Meilensteine der Medizin

Juli 2018 | Gesellschaft & Familie

Von 1848 bis 1968: Ein Überblick zum Gedenkjahr 2018
 
– Von Mag. Sabine Stehrer

Das Jahr 2018 ist für Österreich ein fünffaches Gedenkjahr: Erinnert wird an das Jahr der Revolution 1848, an die Gründung der Republik 1918, an den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland 1938, die Erklärung der Menschenrechte 1948 und die 68er Bewegung. MEDIZIN populär bietet einen Überblick über Meilensteine der Medizin rund um diese prägenden Jahre und stellt dar, wie es damals jeweils um die ärztliche Versorgung und die Gesundheit der Menschen bestellt war.

1848
JAHR DER REVOLUTION

Im Jahr, als verschiedene Bevölkerungsgruppen, wie etwa Arbeiter, Bauern oder Bürger, mit unterschiedlichen Zielen gegen die Obrigkeiten aufbegehren, haben die Menschen kein langes Leben: Männer werden statistisch betrachtet nur 35,6 Jahre alt, Frauen 38,4. Die niedrigen Werte ergeben sich vor allem aus der damals hohen Säuglings- und Kindersterblichkeit und dem Kindbettfieber, an dem viele Mütter gleich nach der Geburt sterben. Zurückzuführen sind diese Todesfälle meist auf schlechte hygienische Verhältnisse. Die unzulängliche Wasser- und Abwasserversorgung trägt außerdem dazu bei, dass sich Krankheiten wie Cholera, Diphtherie, Pocken – obwohl es dagegen bereits eine Impfung gibt –, Tuberkulose und Typhus sowie die Geschlechtskrankheiten Syphilis und Tripper stark verbreiten und oft zu frühem Tod führen.
Durch Betrachten, Betasten, Beklopfen und Abhorchen mit dem Ohr direkt am Leib der Erkrankten sowie ein Ausschlussverfahren, basierend auf Erkenntnissen, die beim Sezieren von Leichen gewonnen werden, diagnostizieren die Ärzte Krankheiten. Geräte wie das Stethoskop, das Fieberthermometer, das Blutdruckmessgerät oder das Elektrokardiogramm (EKG) zur Analyse der Herzaktionen werden aber bereits im Lauf der folgenden Jahrzehnte bis Ende des 19. Jahrhunderts erfunden – wie auch das nach seinem Erfinder Conrad Wilhelm Röntgen benannte bildgebende Verfahren.
Weltweit ein Vorbild hinsichtlich der Behandlung von Kranken und der Erforschung von Krankheiten ist das 1784 von Kaiser Joseph II. gegründete Wiener Allgemeine Krankenhaus (AKH). Als Ignaz Philipp Semmelweis, Arzt an der dortigen Gebärstation, erkennt, dass die hohe Säuglings- und Müttersterblichkeit auf Krankheitserreger zurückzuführen ist, die von vorher sezierten Leichen über die – ungewaschenen – Hände der Ärzte auf die Mütter und Neugeborenen übertragen werden, führt er 1861 die Verpflichtung ein, vor der Behandlung von Patienten die Hände zu waschen. Einige Jahre später wird ausgehend von Großbritannien auch die Wunddesinfektion zum allgemeinen Standard. Bald arbeiten die Ärzte darüber hinaus mit hitzesterilisierten Instrumenten, in sterilisiertem Gewand und mit sterilen Verbänden. So bessern sich zumindest in der Medizin die hygienischen Verhältnisse.

