Landleben hilft gegen Burnout

Juni 2009 | Leben & Arbeiten

Abschalten statt ausbrennen: Die heilsame Gegenwelt
 
Nach dem Lauf der Natur leben statt vom Hamsterrad getrieben zu werden, mit den Hühnern zu Bett gehen statt mit quälenden Gedanken an den nächsten Arbeitstag, sich selbst suchen statt fremde Ziele zu verfolgen, Sinn finden statt Fehler in der Bilanz, rechen statt rechnen, abschalten statt ausbrennen: Immer mehr von Stress geplagte oder von Burnout gefährdete Menschen entdecken das Landleben als Therapie und machen sich so zunutze, was sich in der Behandlung Suchtkranker schon lange bewährt.
Lesen Sie in MEDIZIN populär, warum das Landleben so heilsam ist.
 
Von Mag. Karin Kirschbichler, Mag. Sabine Stehrer und Mag. Alexandra Wimmer

Nebenbei und zwischendrin einen Reithof mit zwölf Hektar Land bewirtschaften, Tiere hegen und pflegen, einen Heustadel bauen – das ist für Mag. Dietmar Ecker, den Chef einer Wiener Medien- und PR-Agentur, eine willkommene Abwechslung. Auf seinen Zweitberuf als Landwirt angesprochen, gerät der 45-Jährige regelrecht ins Schwärmen: „Das Leben und Arbeiten am Land ist für mich ein wunderschöner Ausgleich zu einem Job voller Hektik und Geschwindigkeit“, erzählt der gebürtige Oberösterreicher, der sich vor fünf Jahren im niederösterreichischen Hinterbrühl den Traum von einer eigenen Land- und Forstwirtschaft erfüllte. „Ich liebe die körperliche Arbeit, sie erdet mich und ich komme dadurch zur Ruhe.“ Der Bezug zur Natur und zu den Tieren ermögliche ihm „die Rückbesinnung auf das, was das Leben lebenswert macht“, und helfe ihm, entsprechend Prioritäten zu setzen. „Dadurch weiß ich immer noch genau, bei welchem Projekt ich Nein sagen muss“, betont der Hobbyfarmer, der zwar nicht mit den Hühnern zu Bett geht, jedoch ganz bewusst den Rhythmus der Natur wahrnimmt und genießt. „Jetzt erlebe ich die Jahreszeiten, die ich in der Großstadt und durch die Hektik im Beruf nicht mehr mitbekommen habe, wieder mit.“

Dem Alltagstrott entkommen

Allheilmittel sei das Bauersein im Zweitberuf freilich keines, will Dr. Günther Possnigg, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sowie Psychotherapeut in Wien, überzogene Erwartungen von vornherein dämpfen. Wohl aber können sehr viele Menschen vom „Zurück zur Natur“ profitieren. Das, so Possnigg, seien naturgemäß jene Personen, die ihren Alltag in einer Stadt zubringen. Und es sind jene, die im Beruf und/oder im Privatleben eher im Vordergrund stehen, die häufig da­rüber entscheiden, was passieren soll, die über andere bestimmen und deswegen oft unter negativem Stress leiden, manchmal auch Burnout-gefährdet sind. Doch auch jenen Städtern, die sich einfach nur einmal danach sehnen, dem Alltagstrott zu entkommen und sich zu erholen, legt der Experte das Landleben auf Zeit ans Herz. Possnigg: „Beim Aufenthalt am Land beziehungsweise in der Natur erleben diese Personengruppen eine Gegenwelt in totaler Abwechslung zu ihrem normalen Alltag, und das für sich genommen hat bereits positive Auswirkungen auf die Psyche.“

