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Gesunder Genuss

Warum schlechtes Gewissen nicht auf den Teller gehört

Messer und Gabel sind unsere wichtigsten Genusswerkzeuge, Essen gilt als Genusserlebnis schlechthin. Und wie man heute weiß, leben Genussesser meistens gesünder als jene, die sich ständig kasteien.

von Mag. Alexandra Wimmer

Himbeere, Vanille, Walnuss, Pistazie, Joghurt: Mit dem sommerlichen Wetter ist allerorts wieder die „Eiszeit“ angebrochen; das Entzücken über die süß-kalten Köstlichkeiten steht Jung und Alt ins Gesicht geschrieben. Riechen, schmecken, kauen, schlucken: Essen ist ein Sinneserlebnis, das wie jeder Genuss (auch) Zeit und Hingabe braucht. In unserem Sprachgebrauch wird ihm eine Sonderstellung eingeräumt, vielfach verwendet man Essen sogar als Synonym für Genuss, Messer und Gabel gelten als Genusswerkzeuge schlechthin. Was fälschlicherweise auch in vielen Köpfen verankert ist: Beleibte Menschen werden als „Genießer“ bezeichnet. „Dabei hat Genuss nichts mit Maßlosigkeit gemein“, schickt die Ernährungswissenschafterin Dr. Eva Derndorfer voraus. „Genuss fördert eher die Gesundheit als dass er zur Völlerei führt.“ Genüssliches Speisen und Gesundheit sind demnach nicht nur kein Widerspruch, sie gehen sogar Hand in Hand: Wer genießt, isst – und ist – mit höherer Wahrscheinlichkeit gesund.

Schlank mit Wonne und ohne Diät

Dies bestätigen auch die Ergebnisse des ersten Österreichischen Genussbarometers von „Forum Ernährung heute“: Genießer hören auf ihren Körper und orientieren sich deutlich häufiger am Hunger- und Sättigungsgefühl als genussunfähige Esser. Sie halten seltener Diät und haben deutlich öfter Normalgewicht als jene, die nicht oder nur eingeschränkt genießen können. Menschen, die sich einer Sache mit Wonne widmen, sind obendrein glücklicher, deutlich öfter optimistisch und entspannt als andere. Schließlich bedeutet Genuss, sich bewusst etwas zu gönnen – schlechtes Gewissen hat auf dem Teller nichts verloren. „Genuss ist eine rundum positive Angelegenheit“, betont Eva Derndorfer.

Mit allen Sinnen wahrnehmen

Genießen bedeutet außerdem, sich Zeit zu nehmen und bewusst zu essen. „Man sollte experimentieren, an dem Lebensmittel riechen, es ausgiebig kauen, im Mund zergehen lassen und sich fragen: Was nehme ich wahr?“ regt Derndorfer an. Dies sei allerdings vielen fremd. „Wie ich bei meinen Genuss-Workshops beobachte, stecken die meisten Teilnehmer ein Nahrungsmittel gleich in den Mund; die wenigsten riechen daran.“ Beim schnellen Hinunterschlingen bleiben allerdings Genusserlebnisse auf der Strecke: „Damit ein Geschmacksstoff überhaupt zum Geschmacksrezeptor kommt, muss er im Speichel gelöst sein und auf der Zunge verteilt werden“, erklärt die Expertin. Die oft mit dem Geschmack verwechselte Aromawahrnehmung ist vor allem bei kühlen Lebensmitteln und Getränken eine Frage der Zeit: „Wenn man zum Beispiel ein Erdbeersorbet sofort schluckt und nicht im Mund zergehen lässt, nimmt man das Aroma weniger intensiv wahr. Das gelingt erst, wenn das Eis etwas wärmer ist und die flüchtigen Aromastoffe zur Nase aufsteigen.“
Je mehr unserer Sinne von einer Mahlzeit angesprochen werden, umso besser mundet sie. Gerüche, Geräusche bzw. Musik, die Beleuchtung des Raumes – das gesamte Ambiente hat Einfluss da­rauf, wie gut uns ein Gericht schmeckt. Ganz besonders wichtig ist die Optik: Wem ist nicht beim Anblick einer Speise schon das Wasser im Mund zusammengelaufen? „Die Farben, die man beim Essen wahrnimmt, können den Genuss verstärken und auch schmä­lern“, bestätigt Derndorfer. Und sogar die Farbe des Geschirrs „wirkt“: „Dasselbe Lebensmittel auf unterschiedlich färbigen Tellern wird unterschiedlich wahrgenommen.“

Aus dem Vollen schöpfen

„Genuss bedeutet auch, dass man neugierig ist, dass man immer wieder etwas Neues ausprobiert“, nennt Eva Derndorfer eine weitere Zutat genüsslichen Speisens. Ein bunter Speisezettel fördert nicht nur die Freude am Essen, sondern auch die Gesundheit: „Wer aus einer größeren Bandbreite von Lebensmitteln schöpft, nimmt entsprechend viele verschiedene Nährstoffe zu sich“, so die Expertin. In einer Hinsicht hat Vielfalt allerdings ihre Tücken: „Viele verschiedene Speisen innerhalb einer Mahlzeit können dazu führen, dass man mehr isst, als wenn nur wenige verschiedene Nahrungsmittel aufgetischt werden“, gibt Derndorfer zu denken. Viele kennen den Effekt von Buffets: Immer weitere Speisen lachen einen an, obwohl man längst satt ist.

