Die Kunst des Loslassens

Januar 2010 | Psyche & Beziehung

Warum Abschiede so schwierig, aber wichtig sind
 
Den Jahreswechsel nehmen viele zum Anlass, um in ihrem Leben aufzuräumen, Ausgedientes loszuwerden oder Belastendes abzuschütteln. Doch manche können sich einfach von nichts und niemandem trennen. Dabei ist die Fähigkeit loszulassen eine der wichtigsten Lektionen des Lebens: Je besser es gelingt, desto freier und gelassener sind wir. Warum – das erklärt die Psychiaterin und Psychotherapeutin DDr. Adelheid Gassner-Briem.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

„Ich will aber nicht, dass mein Bagger kaputt ist!“ – Das zornige Geheul der fünfjährigen Lara ist weit über den Spielplatz hinaus zu hören. Tränen der Wut und Verzweiflung über den Verlust des neuen Spielzeugs strömen über das gerötete Gesicht. Zur gleichen Zeit steht eine geschockte Frau am Krankenbett ihres gerade verstorbenen Mannes. „Warum so plötzlich? Wir  hatten doch noch so viele Pläne! Ich kann mir mein Leben ohne ihn gar nicht vorstellen.“ Szenen wie diese führen uns vor Augen: Von Beginn unseres Lebens an müssen wir ständig Abschied nehmen, uns von jemandem oder etwas lösen.

Große und kleine Abschiede

Das Neugeborene, das aus dem Mutterbauch geholt, das Baby, das abgestillt wird, der Eintritt in den Kindergarten, Schulbeginn, der erste Liebeskummer – von Geburt an ist Loslassen eines der zentralen Themen, sagt DDr. Adelheid Gassner-Briem, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutin in Feldkirch in Vorarlberg. „Das ganze Leben besteht aus einer Reihe größerer und kleinerer Abschiede und endet im großen Loslassen – dem  Tod. Letztlich stellt jedes Loslassen eine Vorbereitung auf den großen Abschied am Ende unseres Lebens dar.“
Wovon auch immer wir uns trennen müssen oder wollen – von einem geliebten Menschen, einem Job, der Lieblingsjacke oder der Angewohnheit, an den Kindern herumzunörgeln – Abschiednehmen will „gelernt“ sein. „Angesichts des Älterwerdens beispielsweise müssen wir die Vorstellung loslassen, dass wir stets gesund und ohne Schmerzen sein werden und immer jung und fit ausschauen“, ergänzt die Fachärztin. Wie und wie gut wir uns von etwas lösen, sei individuell verschieden. „Jeder Mensch bewältigt seine Abschiede auf andere Weise, abhängig von seiner Persönlichkeit, Lebensgeschichte, Entwicklung und Sozialisation.“

Schwierige Gefühle

Meist sind die Loslösungsprozesse von schwierigen Gefühlen begleitet. „Trauer und Traurigsein gehören zum Loslassen“, so die Psychotherapeutin. „Die Gefühle sind besonders schwierig auszuhalten, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist. Manche meinen, ohne den Menschen nicht mehr weiterleben zu können.“ Die Notwendigkeit, sich von etwas zu lösen, kann aber auch wütend machen. „Die Erkenntnis, dass man immer mehr Falten bekommt, seine Jugendlichkeit verliert und nichts oder nicht viel dagegen tun kann, kann starke Wutgefühle hervorrufen.“
Schmerzliche Verlustgefühle werden nicht nur im Angesicht von Verfall oder Tod empfunden, sondern auch nach einer Trennung oder Scheidung. „Trennungen sind kleine Tode, die oft besonders schwer zu begreifen sind, da der Ex-Partner ja weiterlebt und man diesen vielleicht immer noch liebt“, erklärt die Psychotherapeutin. „Deshalb muss man Liebeskummer – auch bei Jugendlichen – sehr ernst nehmen.“
Welche Gefühle auch immer auftauchen – man sollte sich ihnen stellen und sie keineswegs verdrängen. „Irgendwann holen sie einen ein“, so die Expertin. Werden Schmerz und Trauer hingegen bewusst durchlebt, so kann sich aus dem Abschied schließlich etwas Neues, Positives entwickeln. „Im Loslassen liegt immer eine große Chance – die Möglichkeit eines Neubeginns“, bestätigt Gassner-Briem. „Wenn wir eine Tür schließen, besteht die Chance, dass eine neue Tür aufgeht.“ Nach und nach stellen sich dann Gefühle der Erleichterung und Befreiung ein.