Grundhaltung verändert sich

Auf dem Land und in der Natur kann man erleben, dass größere Mächte vorgeben, was geschieht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist und dass man selbst nicht so wichtig ist. So erscheinen die Probleme nach und nach kleiner. Dieser Effekt steigert sich, so Possnigg, „wenn die Landleute auf Zeit nicht nur Urlaub auf dem Land bzw. auf einem Bauernhof machen und beobachten, was rund um sie geschieht, sondern auch bei der Arbeit mithelfen“. Denn dann gibt die Natur vor, was zu tun ist: Das heranziehende Gewitter bestimmt zum Beispiel, dass man sich beim Heuen beeilen muss. Große Sommerhitze gibt vor, dass der Gemüsegarten öfter als sonst zu gießen ist, und die Marillen müssen dann gepflückt werden, wenn sie reif sind und nicht, wenn man gerade Lust darauf hat. Possnigg: „So verändert das Mitleben mit der Natur die Grundhaltung des Menschen, macht ihn geduldiger, ruhiger, lehrt ihn auch, etwas hintanzustellen, was er lieber machen würde als beispielsweise Unkraut zu zupfen, und lehrt ihn, auf etwas zu warten wie auf das Reifen von Obst und Gemüse oder auf die Stunde, in der die Kuh kalbt.“
Wer während des Landlebens auf Zeit auch schwere körperliche Arbeiten erledigt wie Holzfällen oder den Stall ausmisten, der baut besonders schnell besonders viel Stress und etwaige vorhandene Aggressionen ab. Und wer sich noch dazu selbstständig um die Versorgung der Hühner, Schafe oder Kühe auf dem Hof kümmert, der übt sich, so Possnigg, weiters darin, „kontinuierlich da zu sein, Beständigkeit zu zeigen, verantwortungsbewusster zu werden“.

Natur als Taktgeber

Landleben als Therapie, um sich vom Alltagsstress zu erholen, einen Burnout zu verhindern oder zu behandeln – das gibt es seit kurzem unter ärztlicher Aufsicht in einer genau für diese Zwecke errichteten Anlage, dem Kärntner „Almdorf Seinerzeit“. Inspiriert vom traditionellen Leben auf der Alm entstand in der Nähe des Nationalparks Nockberge in 1200 Metern Höhe ein kleines Dorf mit Hütten, Jagdhäusern und Chalets. „Die Häuser im Almdorf bestehen in erster Linie aus Holz und Stein“, berichtet der Allgemein- und Komplementärmediziner, Arbeitsmediziner und Unfallchirurg Dr. Wolfgang Hofmeister, der die erholungssuchenden Gäste des Dorfs medizinisch betreut. Holzbadewannen, offenes Feuer in den Almhütten, ein Dorfteich und lange Spazierwege zu den umliegenden Bauernhöfen – hier fühlt man sich in eine andere, ursprünglichere Welt versetzt, die (noch) dem Rhythmus der Natur gehorcht.

Nach dem Taktgeber Natur sollen die Dorfbewohner auf Zeit wieder in Einklang mit dem eigenen Rhythmus kommen. Die Einfachheit des Almlebens wird hierfür mit einer ärztlichen Betreuung und Behandlung ergänzt. „Die eingehenden Erstgespräche dienen nicht nur der exakten schulmedizinischen Diagnose, sondern auch dem Erkennen des eigenen Lebensrhythmus, sodass ein chronobiologisches Programm erstellt werden kann“, erklärt Hofmeister. Die Chronobiologie, die Lehre von den biologischen Rhythmen, baut etwa auf dem Herzrhythmus auf: „Der lässt sich mit dem EKG und der Ergometrie, der Leistungsdiagnostik, messen“, ergänzt der Arzt. „Ziel ist es, den Atemrhythmus wieder auf den Herzrhythmus abzustimmen. Der Atemrhythmus lässt sich mit verschiedenen Übungen gut beeinflussen.“ Entsprechend erhalten die Gäste (Atem-)Übungen für den Alltag. „Diese Übungen kann man dann zuhause praktizieren, zum Beispiel im Park. Die Bäume dort erinnern einen daran, auch inmitten der Stadt seinem eigenen Rhythmus zu folgen“, so Hofmeis­ter. „Auf diesem Weg holt man sich täglich ein Quäntchen von dem, was man im Urlaub praktiziert hat, in den Alltag.“

Feuer braucht Luft

Welche Probleme des Alltags führen die Besucher in das Almdorf? „Manche haben bereits ein leichtes Burnout“, berichtet Hofmeister. „Andere stellen fest, dass es so nicht mehr weitergehen kann und sie ihr Leben verändern müssen.“ Dass es überhaupt zu Erschöpfung und Ausbrennen, dem Burnout, kommt, erklärt der Mediziner am Beispiel eines Ofens: „Wenn man ständig alles Mögliche in den Ofen hineinstopft, wird er irgendwann nicht mehr brennen.“