Vorliebe und Abneigung

Nicht jeder Mensch ist beim Essen gleichermaßen experimentierfreudig. „Man weiß jedoch, dass sich die Aufgeschlossenheit durch Sinnesschulungen verbessern lässt“, macht die Ernährungswissenschafterin Lust aufs Gustieren. Welche Nahrungsmittel und Speisen einem letztlich zusagen, ist Geschmackssache – und über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Genauso wenig über Ekelgefühle: „Dass uns zum Beispiel vor Angefaultem oder Verwestem graust, ist ein universelles Phänomen und auf ein natürliches Schutzprogramm zurückzuführen“, erklärt Eva Derndorfer. Kulturell erworbener Ekel geht auf die Ernährungsgewohnheiten innerhalb einer Kultur oder eines Familienkreises zurück. Und wie ist es bei einer individuellen Abneigung? „Wenn einem ein bestimmtes Lebensmittel nicht behagt, hat es Sinn, es nicht zu essen“, sagt Derndorfer. „Man hört immer wieder von Menschen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit, dass sie   das entsprechende Lebensmittel nie wirklich mochten.“

Feigen, Datteln, gute Gesellschaft

Sie möchten sich mit den richtigen Speisen eine extra Portion Glück einverleiben? Lebensmittel mit Tryptophan bewirken, dass im Gehirn das Glückshormon Serotonin erzeugt wird; als besonders günstige Serotonin-Bildner gelten Nahrungsmittel mit hohem Tryptophan- und niedrigem Eiweißgehalt, z. B. Feigen, Datteln, Cashewkerne, dunkle Schokolade. „Auf rein biochemischer Ebene funktioniert dies tatsächlich“, sagt Derndorfer, die ergänzend betont, dass Glück und Genuss nicht allein eine Frage der Lebensmittelauswahl sind. „Wenn man mit seinen Lieben an einer schön gedeckten Tafel mit herrlich angerichteten Speisen sitzt, stellt sich bereits ein großes Wohlgefühl ein, bevor man überhaupt einen Bissen verzehrt hat.“

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Essstörungen: Wenn Genuss verboten ist

Ob Kuchen, Schokolade oder Kompott: Manche Menschen haben jeglichen Köstlichkeiten abgeschworen – nicht, weil sie sich diese nicht leisten, sondern, weil sie sich keinen Genuss erlauben können und z. B. an einer Magersucht (Anorexia nervosa) erkrankt sind. „Manche Patienten haben sich seit Monaten oder gar Jahren nichts mehr schmecken lassen“, weiß der Psychiater und Neurologe Univ. Prof. Dr. Andreas Karwautz, der die Spezialambulanz für Essstörungen am AKH Wien leitet.
Dass die Fähigkeit zu genießen auch ein Zeichen von psychischer Gesundheit ist, zeigt sich am Beispiel von Essstörungen besonders deutlich: Sich einzuschränken, sich zu kasteien, sich Genuss zu versagen, kann ein Anzeichen für eine (beginnende) Essstörung sein, warnt der Experte. „Die Ernährung wird reduziert auf ganz wenige Nahrungsbestandteile. Manche würden das Essen gerne genießen, können es sich aber nicht erlauben“, skizziert Karwautz das Dilemma. „Die negative Einstellung gegenüber dem Genuss betrifft vielfach auch andere Lebensbereiche.“
Wie viele Menschen in Österreich von einer Essstörung betroffen sind, wird man 2015 wissen: Derzeit läuft unter der Leitung von Psychiater Andreas Karwautz die diesbezüglich erste repräsentative Erhebung. Bislang zieht man für Hochrechnungen Zahlen aus Deutschland heran: „Man geht davon aus, dass in Österreich sechs oder sieben Prozent der Bevölkerung unter einer Essstörung leiden“, berichtet der Mediziner. Besonders häufig betroffen sind Jugendliche, wie auch die Ergebnisse seiner Pilotstudie zeigen: „Derzufolge sind hierzulande etwa 20 Prozent der Jugendlichen zwischen elf und 17 Jahren auffällig in Hinblick auf eine Essstörung. Essstörungen, besonders Anorexia nervosa, sind nach Adipositas und Asthma die dritthäufigste chronische Krankheit bei Jugendlichen“, betont der Experte.
Für die Entstehung einer Magersucht kommen viele Ursachen infrage. „Nicht zu essen gibt vermeintlich Kontrolle, Kraft und Selbstvertrauen“, nennt Karwautz mögliche Hintergründe. „Damit kompensiert man letztlich einen mangelnden Selbstwert, oft auch die fehlende Kontrolle über das Leben an sich.“ Ein ausgewogener Menüplan, regelmäßige Mahlzeiten, gemeinsam mit der Familie oder auch in Einrichtungen wie der Schule genossen, können mithelfen, der Erkrankung vorzubeugen.

Stand 07/2014

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