1918
JAHR DER GRÜNDUNG DER REPUBLIK

Im Jahr, als der Erste Weltkrieg endet, liegt die durchschnittliche Lebenserwartung dank der hygienischen Verbesserungen und medizinischen Neuerungen bereits bei über 40 Jahren: Männer werden 44,8 Jahre alt, Frauen
48,3. Häufige Todesursachen sind nun Kriegsverletzungen und ihre Folgen, weiterhin die Tuberkulose, auf die beispielsweise in Wien 1919 jeder vierte Todesfall zurückgeht, und die Spanische Grippe. Diese wird deshalb so genannt, weil spanische Zeitungen erstmals darüber berichten. Sie wütet bis 1920 und fordert weltweit rund 50 Millionen Todesopfer.
Behandelt werden die Erkrankten oft mit dem noch neuen „Wundermittel“ Aspirin. Es stillt Schmerzen, senkt Fieber
und hemmt Entzündungen. Doch der Wirkstoff Acetylsalicylsäure hat, wie sich herausstellt, auch die Eigenschaft,
Blutungen in der Lunge zu verstärken, an denen die Erkrankten leiden – daher ersticken viele Erkrankte binnen kürzester Zeit am eigenen Blut.

1938
Jahr des „ANSCHLUSSES“ ÖSTERREICHS AN DAS NATIONALSOZIALISTISCHE DEUTSCH
LAND

Im Jahr, als es zum „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland kommt, werden die Menschen vor allem dank der Erfolge bei der Bekämpfung von Kindersterblichkeit über 50 Jahre alt: Männer durchschnittlich 55, Frauen 59. Im Krieg, an Kriegsverbrechen und den Folgen des Krieges, zu denen etwa auch Nahrungs- und Medikamentenmangel zählen, sterben nach Schätzungen weltweit bis zu 80 Millionen Menschen. 
Nicht nur die in den Jahrzehnten davor weltweit vorbildhaft arbeitende Wiener Medizinische Schule, angesiedelt am Wiener AKH, erlebt im Nationalsozialismus einen Niedergang: Durch die Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Ermordung und Selbstmorde jüdischer Ärzte sinkt das Niveau der medizinischen Versorgung an vielen Kliniken – und auch im niedergelassenen Bereich, wo vielfach Praxen jüdischer Ärzte von schlecht ausgebildeten NS-Parteigängern übernommen werden oder verwaisen. Oberstes Ziel der nationalsozialistischen Medizin ist die Gesunderhaltung des „deutschen Volkskörpers“ durch „Rassenhygiene“: Die Vermischung der „arischen Rasse“ mit anderen „Rassen“, vor allem mit Juden, sowie die Weitervererbung von psychischen Erkrankungen und geistigen wie körperlichen Behinderungen soll mit allen Mitteln verhindert werden – bis hin zu Zwangssterilisationen und Ermordungen. Mit dem Tod der Probanden enden oft auch die zahlreichen Menschenversuche, die im Dienst der Volksgesundheit und der Kriegsführung durchgeführt werden. Der Steigerung der Arbeits- und Wehrtüchtigkeit soll die neue Verpflichtung jedes Einzelnen zur Gesundheitsvorsorge dienen: Sport betreiben, sich gesund ernähren sind nun angesagt. Bei Beschwerden wird zur Selbstbehandlung mit naturheilkundlichen Mitteln angeregt. Um die Bevölkerung zu vergrößern und den Verlust von Soldaten wettzumachen, wird zudem alles daran gesetzt, die Geburtenziffer anzuheben. Unter anderem werden Mütter bei der Geburt und Säuglinge besser versorgt, wodurch die Säuglingssterblichkeit zunächst sinkt.

1948
JAHR DER ERLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE

Im Jahr, als noch unter dem Eindruck des Krieges und der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen international der Schutz der Grund- und Menschenrechte erklärt wird, haben Männer eine Lebenserwartung von 62 Jahren, Frauen von 67 Jahren. Häufige Todesursachen sind weiterhin Infektionskrankheiten, allen voran die Tuberkulose. Die Lebensgewohnheiten im Krieg und in den Nachkriegsjahren sowie die Tatsache, dass die Menschen ein höheres Lebensalter erreichen, bringen nun aber auch eine wachsende Zahl von Todesfällen durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs mit sich.
Ärzte bieten nun zunehmend naturheilkundliche Verfahren an, da Patienten diese stärker nachfragen. Behandlungen nach der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) wie die Akupunktur finden auch immer mehr Fans.

