Wie in einem Schraubstock

August 2020 | Medizin & Trends

Drei von vier Jugendlichen wissen nur zu gut, was Kopfweh ­bedeutet. Was den drückenden Schmerz bei Kindern und Jugendlichen auslöst und wie man „Trigger“ vermeiden kann.
 
– Von Mag. Andrea Riedel

Oft ist der Schmerz nur „irgendwie“ da und nervt. Das sind die Phasen, in denen ein gewisser Druck, ein Ziehen im Hintergrund permanent wahrnehmbar sind. „Manchmal aber drückt der Kopf wie unter einem viel zu engen Helm, dann treten in der Regel mittelstarke Schmerzen auf, die stunden-, manchmal tagelang anhalten können“, weiß Dr. Andrea Lipp, Leiterin der Kopfschmerzambulanz für Kinder und Jugendliche am Landeskrankenhaus Villach – und zwar aus eigener Erfahrung. Denn die Ärztin für Kinder- und Jugendheilkunde hat früher selbst unter Spannungskopfschmerz gelitten.

Verhärtete Muskeln

„Spannungskopfschmerz ist die häufigste Kopfschmerzart bei Kindern und Jugendlichen, tritt aber selten vor dem Schulalter auf“, so Lipp. Warum manche Menschen dazu neigen und andere nicht, ist noch nicht genau erforscht. Was den Schmerz aktiviert und verstärkt, weiß man aber mittlerweile recht gut: Bei Kindern und Jugendlichen sind es fast immer Stress und/oder Fehlhaltungen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule. Das führt zur Verhärtung des Trapeziusmuskels, der vom Schädelknochen bis zum oberen Rücken und den Schulterblättern reicht.

Sehr häufig liegt es an der typischen „Smart­phone-Haltung“: Kopf übers Display gebeugt, Rücken gekrümmt. Dabei versucht der Trapeziusmuskel permanent, den Kopf wieder in eine neutrale, aufrechte Position zu ziehen, so entsteht eine ungeheure Anspannung. Welche Kräf­te da wirken, lässt Andrea Lipp ihre Patienten selbst ausprobieren: „Zuerst bitte ich die Kinder, im Stehen aufs Handy zu schauen und dann in der Rückenlage. Da lässt die Spannung sofort nach, weil sie das Gerät automatisch in Augenhöhe halten: Die Halswirbelsäule bleibt gerade, die Nackenmuskeln werden spürbar entlastet.“  

Oft ist es Überforderung

Bei vielen Kindern verstärkt Stress die Muskelverhärtungen zusätzlich. Oft steckt ein hoher Leistungsdruck dahinter, der von Eltern, Lehrern, einem Sport- oder Musikverein, aber auch von den Betroffenen selbst ausgehen kann. Dann ist buchstäblich jede Minute verplant, für Pausen fehlt ebenso die Zeit wie für regelmäßige Mahlzeiten, häufig ist auch der Schlafrhythmus durcheinander. „Mit Kopfweh ist man na­türlich weniger leistungsfähig und so setzt sich ein Teufelskreis in Gang“, sagt die Ärztin und rät, „erst einmal Druck rauszunehmen, sonst wird der Schmerz zum Ventil für chronische Überforderung“.

Stress kann natürlich auch von Konflikten mit den Eltern oder in der Schule herrühren, Mobbing steckt aber selten dahinter, „das äußert sich eher in Depressionen oder Essstörungen“. Liebeskummer als Stressfaktor kann hingegen auch schon Zwölf-, Dreizehnjährige in eine Kopfschmerzepisode führen.

Muskeln lockern

Der Umgang mit Kopfweh ist eine Gratwanderung: Einerseits sollte das Kind genau wissen, was bei ihm den Schmerz „triggert“, also auslöst. Andererseits sollte der Schmerz nicht zum Lebensmittelpunkt werden. Es geht um die richtige Mischung aus Akzeptanz und Bereitschaft, Schmerzauslöser zu vermeiden. „Jüngeren hilft oft schon die Einstellung: Manche Kinder haben immer wieder Bauchweh, bei anderen, wie bei mir, ist es halt der Kopf“, sagt Lipp.

