SOS der Seele

Juni 2013 | Psyche & Beziehung

So schlägt die Psyche Alarm
 
Von Angststörungen bis Depressionen, von Burn-out bis Sucht: Psychische Leiden sind weiterhin stark auf dem Vormarsch. Experten führen die dramatische Entwicklung auf die Überforderungen und Überlastungen des modernen Lebens zurück. Wenn die Seele nicht mehr mithalten kann, funkt sie SOS – z. B. mit Gereiztheit, Erschöpfung, Antriebslosigkeit, aber auch mit körperlichen Beschwerden wie Schmerzen oder Atemnot. Psychische Erkrankungen können sich auf vielfältige Art und Weise äußern. Nicht zuletzt deshalb werden sie oft viel zu spät erkannt und behandelt. MEDIZIN populär über die wichtigsten Alarmsignale der Seele.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer & Mag. Karin Kirschbichler

Er war der friedfertigste Mann, den man sich vorstellen kann; nichts brachte ihn aus der Ruhe, nichts konnte seine Geduld erschüttern. Jetzt ist plötzlich alles anders: Bei jeder Kleinigkeit verliert er die Nerven, schon bei nichtigen Anlässen gerät er in Rage, wird er aggressiv.
Sie hat immer alles mit links geschafft. Karriere, Kinder, Küche – sie hatte das Trio im Griff. Jetzt geht plötzlich gar nichts mehr. Alles überfordert sie, schon das Aufstehen in der Früh ist eine Überwindung, jede alltägliche Aufgabe eine schwere Last auf ihren Schultern.
Für Psychiater und Psychologen sind Verhaltensveränderungen die deutlichsten Alarmsignale der Seele. „Jede auffällige Veränderung eines Menschen in den Bereichen Denken, Fühlen, Wollen ist verdächtig“, bringt es der Psychiater Prim. Dr. Georg Psota, Chefarzt der Psychosozialen Dienste (PSD) Wien, auf den Punkt. Wie genau dieser Wandel ausfällt, ist individuell verschieden. Das Spektrum reicht von plötzlicher Gereiztheit und Aggressivität, Konzentrations- und Merkschwierigkeiten, über Freud- oder Lustlosigkeit, Schwarzmalerei bis hin zu Erschöpfung, Antriebslosigkeit und sozialem Rückzug.
Oft gehen die Verhaltensveränderungen mit körperlichen Problemen Hand in Hand. Öfter als man denkt, sind Schmerzen, Atemnot & Co sogar die ersten und einzigen Signale, mit denen die Psyche SOS funkt: „20 bis 30 Prozent aller Patienten, die die Praxis von Allgemeinmedizinern oder Fachärzten oder allgemeine Krankenhäuser aufsuchen, leiden an körperlichen Beschwerden, ohne dass ein entsprechender organischer Befund erhoben werden kann“, berichtet Prim. Dr. Manfred Stelzig, Leiter des Departments für psychosomatische Medizin der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Salzburg sowie Autor des kürzlich erschienenen Buches „Krank ohne Befund“ (siehe Tipp). In vielen Fällen sind es Schmerzen, die die Betreffenden zum Arzt führen; rund ein Drittel geht schließlich mit den Beschwerden wieder nach Hause, mit der Versicherung, dass organisch alles in Ordnung sei. Die zugrundeliegende psychische Störung bleibt unerkannt – und unbehandelt.