1968
Jahr der 68er Bewegung

Im Jahr, als die Jugend gegen den Vietnamkrieg, die politischen Verhältnisse insgesamt und die Generation ihrer Eltern protestiert, werden Männer statistisch betrachtet 66,8 Jahre alt, Frauen 73,5. Häufige Todesursachen sind nun neben Infektionskrankheiten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen und Unfälle.
Mediziner, Juristen und Ethiker an der Harvard Medical School in den USA definieren den Tod neu. Tot ist nun nicht mehr, wer einen Herzstillstand erlitten hat, sondern einen Gehirntod, der dadurch gekennzeichnet ist, dass alle Gehirnfunktionen ausgefallen sind.
In die einst weltweit führende Wiener Medizin kommt nach dem Niedergang im Austrofaschismus und Nationalsozialismus neuer Schwung. Zahlreiche neue Fachgebiete werden begründet. Neue Institute werden errichtet, die Zahl der Professoren wird erhöht, und zwecks fachlichem Austausch zum Wohl der Patienten werden neben den lang bestehenden Wiener Fachgesellschaften auch österreichweit tätige medizinische Fachgesellschaften gegründet.

Meilensteine ab 1848

Aspirin wird als Mittel zum Stillen von Schmerzen entdeckt. Davor wurden für diesen Zweck und zum Betäuben vor Operationen Opium, Morphin, Lachgas, Schwefeläther und Chloroform verwendet.

Medikamente und Impfungen etwa gegen die Tuberkulose, Tetanus, Diphtherie, Cholera und Syphilis werden entwickelt.

Ein Stomatoscop ermöglicht nun die Durchleuchtung des Mundes und eine bessere Behandlung der Zähne, zur Vorbeugung von Karies werden Fluoridpastillen gelutscht.

1869 wird eine neuartige psychische Erkrankung diagnostiziert, die Neurasthenie, eine Nervenschwäche, verursacht durch die „amerikanische Lebensweise“, womit der Alltagsstress in den wachsenden Städten gemeint ist.

Clemens von Pirquet verwendete Tuberkulinbohrer zur Früherkennung von Tuberkulose. Die 1907 entwickelte Methode wird auch als Pirquet-Reaktion oder Tuberkulin-Hauttest bezeichnet.

Der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939) ebnet durch seine Theorien zu den Ursachen für Neurosen der modernen Psychoanalyse ihren Weg: Er meint, psychische Erkrankungen durch Gespräche und Hypnose heilen zu können. Seine Patienten liegen dabei auf der – heute legendären – Couch.

Zur Behandlung von seelischen wie körperlichen Beschwerden erfreut sich aber auch die Naturheilkunde steigender Beliebtheit: Luftbäder, Luftwasserbäder, Hunger- und Durstkuren, Kälte- und Wärmeanwendungen sind „in“.

Josef Skoda (1805-1865) ist bekannt für die heutige Technik des Abhorchens mit einem Stethoskop.

Ignaz Semmelweis (1818-1865): Krug und Waschschüssel zum Händewaschen aus der Frauenklinik, 1840er Jahre

1900 werden erstmals Frauen zum Medizin- und Pharmaziestudium zugelassen.

1901 entdeckt der österreichische Mediziner und spätere Nobelpreisträger Karl Landsteiner (1868-1943) die Blutgruppen, wodurch eine Reduktion von Komplikationen bei Bluttransfusionen und neue Operationstechniken möglich werden.
Etwa zeitgleich werden Allergien und deren Ursache erkannt.

In den vier Kriegsjahren ab 1914 verlieren viele Soldaten und Zivilpersonen Gliedmaßen. Mit dem Ziel, sie wieder arbeitsfähig zu machen, werden immer bessere Prothesen hergestellt, die etwa bereits das Greifen von Gegenständen möglich machen.

