muss Lukas lernen, achtsam mit sich und seinen Bedürfnissen umzugehen. Und er muss aufhören, sich für Sarahs Wohl und Wehe verantwortlich zu fühlen. Begleitung und Unterstützung auf dem Weg aus der Abhängigkeit bieten etwa Psychotherapien, sei es für den Einzelnen oder das Paar.
Wahre Liebe
Hat man sich aus der Verstrickung befreit, wird man allmählich bereit für eine gesunde Liebesbeziehung: Man ist zusammen, weil man das Wesen und die persönlichen Eigenschaften des Partners schätzt und nicht eine bestimmte Funktion. „Der Selbstwert beider Partner groß“, sagt Wille. Anstatt vom anderen zu erwarten, dass er einen glücklich macht, übernimmt jeder die Verantwortung für das eigene Glück. Und anstatt zu klammern, vertrauen die Partner einander.
Nicht zuletzt kann man sich, weil man ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und emotionaler Unabhängigkeit erreicht hat, bewusst auf den anderen einlassen: Man ist zusammen, weil beide es von Herzen wollen – was könnte beglückender sein?
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Stress durch Bindungssucht
Gefahr für Psyche und Körper
Emotionale Abhängigkeit belastet neben der Psyche auch den Körper. „Jede Abhängigkeit erzeugt Stress, weil man gleichsam bleiben und aushalten muss – mit allen, durch chronischen Stress ausgelösten Folgen“, erklärt die Allgemeinmedizinerin und Paartherapeutin Dr. Claudia Wille.
Dazu zählen chronische Magen-Darm-Erkrankungen, Infektanfälligkeit, Schmerzen und Verspannungen im Haltungsapparat, Schlafstörungen, Tinnitus. „Es kann auch zu Symptomen, die die Sexualität beeinflussen, kommen – zu Blasenentzündungen, Pilzen, Herpes genitalis“, sagt Wille. Bei Männern zählt auch Impotenz zu den möglichen belastenden Folgen.
Stand 01/2016