Kampf den Kilos

Februar 2019 | Medizin & Trends

Starkes Übergewicht hat nicht nur mit dem Essverhalten zu tun, auch die Genetik spielt eine Rolle.
 
– Von Mag. Sylvia Neubauer

Wie viele andere übergewichtige Menschen kannte auch Vera Dietl die ständigen Auf und Abs, die nicht nur ihre Gewichtskurve, sondern auch ihr emotionales Befinden in Schieflage brachten: „Ein massiv dicker Körper reduziert das Selbstvertrauen und schränkt täglich in den einfachsten Dingen ein“, schildert die für die Adipositas-Selbsthilfegruppe in Tirol tätige Frau.
De facto stellt Übergewicht ein gravierendes Gesundheitsproblem dar. Mit steigendem Body-Mass-Index (BMI) wächst auch das Risiko für viele Begleit- oder Folgeerkrankungen wie zum Beispiel Typ-2-Diabetes, Fettleber, Arteriosklerose und Krebserkrankungen, welche die Notwendigkeit einer Therapie dringlich machen.
Die Wahl der individuell passenden Behandlungsform hängt dabei „von der Kategorie des Übergewichts ab“, erklärt Univ. Prof. Dr. Heinz Wykypiel, Leiter der Bariatrischen Chirurgie an der Univ. Klinik für Visceral-, Transplantations- und Thoraxchirurgie in Innsbruck. „Wenn jemand zehn Kilo zu viel hat, dann lässt sich das mit gutem Willen und eisernem Dranbleiben gut regeln. Aber wenn jemand einen BMI von 35 oder darüber hat, dann weiß man aus großen Studien, dass die Rückfallrate nach Diäten bei über 95 Prozent liegt.“ Hier bedarf es anderer Lösungsstrategien.

Übergewicht hat viele Ursachen

Menschen, die zu viele Kilos auf die Waage bringen, sind nicht selten mit Vorurteilen konfrontiert. Auch Frau Dietl waren verurteilende Blicke nicht fremd: „Essen ist immer sehr mit Schuld verbunden, so quasi ,jetzt isst die Frau auch noch eine Wurstsemmel, das ist doch nicht zu fassen’. Das sind so die täglichen kleinen Versagensmomente.“
Dabei ist schweres Übergewicht in erster Linie keine Frage von Disziplin, sondern eine meist chronische Erkrankung, die sich über viele Jahre hinweg erstreckt und in ein multifaktorielles Ursachengeflecht eingebettet ist. „Übergewicht hat mit dem Essverhalten zu tun, es hat mit dem Angebot an Nahrung zu tun und es hat mit der Art der Kalorien zu tun“, stellt Wykypiel immer billiger produzierte Nahrungsmittel und üppigere Portionsgrößen an den Pranger. „Der Großteil der Bevölkerung bewegt sich zu wenig und isst im Schnitt zu viel. Wenn man jeden Tag 100 Kalorien zu viel zu sich nimmt, summiert sich das nach einigen Jahrzehnten und führt langfristig zu Übergewicht“, so der Mediziner.
Neben psychischen Komponenten spielen auch genetische Gegebenheiten eine Rolle. So wirken etwa bestimmte Gene auf Teile des Gehirns, die das Hunger- und Sättigungsempfinden regulieren. Andere wiederum legen fest, wie der Körper die ihm zugeführten Kalorien speichert oder verbrennt. „Das heißt, einer, der 1000 Kalorien isst, nimmt 1000 Kalorien auf, der andere verbrennt davon nur 500 Kalorien“, erklärt der Chirurg.

Abnehmen in kleinen Etappen

Das Gehirn ist evolutionsbiologisch darauf programmiert, ein bestimmtes Körpergewicht aufrecht zu erhalten. „Es braucht wahnsinnig lange, bis sich der Kopf von der ,Mehr-Kalorienaufnahme’ auf die ,Weniger-Kalorienaufnahme’ umgestellt hat“, weiß Wykypiel. „Wenn man von einem Tag auf den anderen plötzlich weniger isst, dann sind Körper und Gehirn im Hintergrund in Alarmbereitschaft und meinen, jetzt bricht die Hungersnot aus.“
Im Kampf gegen überflüssige Kilos ist Zeit daher ein wesentlicher Faktor. Radikaldiäten sollten zugunsten eines langsamen, sukzessiven Abnehmprozesses vermieden werden. Der Begriff „langsam“ umschließt einen Gewichtsverlust, der nicht höher als 0,5 bis 1 Kilogramm pro Woche sein sollte – so die Faustregel.
Optimalerweise gehen eine kalorienreduzierte Ernährung und ein Mehr an Bewegung Hand in Hand. Sportliche Aktivität kurbelt nicht nur den Energieverbrauch auf, sondern unterstützt auch den Aufbau neuer Muskelfasern. Muskeln sind stoffwechselaktive Gebilde, die selbst in Ruhe mehr Kalorien verbrauchen als Fettgewebe. Dementsprechend erhöht sich auch der Grundumsatz. Kleine Teilziele, die beim Erreichen belohnt werden, spornen außerdem zum Weitermachen und Dranbleiben an.