Zwanghaftes Festhalten

Trotz dieser Aussichten macht vielen die Übergangsphase – in der noch ungewiss ist, was auf einen zukommt – Angst. „Die Angst vor dem Neuen schwingt beim Loslassen immer mit und verunsichert massiv“, betont Gassner-Briem. Sie führt dazu, dass wir Menschen, Situationen oder Dinge krampfhaft festhalten, selbst wenn wir spüren, dass diese uns nicht (mehr) gut tun. „Wir neigen dazu, Sicherheit zu suchen“, bestätigt die Fachärztin. Doch je mehr wir an Gewohnheiten, Dingen etc. festhalten, desto unfreier sind wir. „Festhalten und Sucht hängen sehr stark zusammen“, so Gassner-Briem. Das ist auch der Grund, weshalb uns das Loslassen eingefleischter Gewohnheiten mitunter so schwerfällt. Das Viertel Wein zum Abendessen, die Schokolade zwischendurch oder das morgendliche Abhetzen ins Büro, weil man schon wieder verschlafen hat: „Manche dieser Gewohnheiten sind wie Zwänge, die wir suchtartig betreiben“, gibt die Medizinerin zu bedenken. „Wenn eine Gewohnheit ins Krankhafte geht, reicht es nicht mehr, loslassen zu wollen – in diesem Fall braucht man zusätzlich Unterstützung in Form einer Therapie.“

Sich lösen lernen

Ob vom Leben aufgezwungen oder selbst gewollt: Der Grund, weshalb Abschiede uns so schwerfallen, ist, dass sie uns mit unserer Vergänglichkeit – einem gesellschaftlichen Tabuthema – konfrontieren. Doch genau im Akzeptieren der Vergänglichkeit liegt der Sinn des Loslassens: „Je mehr wir die Tatsache integrieren können, dass unser aller Leben irgendwann zu Ende sein wird und sich diese Tatsache durch nichts aufhalten lässt, desto angstloser und freier werden wir uns fühlen“, sagt Gassner-Briem. Die Vergänglichkeit von Schönheit etwa führen uns tibetische Mönche vor Augen, wenn sie ihre kunst- und mühevoll gelegten Sandmandalas rituell zerstören. „Die Kunst des Loslassens können wir von Meditationsmeistern – aus welcher Kultur oder Religion auch immer – lernen. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Tod erlangen sie Gelassenheit“, erklärt Gassner Briem. „Buddhistische Mönche üben sich jahrelang im Loslassen, um in der Suche nach der totalen Leere Glück und eine Bewusstseinserweiterung zu erfahren.“ Dies befähige sie dazu, sich von äußerem Ballast, von Gedanken oder Menschen zu befreien.

Ballast abwerfen

Um freier und gelassener zu werden, sei es hilfreich, übungshalber immer wieder etwas loszulassen. Gassner-Briem: „Entrümpeln Sie die Wohnung und lassen Sie alles los, was Sie nicht brauchen, sondern nur sammeln. Machen Sie Platz in ihrem Leben!“ Hilfreich seien auch Entspannungsmethoden wie Autogenes Training, Yoga oder Tai Chi  sowie meditative Sportarten wie Wandern, Joggen oder Schwimmen.
Wer die Lektion der Vergänglichkeit begriffen hat, kann sich weiterentwickeln und ist nicht zuletzt fähig, Schicksalsschläge gut zu bewältigen. Oder – um es mit den Worten des Philosophen Seneca auszudrücken: „Schlecht lebt, der nicht gut zu sterben weiß.“

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Der richtige Zeitpunkt:
Wann muss ich mich lösen?

„Wenn du entdeckst, dass du ein totes Pferd reitest, steig ab“, lautet ein indianisches Sprichwort. Woran aber erkennt man, dass man auf einem „toten Pferd“ sitzt, sprich: dass es an der Zeit ist, sich von jemandem oder etwas zu lösen? „Immer dann, wenn man an Situationen, Menschen oder Gegenständen  festhält, die einem nicht mehr gut tun, die nur noch Kraft kosten, verbraucht man viel Energie. Wer etwa an einer destruktiven Beziehung festhält, wird angespannt und immer erschöpfter“, erklärt die Psychiaterin und Psychotherapeutin DDr. Adelheid Gassner-Briem. „Dann kann es – und das ist sogar häufig – passieren, dass man irgendwann zusammenbricht. Der Körper zwingt einen loszulassen, indem man im Extremfall etwa einen Herzinfarkt erleidet.“ Um gesundheitlichen Problemen vorzubeugen sollte man, wenn Anspannungen auftreten, innehalten und sich fragen: Warum bin ich so angespannt und erschöpft? Was glaube ich, nicht loslassen zu können?“ Im Loslassen schließlich wird die nötige Energie frei, um die Herausforderungen zu meistern. „Es gibt für alles eine Lösung“, ist die Expertin überzeugt. „Das Wort Lösung kommt wohlgemerkt von Lösen.“

    

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