Gegen Muskelverspannungen hilft in erster Linie Physiotherapie, „auch wenn Jugendliche das selten cool finden“, begleitet von Massagen. Sehr bewährt haben sich zudem „Kinesiotapes“, die man auf bestimmte Muskelpartien klebt, sie üben einen sanften Zug aus und helfen, die Muskeln zu lockern. Auch durchblutungsfördernde Wärmesalben wirken unterstützend. Manche Jugendliche sprechen gut auf Dauer-Akupunkturnadeln an, die mehrere Tage an den Triggerpunkten bleiben.

Weniger ist mehr

Bei Überforderung kann die Entscheidung – z.B. Sportverein oder Musikschule – ein wichtiger erster Schritt sein. Manche Kinder geben sich lieber mehr Zeit, um ein Ziel zu erreichen. Der nächste Schritt: Bewegung und gezielte Entspannung. „Gut ist alles, was die Ausdauer fördert, ohne gleich wieder Leistungsdruck aufzubauen. Mit dem Rad in die Schule fahren oder vor den Hausaufgaben eine halbe Stunde spazierengehen – aber ohne Handy und laute Musik im Ohr“, so die Kinderärztin.

Schmerzmittel, auch rezeptfreie, sollte man Kindern nur in Rücksprache mit dem Arzt geben, denn viele Wirkstoffe sind für sie ungeeignet und greifen mit der Zeit Nieren, Leber und Magenschleimhaut an. Was viele nicht wissen: Längere Zeit eingenommen, können die Medikamente selbst zum Auslöser von Kopfschmerzen werden.

Immer gut sind kühlende, bei manchen auch warme, Umschläge und Einreibungen mit Eukalyptus- oder Pfefferminzöl, die es auch als Roll-on zum Mintnehmen gibt. Einen Versuch wert sind zudem Magnesiumpräparate, die Muskelverkrampfungen vorbeugen und praktisch keine Nebenwirkungen haben.  

Essensrhythmus einhalten

Viele Kinder haben keinen Appetit oder gar keine Zeit fürs Frühstück, verschlingen aber mittags zwei Teller Spaghetti. Dann fährt der Blutzucker hoch, bleierne Müdigkeit stellt sich ein und dazu die Panik, mit den Hausaufgaben nicht mehr fertig zu werden – auch das stresst. „Wichtig sind regelmäßige, abwechslungsreiche Mahlzeiten. Der Verzicht aufs Frühstück kann Spannungskopfschmerz auslösen, das ist mittlerweile belegt“, so Lipp.

Mit Energydrinks, Eistee oder Kaffee gegen die Schlappheit anzukämpfen, ist keine gute Idee, weil Koffein, anders als bei Migräne, Spannungskopfschmerz auslösen kann. „Nikotin und Alkohol sind Trigger, das ist den betroffenen Jugendlichen klar. Trotzdem ist der Gruppendruck oft stärker.“

Tumor-Angst

Selten, aber doch, können andere Erkrankungen die Ursache für Spannungskopfschmerzen sein. „Das Erste, was viele Eltern, aber auch Jugendliche aufschnappen, wenn sie ,Dr. Google‘ befragen, sind Hirntumoren. Das ist zwar eine der unwahrscheinlichsten Ursachen, aber die Angst ist riesig“, berichtet die Kärntner Kinderärztin.
Eine solche „Raumforderung“, die im Übrigen auch gutartig sein kann, würde den Druck im Hirn erhöhen. Sehr starke, plötzliche Kopfschmerzen mitten in der Nacht wären aber nur eines der Warnsignale, zu denen auch plötzliche Seh- oder Sprachstörungen oder ein unsicherer Gang gehören, ebenso wie starkes Erbrechen auf nüchternen Magen.

Solche Symptome sind immer schnellstmöglich mittels Magnet­resonanztherapie (MRT) abzuklären. Unangenehm, aber unverdächtig ist hingegen Kopfweh, das beim Einschlafen schon da war und in der Früh noch anhält bzw. Erbrechen nach einer Mahlzeit oder das alleinige Gefühl von Übelkeit. Auch medizinisch unbegründete Tumorangst kann einer Behandlung im Weg stehen, „deswegen ist es besser, sie mittels MRT aus der Welt zu schaffen, denn oft legen sich die Schmerzen deutlich, sobald der unauffällige Befund da ist“, weiß Andrea Lipp.