Die Lösung des Problems erfahren die Dorfbewohner hautnah, wenn sie in ihrer Hütte einheizen. „Damit das Feuer brennt, braucht es Luft“, berichtet der praktische Arzt. Genau das sollen die Kurzzeitaussteiger (wieder) lernen: sich Luft verschaffen, Pausen einlegen, nichts tun. „Wenn man als Städter plötzlich nichts in Richtung Produktivität unternimmt, sondern nur ganz einfache Dinge tut, wie das Holz für den Ofen herzurichten, um es in der Hütte warm zu haben, hat dies eine starke Auswirkung“, weiß Hofmeister. „Die Leute berichten oft, dass sie sich nach einiger Zeit verändert fühlen.“ Die Veränderung, die jenen widerfährt, die aus dem hektischen (urbanen) Alltag ausgestiegen und in das ruhige Dorfleben eingetaucht sind, kann der Allgemeinmediziner auch messen. „In den ersten zwei Tagen steigen Blutdruck und Puls immer ein wenig an, in den darauffolgenden Tagen sinkt beides deutlich ab.“ Aufgrund der Hö­henadaption verändert sich außerdem das Blutbild. „Anfänglich haben wir ein relatives Sauerstoffdefizit“, berichtet der Arzt. „Nach etwa zwei, drei Wochen haben die Gäste dann Reserven an roten Blutkörperchen, an rotem Blutfarbstoff und Eisen.“

Von Tieren lernen

Nebenbei und zwischendrin lässt sich auch der „Teilzeitfarmer“ DI Gernot Ludescher, Geschäftsführer eines Klagenfurter Unternehmens, vom Rhythmus der Natur lenken. Seine Taktgeber sind u. a. seine Tiere. „Das Tier hat noch nicht die künstliche Getriebenheit, wie sie der Mensch zum Beispiel unter Stress hat, sondern folgt seinen natürlichen Instinkten“, beobachtet der 34-jährige Manager, der seit drei Jahren in Villach einen Land- und Forstbetrieb bewirtschaftet. „Durch das Zusammensein zum Beispiel mit Pferden entwickelt man Ausgeglichenheit, mentale Stärke und Willenskraft anstatt eines hektischen, uneffektiven Aktionismus, bei dem man sich nur auspowert.“ Pferde haben nämlich ein besonders feines Gespür dafür, ob man sicher und willensstark oder eher ängstlich ist. „Wenn man beim Führen der Pferde unsicher ist, setzen sie einfach ihren Willen durch“, so Ludescher.

Seine größten Lehrmeister sind allerdings Schafe, genauer gesagt Brillenschafe, die der Manager in großem Stil züchtet. „Die Tiere sind ungeheuer stressempfindlich“, berichtet er. „Wenn man unruhig oder gestresst ist, reagieren sie mit Blöken und halten sich auf Distanz, weil sie sich mit Stress nicht wohlfühlen.“ Das könnte ein Grund sein, warum bei diesen Tieren bislang kein bösartiger Tumor nachgewiesen werden konnte, das ist allemal Grund genug für den Neobauern, ihr Fleisch zu genießen und es den Tieren in ihrer ruhigen, ausgeglichenen Art gleichzutun. Indem er außerdem viel Zeit in der Natur verbringt, tankt der Manager und Hobbybauer nicht nur Kraft, sondern auch Inspiration. „Dabei bekomme ich neue Ideen, ich bin wesentlich kreativer und leistungsfähiger“, ist Ludescher, für den negativer Stress und Burnout Fremdwörter sind, überzeugt. „Das Landleben mit seinen Herausforderungen relativiert außerdem die beruflichen Probleme als Manager.“

 