Insulin wird entwickelt, wodurch Diabetiker ab den 1920er Jahren erfolgreich behandelt werden können. Davor half nur eine Hungerdiät, den Tod durch Überzuckerung hinauszuzögern. Wer diese Diät strikt einhielt, riskierte über kurz oder lang den Tod an Unterernährung.

Der schottische Bakteriologe und Mediziner Alexander Fleming (1881-1955) entdeckt das Penicillin – verfügbar ist das Antibiotikum allerdings erst ab den 1940er Jahren. 1935 wird die antibakterielle Wirkung von Sulfonamiden entdeckt – wodurch bakteriell verursachte Lungenentzündungen, Hirnhautentzündungen, Harnwegsinfektionen, Geschlechts- und andere Erkrankungen heilbar werden.

Guido Holzknecht (1872-1931), Röntgenologe in Wien, entwickelt eine Messskala zur Bestimmung
der Menge der abgegebenen Röntgenstrahlung.

Die Dialyse, Blutwäsche, zur Behandlung von Nierenerkrankten wird eingeführt.

Mit der Elektroenzephalografie (EEG) kann die Gehirnaktivität untersucht werden.

Mit dem Elektronenmikroskop werden erstmals Viren nachgewiesen.

Der Wiener Chirurg Lorenz Böhler (1855-1973) entwickelt bis heute geltende Methoden der Behandlung von Knochenbrüchen.

Vitamin C wird zur Stärkung der Abwehrkräfte entdeckt, Lebertran, das Fischöl mit Vitamin D, kommt als Mittel gegen Rachitis zum Einsatz, an der viele Kinder sterben.

Altes Allgemeines Krankenhaus (heute Campus Wien), eröffnet 1784. Die weltweit vorbildhaft wirkende Wiener Medizinische Schule ist hier angesiedelt.

Die Behandlung von Krebskranken wandelt sich: 1942 wird in den USA der erste Patient mit einer Chemotherapie behandelt, die aus dem deutschen Kampfstoff „Senfgas“ entwickelt wurde. Unter dem Motto „Stahl und Strahl“ beginnt man außerdem, die Operation von Tumoren mit dem Messer durch eine Strahlentherapie zu ergänzen.

Wichtige Impfungen werden entwickelt und eingeführt, wie jene gegen Kinderlähmung, Masern oder Mumps.

Die chemische Grundstruktur des menschlichen Erbgutes, der DNA, wird entschlüsselt.
Damit ist der Grundstein für die moderne Genetik gelegt.

Ein neues bildgebendes Verfahren, die Sonografie, Ultraschall, wird zunächst vor allem in der Frauenheilkunde und Geburtshilfe eingesetzt – vorrangig zum Messen des Kopfes des Kindes im Mutterleib.

Erstmals werden ein Herzschrittmacher, eine Kunstlinse und ein Zahn implantiert.

Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard transplantiert erstmals längerfristig erfolgreich ein Herz, auch eine Niere wird nun erfolgreich transplantiert. Beides wird durch die neu entdeckten Immunsuppressiva möglich, die eine Abstoßung des Spenderorgans verhindern.

Kortison wird als Mittel gegen Arthritis entdeckt, Valium als Beruhigungs- und Schlafmittel, ein erstes Antidepressivum wird eingesetzt und öffnet der modernen Psychopharmakologie ihren Weg.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO wird gegründet und widmet sich zunächst der Bekämpfung
von Seuchen.

Die Antibabypille kommt auf den Markt.

Zur Behandlung von Blutkrebspatienten wird erstmals Knochenmark transplantiert.

Neben dem Röntgen und dem Ultraschall sind nun weitere bildgebende Verfahren möglich:
Die Magnetresonanztomografie und die Computertomografie dienen der – immer besser aufgelösten – Untersuchung des Körperinneren.

Ab 1967 leitet Herzchirurg Jan Navratil an der Medizinischen Universitätsklinik Wien die Entwicklung von Pumpen als Ersatz für das Herz ein, was in den folgenden Jahrzehnten über das „Ellipsoidherz“ zum „Neuen Wiener Kunstherz“ führt.

 
 

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