Ich kann nicht nichts tun

April 2009 | Leben & Arbeiten

So lernen Sie zu entschleunigen
 
War das wieder ein Tag! Nicht eine Minute, um sich zurückzulehnen und einfach nichts zu tun! Bei immer mehr Menschen mangelt es aber nicht so sehr an Gelegenheiten, als vielmehr an der Fähigkeit zum zeitweiligen Müßiggang. Es ist, als müssten sie sich ständig beschäftigen, könnten sie gar nicht langsamer und leiser treten. Lesen Sie in MEDIZIN populär, wie man lernen kann zu entschleunigen.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

Meine Frau kennt mich als Arbeits­irren“, sagt Heinz Nussbaumer mit einem Schmunzeln. Nussbaumer ist Journalist, Buchautor und Co-Herausgeber der Wochenzeitung „Die Furche“, daneben hält er Vorträge und hat ein Ehrenamt beim SOS-Kinderdorf inne – ein volles Programm, das viel Zeit und Energie kostet und darüber hinaus eine nahezu permanente Erreichbarkeit erfordert. Im Laufe der Zeit hat Nussbaumer die Erfahrung gemacht, seinem Alltag regelmäßig etwas entgegensetzen zu müssen. Und so packt er einmal im Jahr seinen Rucksack und zieht sich zurück, auf die griechische Halbinsel Chalkidikí – in eines der Klöster auf dem Berg Athos. Seit 26 Jahren macht er das.

Dann lebt er für mindestens eine Woche den Alltag der orthodoxen Mönche mit, wo es kein Internet, keine E-Mails, keine Telefonate, kein Faxgerät, kein Getriebensein gibt, sondern stattdessen nur die klare Ordnung des Tages zwischen Aufstehen, Meditation und Gebet, Essen und Schlafengehen. „Das gibt mir Kraft“, sagt Nussbaumer, „die Kraft, die ich brauche, um aus der Zeit herauszutreten und meinen Alltagsstress loslassen zu können“. Das große Ziel heißt: Herzensruhe. In dem Buch „Der Mönch in mir“ hat Nussbaumer beschrieben, was ihm seine Aufenthalte auf dem Berg Athos bringen. „Der Mönch in mir ist noch klein“, sagt er. „Inzwischen habe ich aber von den Mönchen gelernt, auch in meinem normalen Leben öfter einmal loszulassen und etwas nicht mitzumachen, was mich zu sehr gefangen nehmen würde.“

Sehnsucht nach der Stopptaste?

Wenn der Alltag angefüllt ist, oft auch in der Freizeit am Wochenende und sogar im Urlaub ein Programmpunkt den anderen jagt, wächst bei vielen Menschen das Bedürfnis, à la Heinz Nussbaumer auf die Stopptaste zu drücken. Sich auszuklinken, einen Kontrast zu schaffen, sich zurückzulehnen und einmal einfach nichts zu tun. „Das ist insbesondere dann der Fall, wenn ich feststelle, ich komme ja jetzt schon jeden Tag erschöpft von der Arbeit nach Hause, ich bin an der Grenze meiner Leistungsfähigkeit und Produktivität angelangt, und wenn ich dann für mich bemerke, dass es so nicht weitergehen kann“, sagt Dr. Günther ­Possnigg, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeut in Wien.

Der Satiriker Paul Lafargue schrieb schon anno 1883 in einer Kampfschrift gegen die Anbetung der Arbeit und des Fleißes: „O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit.“ So wie damals sind auch heute allzu oft Welten zwischen dem Wunsch nach Faulheit und dem Nichtstun. Warum fällt es uns oft so schwer, uns zurückzulehnen, um dem Alltagsstress zu entfliehen? Possniggs Erklärung dazu: „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, schon unsere ganze Erziehung zielt darauf ab, ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden.“ Die Folge: Um akzeptiert zu werden, sehnen wir uns danach, andauernd nützlich zu sein, dauernd tätig zu sein.
Dies sei nicht grundsätzlich schlecht, sollte aber, so der Experte, auf keinen Fall belastend oder gar krankmachend sein. Wenn sich bereits typische Stresssymptome zeigen wie Verspannungen, Gereiztheit, Rückenschmerzen, Kopfweh, Schlafstörungen, Müdigkeit oder Nervosität, besteht dringender Handlungsbedarf.