Chirurgie bei starkem Übergewicht

Wenn die BMI-Grenze von 30 kg/m² erreicht ist und Verhaltensmaßnahmen keinen Erfolg gebracht haben, kann die bariatrische Chirurgie – das sind Eingriffe, die eine Reduktion des Körpergewichts erleichtern sollen – unterstützen. Rund 120 bariatrische Eingriffe werden jährlich an der Innsbrucker Universitätsklinik gemacht.
„Die Bemühungen in der Chirurgie zielen darauf ab, sowohl die Kalorienaufnahme zu schmälern, sozusagen die Portionsgröße der Mahlzeit zu verkleinern – mittels Magenband und Schlauchmagen – als auch die Aufnahme bestimmter Nährstoffe ins Blut zu verringern wie beispielsweise mittels Magenbypass“, erklärt der Chirurg, warum Patienten ihr Übergewicht nach den Eingriffen um durchschnittlich bis zu 75 Prozent reduzieren können. Mehr zum Thema „Magenbypass“ erfahren Sie ab Seite 28.
„Wenn ich mich auf so eine OP einlasse, muss ich bereit sein, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen, mich auf ein radikal verändertes Essverhalten einstellen“, weiß auch Vera Dietl, die vor acht Jahren selbst operiert wurde.

Veränderter Stoffwechsel

Fest steht: Das Leben ändert sich nach einer Adipositas-OP gewaltig. Umso wichtiger ist eine gute Nachsorge durch ein interdisziplinäres Expertenteam inklusive ernährungsmedizinischer Hilfestellung. Aufgrund des veränderten Stoffwechsels und der Malabsorption – der verminderten Aufnahme von Nahrungsbestandteilen – kann es nämlich zu Nährstoffengpässen kommen. „Die Patienten müssen darauf achten, dass sie vor lauter Freude, dass das Gewicht purzelt keinen Proteinmangel bekommen“, sagt Mediziner Wykypiel und rät zu Eiweißshakes und Nahrungsergänzungsmitteln, um Defiziten vorzubeugen. Die beschleunigte Magenentleerung kann zudem Verdauungsbeschwerden und eine mit Zittern und Schwäche einhergehende Unterzuckerung auslösen. Ein durch Überregulation der Insulinausschüttung verursachtes „Dumping-Syndrom“ tritt vor allem nach dem Genuss von Süßspeisen auf. „Wichtig ist die regelmäßige Zufuhr kleiner Mahlzeiten“, rät Wykypiel, „Essen und Trinken müssen dabei getrennt erfolgen.“
„Die Operation erfordert viel Auseinandersetzung mit sich selbst“, weiß Vera Dietl aus Erfahrung. Aber, „es ist eine erfolgreiche und nachhaltige Möglichkeit, um wieder die Handhabe über sich und seinen Körper zu gewinnen und nachhaltig zu mehr positiver Lebensqualität zu finden.“


Buchtipp:

Heiler, Klaus, Erlacher
Die Abnehm-Docs
Nachhaltig und gesund abnehmen mit den Profis
ISBN 978-3-7088-0752-2, 144 Seiten, € 25,–
Kneipp Verlag Wien

Interview
„Die OP war kein Selbstläufer“

Zeit ihres Lebens selbst übergewichtig, entschied sich Vera Dietl vor acht Jahren für einen Magenbypass. Seither hat sich das Leben der für die Adipositas-Selbsthilfe in Tirol tätigen Frau grundlegend verändert. Die Sorgen von Betroffenen kennt sie gut, sie spricht über…

… Gewichtsschwankungen und Versagensmomente
Die Adipositas ist meistens nichts, das plötzlich auftritt, wieder verschwindet und irgendwann wiederkommt, sondern sie verschlimmert sich schrittweise – getragen von unterschiedlichen Versuchen, das Gewicht wieder loszuwerden. Sei es durch Diäten oder/und sportliche Aktivitäten, die allerdings keine nachhaltigen Erfolge nach sich ziehen, sondern immer wieder mit großem Versagen einhergehen. Das Gewicht kommt oft wieder, manchmal sogar mehr als davor. So ist es auch in meinem Fall gewesen. Bei mir ist das Problem im Volksschulalter ganz massiv aufgetreten. Das Gewicht wurde ich nie wirklich los.

… Selbstwahrnehmung und das Gefühl, nicht dazuzugehören

Man möchte natürlich nicht dick sein. Man möchte sich bewegen, mithalten können, gut ausschauen, so sein wie alle anderen. Man möchte nicht auffallen, schon gar nicht negativ. Und dabei ist dieses extreme Übergewicht alles andere als hilfreich.

… wichtige Überlegungen vor einer Operation
Die OP war ein großer Schritt, den ich mir gut überlegt habe, vor dem ich mich viel erkundigt habe, ob ich das machen lassen möchte oder nicht. Gleichzeitig wusste ich aber, dass es kein ,Selbstläufer’ ist, bei dem alles anders wird. Sondern ich habe auch gewusst ,ok, das ist vielleicht eine Hilfe, aber der Rest muss von mir kommen.’ Diese Selbstverantwortung für den eigenen Körper wieder zu übernehmen, den man eigentlich für sich selber ,abgehakt’ hat, weil all diese Bemühungen, abzunehmen, keinen Erfolg gezeigt haben. Weil man ihn ja eigentlich immer nur negativ spürt, diesen dicken schweren Körper – all das ist eine riesige Herausforderung. Damit einhergehend die Fragen: Will man sich auf ihn wieder einlassen? Will man sich wieder spüren lernen?

Ihr Rat an Betroffene
Ich kann jedem nur von Herzen raten, dass er sich selbst in seinem Leiden ernst nimmt und sich nicht mit seinem dicken Körper ,solidarisiert’ frei nach dem Motto: ,Ich bin der lustige Dicke, dem es eh so gut geht.’ Sondern, dass man genau hinschaut und ehrlich mit sich selber ist. Weil in der heutigen Zeit gibt es nachhaltige Möglichkeiten, wie man wieder eine Perspektive finden kann.

   
Webtipps:

Verein Selbsthilfegruppe Adipositas Österreich: www.adipositas-shg.at
Adipositas Gemeinschaft Tirol: www.adipositastirol.at

Stand 02/2019

 

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