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Heilsame Gegenwelt

Negative Auswirkungen von Stress machen freilich auch vor Landwirten oder Menschen, die ihren Alltag auf dem Land verleben, nicht Halt. Und nicht nur das: Univ. Prof. Dr. Sepp Porta, Leiter des Instituts für Angewandte Stressforschung in Bad Radkersburg, verweist im Buch „Stress verstehen – Burnout besiegen“ auf das Paradox, dass just die Erholung des einen das Burnout des anderen auslösen kann. „Wir haben sowohl in einer oststeirischen Gebirgsgegend als auch im südweststeirischen Weingebiet vor und nach der Saison mit CSA-Werten (das sind Werte, die über das Ausmaß der Belastung Auskunft geben, Anm. Red.) die Belastbarkeit von Bauern und Bäuerinnen untersucht, die einen so genannten Urlaub am Bauernhof anbieten.“ Die Mehrarbeit „zehrt dermaßen“, so Porta über die Ergebnisse der Untersuchungen, „dass die Bauersleute zu Saisonschluss schon in Ruhe CSA-Werte haben, als wären sie von einem 5000-Meter-Lauf zurückgekommen.“ Und unter den Winzern der Südoststeiermark seien „regelmäßig wirkliche Burnoutfälle zu finden“.

Dennoch empfiehlt Stressforscher Porta den Urlaub am Land, „weil er – klug genutzt – tatsächlich das Beste bietet, was Urlaub bieten kann. Neues, Aufregendes bei geregeltem und dadurch ritualisierten stressfeindlichen Tagesablauf, wunderbare Umgebung, Gelegenheit zu körperlicher Betätigung und zu gutem Schlaf in guter Luft.“ Und den Landleuten und Landwirten empfiehlt Dr. Günther Possnigg, sich für das Wochenende oder den Urlaub ebenfalls eine Gegenwelt zu ihrem Zuhause zu suchen. „Das kann eine Großstadt sein, wo man eine Zeitlang Stadtluft schnuppert, Ausstellungen besucht, ins Kino geht und einfach alles das macht, was man sonst nie macht, weil es das Angebot zuhause gar nicht gibt.“ Ebenfalls ein möglicher entstressender Gegenpol für Leute am Land und Landwirte: Ein Ort am Meer, wo man das Meeresklima genießt und Dinge tut, die man sonst nie tut, Schwimmen, Tauchen oder Segeln geht, vielleicht auch einmal mit den Fischern hinausfährt.    

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Zurück zur Natur

In der Behandlung Suchtkranker bewährt

In der Behandlung Suchtkranker hat sich das Konzept „Zurück zur Natur“ bereits bestens bewährt, sagt Dr. Karin Pollanka, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie am Anton-Proksch-Institut in Wien. „Wir haben auf dem Areal unseres Instituts einen großen Gartenbereich und bieten unseren Patientinnen und Patienten an, in den Garten zu gehen, schlicht im Gras zu sitzen oder Wanderungen zu machen.“ Wer möchte, kann auch im Garten mitarbeiten, den Rasen mähen, Unkraut zupfen, Pflanzen säen. Pollanka: „Diejenigen unserer Patientinnen und Patienten, die sich zur Therapie in und mit der Natur entschließen, haben den Aufenthalt im Grünen auch schon vor ihrer Erkrankung sehr gemocht. Ihnen ist deswegen auch meist sehr damit geholfen, wenn sie wieder entdecken, wie gut ihnen die Natur tut.“

So wie Gestresste oder Burnout-Gefährdete hätten auch die Suchtkranken den Zugang zu sich selbst verloren, in der Natur würden sie ihn wieder finden. „Die innere Leere wird durch das Erleben der Natur und das Wiederentdecken von intensiven Sinnesempfindungen – wie den Duft der Pflanzen riechen oder die Geräusche der Natur hören – gefüllt“, sagt Pollanka. Die Gartentherapie ist ein Modul des neuen Behandlungskonzepts „Orpheusprogramm“ des Anton-Proksch-Instituts. Es beinhaltet auch philosophische Aktivitäten, Bewegungstherapien, Kreativkurse und ein Kultur- und Freizeitprogramm. Alles kann von stationär, aber auch ambulant behandelten Patientinnen und Patienten in Anspruch genommen werden.
Noch etwas weiter im heilsamen „Zurück zur Natur“-Konzept für Suchtkranke geht der „Grüne Kreis“. Er bietet zur Rehabilitation und Integration suchtkranker Menschen auch Langzeitaufenthalte mit Arbeitseinsatz in therapeutischen Gemeinschaften auf Bauernhöfen an.

Buchtipp

Porta, Hlatky, Stress verstehen – Burnout besiegen, ISBN 978-3-902552-43-3
160 Seiten, € 14,90, Verlagshaus der Ärzte 2009

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