Falsche Einflüsterer zum Schweigen bringen

Was kann man tun, wenn man sich bereits sicher ist, dass man das Nichtstun brauchen würde, es aber einfach nicht gelingen will, das Ruder herumzureißen und einmal Ruhe zu geben? Dann, so meint Possnigg, müsse man sich zunächst einmal selbst bewusst machen, dass man nicht immer nützlich für andere sein kann, sich nicht immer verausgaben kann, sondern auch auf sich selbst schauen muss. „Ich muss mir dann zuerst selbst sagen, dass mich mein Gewissen nicht quälen braucht, wenn ich einmal nichts tue, und dass sich die innere Stimme auch nicht melden braucht, die immer sagt, wie viel man eigentlich noch tun könnte und was noch alles zu erledigen ist.“

Ist es einmal gelungen, die falschen Einflüsterer zum Schweigen zu bringen, könnte man daran gehen, das Nichtstun schrittweise zu lernen, sagt Possnigg (siehe Kasten). „So kann man sich langsam daran gewöhnen, die Dynamik aus seinem Tun herauszunehmen.“
Wer die schrittweise Entschleunigung versucht und beim zunehmenden Nichtstun erfolgreich ist, der werde schon bald bemerken, wie viel er davon habe, sagt Possnigg. Denn weniger Dynamik bedeute mehr Entspannung, und mit der Entspannung verliere sich wiederum die Angespanntheit, wodurch oft eventuell vorhandene körperliche Stresssymptome verschwinden. Auch bei einem bestehenden Suchtverhalten könne es durch die Entschleunigung zu positiven Veränderungen kommen. Possnigg: „Wer die dauernde Reizüberflutung abstellt und mehr in sich ruht, braucht es auch nicht mehr so sehr, sich mit Alkohol, Zigaretten, Shopping-Exzessen oder anderem ablenken zu müssen.“ Und schließlich werde es auch wieder möglich, Phasen der Langeweile entstehen zu lassen, einer Langeweile, die dazu führe, dass der Geist Zeit hat, den Ereignissen des Lebens nachzukommen, sie zu verarbeiten. „So entsteht wieder ein Freiraum für Neues, man wird wieder kreativer, schöpferischer, kommt auf neue Ideen, und das tut im Prinzip jedem gut.“
Ob Possnigg jenen Menschen, die sich nach dem Nichtstun sehnen, auch zu doch radikaleren Schritten wie längeren Pilgerreisen, Schweigewochen oder einem Urlaub bei Mönchen im Kloster raten würde? „Welchen Weg man geht, muss jeder für sich selbst entscheiden“, sagt er. „Ist die Entscheidung gefallen, probiert man den Weg aus, und wenn einem Klosterurlaub, Schweigewoche oder Pilgerreise gut tun, ist das auch gut so, wenn nicht, kann man den Urlaub ja abbrechen.“

Der „Mönch auf Zeit“ Heinz Nussbaumer selbst erzählt auf die Frage, wem er zu einem solchen Rückzug raten würde, wie er ihn praktiziert, von der Reaktion einer Leserin auf sein Buch. „Die Frau hat mich gefragt, warum ich immer so weit fahre, um zur Ruhe und zum Kraftschöpfen zu kommen. Sie hat mir erzählt, sie geht einfach jeden Tag in den Wienerwald, das ist sozusagen ihr Berg Athos. Ich denke, irgendeinen ‚Berg Athos‘ braucht jeder.“

In fünf Schritten zur Entschleunigung

  • Schritt eins:
    Einmal einen Tag lang versuchen, nicht mehr zwei, drei Dinge gleichzeitig zu erledigen, sondern zuerst telefonieren, dann die E-Mails checken und dann das Glas Wasser oder den Kaffee trinken.
  • Schritt zwei:
    Einmal drei Tage lang darüber hinaus versuchen, nicht mehr beim Fernsehen oder Radiohören oder Lesen zu essen, sondern sich bewusst auf eine Tätigkeit zu konzentrieren und zuerst das Essen zu genießen und sich dann zu unterhalten bzw. unterhalten zu lassen.
  • Schritt drei:
    Einmal eine Woche lang neben Schritt eins und zwei versuchen, in den Tag Pausen einzubauen, in denen nichts getan wird außer etwas nicht Produktives wie Spazierengehen.
  • Schritt vier:
    Sich außerdem jede Woche ein paar Stunden an einem Tag oder einen ganzen Tag Zeit nehmen, um nichts zu tun bzw. nichts Produktives zu tun.

  • Schritt fünf:
    Das Gelernte auch im Urlaub praktizieren, indem man z. B. nach Tagen mit Erlebnissen wie einer Stadtrundfahrt einen Tag des Nichtstuns am Strand einbaut oder auch mehrere Tage lang nichts tut.

Buchtipp: Nussbaumer, Der Mönch in mir. Erfahrungen eines Athos-Pilgers für unser Leben, ISBN 9783222132049, 144 Seiten, € 14,90, Styria Verlag 2006

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