Gar nicht selten steckt eine schubweise Verschlechterung der Sehkraft hinter dem Kopfweh, gerade bei jüngeren Kindern, speziell wenn sie bereits eine Brille tragen. Auch Neuroborreliose infolge eines Zeckenstichs kann vor allem bei Kleinkindern zu Spannungskopfschmerz führen. Spannungskopfschmerz wird normalerweise bei Bewegung nicht schlimmer, außer bei Bluthochdruck infolge starken Übergewichts, das immer mehr Kinder betrifft.

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INTERVIEW

Spannungskopfschmerz oder Migräne?

Wichtige Unterschiede zwischen diesen beiden häufigsten Kopfschmerzarten bei Kindern und Jugendlichen erklärt Univ. Prof. Dr. Çiçek Wöber-Bingöl im folgenden Interview.

MEDIZIN populär
Wie häufig sind diese Kopfschmerzarten bei Kindern?
Univ. Prof. Dr. Çiçek Wöber-Bingöl
Laut einer kürzlich publizierten Studie tritt in Österreich Migräne bei 24,2 Prozent und Spannungskopfschmerz bei 21,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf.

Welche Altersgruppen sind besonders betroffen?
Die Häufigkeit von Spannungskopfschmerz und Migräne nimmt mit dem Alter zu. Vor der Pubertät sind Knaben und Mädchen gleich häufig betroffen, ab der Pubertät überwiegt bei beiden Kopfschmerzformen der Anteil der Mädchen.

Welche Symptome können auftreten?

Beim Spannungskopfschmerz stehen leichte bis mittelstarke Kopfschmerzen im Vordergrund, Alltagsaktivitäten sind nur gering oder gar nicht beeinträchtigt. Bei Migräne, die auch vererbt werden kann, sind die Kopfschmerzen mittelstark oder stark und stets von anderen Symptomen begleitet. Bei einer Migräneattacke sind die Teilnahme am Unterricht, Lernen, Spielen, Sport, Unternehmungen mit der Familie oder mit Freunden und andere Aktivitäten beeinträchtigt oder gar nicht möglich.

Wo im Bereich des Kopfes sind die Schmerzen lokalisiert?
Insbesondere bei jüngeren Kindern sind Kopfschmerzen oft im Bereich der Stirn lokalisiert, Migräne wird oft in der Mitte der Stirn angegeben. Mit dem Älterwerden entwickelt sich bei Migränebetroffenen eine einseitige Schmerzlokalisation, beim Spannungskopfschmerz werden die Schmerzen dann oft im ganzen Kopf oder wie ein zu enger Reifen um den Kopf herum wahrgenommen.

Gibt es Begleiterscheinungen?

Beim Spannungskopfschmerz kommen oft gar keine Begleitsymptome vor oder diese sind nur mild ausgeprägt. Bei der Migräne sind neben dem Kopfschmerz immer auch andere Symptome vorhanden, man sieht den Kindern an, dass es ihnen nicht gut geht. Sie sind blass im Gesicht, haben unter den Augen dunkle Ringe, empfinden Licht und Geräusche als unangenehm und verspüren Übelkeit. Wenn es zum Erbrechen kommt, erleben die Kinder oft ein deutliches Nachlassen der Kopfschmerzen.

Gibt es Trigger, die die Beschwerden verschlechtern können?
Herauszufinden, ob es Auslöser für Migräneattacken oder Spannungskopfschmerz gibt, ist ein wichtiger Schritt in der Behandlung. Dabei ist es vor allem wichtig, auf regelmäßiges und ausreichendes Trinken (in der Früh, am Vormittag, zu Mittag, am Nachmittag und abends), regelmäßige Mahlzeiten, genug Schlaf, einen Start in den Morgen ohne Stress und Hektik, regelmäßigen Sport, Pausen beim Lernen und einen sorgsamen Umgang mit elektronischen Geräten zu achten und insbesondere den Gebrauch von visuellen Medien 30 Minuten vor dem Schlafengehen zu beenden.

 

Stand 09/20

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