Seelenpein und Körperschmerz

Und das, obwohl psychische Erkrankungen weiterhin stark auf dem Vormarsch sind. Einer aktuellen Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge zählen Depressionen in unseren Breiten gleich nach Herzkreislauf-Erkrankungen zu den häufigsten und folgenschwersten Erkrankungen; gleich danach folgen Sucht- und Demenzerkrankungen. Spätestens 2030, so die düstere Prognose, sollen Depressionen die Liste sogar anführen.
„Die Gesamtbelastung der Menschen nimmt zu“, nennt Manfred Stelzig den wichtigsten Grund für den dramatischen Anstieg bei psychischen Leiden. „Das betrifft nicht nur die Arbeitsbelastung, sondern die Summe von allem, was man sich den ganzen Tag über aufhalst. Die Menschen neigen zunehmend dazu, mehr und immer mehr von sich selbst zu fordern.“
Eine wichtige Rolle spielen die rasanten technischen Entwicklungen, mit denen wir – vergeblich – versuchen, Schritt zu halten. Das Dauerfeuer von Reizen, das auf uns einprasselt, setzt uns gleichsam unter Strom. „Ständige Erreichbarkeit, aber auch die permanente Reizüberflutung während der Freizeit führen dazu, dass der Sympathikus genannte Teil des vegetativen Nervensystems zu permanenten Reaktionen verleitet wird“, veranschaulicht Stelzig. „Es kommt zu Überforderungssymptomen, zu Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche.“ Uns fehlen die entsprechenden Verarbeitungsmechanismen für die vielen neuen Reize – das stresst. „Der Körper reagiert auf Stress mit einer vermehrten Ausschüttung der Neurotransmitter – das sind vor allem Serotonin, Nordrenalin, Dopamin. Wird die Belastung verstärkt, so wird außerdem vermehrt das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet.“ Schließlich gelangt man in einen Erschöpfungszustand, da insbesondere Serotonin und Nordrenalin ausgelaugt sind. Das verursacht unter anderem Schmerzen. Und so wird aufgrund komplexer Abläufe im Gehirn die Seelenpein (auch) körperlich.
Stress aufgrund eines unbewältigten Konflikts, eines schweren Verlusts oder Traumas tarnt sich dann z. B. als wiederkehrender Rückenschmerz. Einige psychische Leiden wie z. B. Depressionen treten besonders oft maskiert auf. „Auch bei der posttraumatischen Belastungsstörung sind verschiedene organische Symptome wie Herzrasen, Kopfschmerzen, Unterbauch- und Magenschmerzen häufig“, sagt Stelzig. Angststörungen wiederum sind vielfach mit einem Druck auf der Brust oder einem Schwindelgefühl verknüpft.

Von heute auf morgen

Treffen kann eine psychische Erkrankung prinzipiell jede und jeden. Wie rasch das Schicksal zuschlägt, „ist von Mensch zu Mensch und insbesondere von Erkrankung zu Erkrankung extrem unterschiedlich“, erklärt Georg Psota. „Es kann sehr plötzlich innerhalb weniger Wochen oder sogar weniger Tage geschehen, oder die Störung entwickelt sich über eine lange Zeit von Monaten und Jahren.“ Ob es sich um das Einschleichen einer Demenzerkrankung handelt oder um urplötzlich auftretende, heftige Angstattacken – wie bei organischen Krankheiten braucht es auch eine Veranlagung, eine Disposition, für das Auftreten der Seelenpein. Meist bringt ein zusätzlicher Faktor die Erkrankung zum Ausbruch: „Auslöser sind häufig rasche Veränderungen, Verluste oder Kränkungen“, sagt Psota. Das Ende einer Liebesbeziehung, der Tod eines nahestehenden Menschen, Jobverlust, aber auch Drogenmissbrauch und körperliche Erkrankungen können die seelischen Probleme verursachen. „Gerade nach einem Herzinfarkt oder Schlaganfall kommt es sehr oft zu einer Begleitdepression, die mitbehandelt werden muss“, gibt Psota ein Beispiel.

Abgewertet und ausgestoßen

Zusätzlich leiden die Erkrankten an dem Stigma, das psychischen Leiden immer noch anhaftet. „Körperlich krank zu sein, ist gesellschaftlich akzeptiert; seelisch belastet zu sein, unter Stress zu leiden, ist ebenfalls anerkannt. Jedoch seelisch so zu leiden, dass sich eine seelische oder körperliche Erkrankung entwickelt, das ist nicht nur nicht anerkannt, sondern ist stigmatisiert, wird abgewertet, löst Angst aus und wird mit Ausstoßungstendenzen in der Gesellschaft bestraft“, betont Manfred Stelzig. „Man könnte Stigma als zusätzlichen Risikofaktor, ja fast als krankmachenden Faktor bezeichnen, das letztlich auch Verlauf und Prognose einer Erkrankung erschwert“, ergänzt Georg Psota. „Es führt dazu, dass Menschen später und verunsichert in Behandlung kommen und diese eher abbrechen.“
Neben den Betroffenen sind auch die Angehörigen durch die Erkrankung ge- und mitunter überfordert: Manchmal sind sie die ersten, denen Veränderungen auffallen – aber wie damit richtig umgehen? „Zu sagen: ,Reiß dich zusammen‘, ist vielleicht bei Faulheit ein guter Tipp, bei Depression und Antriebsstörung ist das hingegen ganz schlecht und verkehrt“, gibt Georg Psota ein Beispiel. Er rät, „einen offenen und nicht wertenden Umgang zu wählen und darüber zu sprechen“. Zur Sprache bringe man das Thema am besten mit Sätzen wie: „Mir ist aufgefallen, dass du dich verändert hast“, „Das macht mir Sorgen“, „Ich möchte dir dabei helfen, etwas dagegen zu unternehmen“, „Ich möchte, dass du etwas dagegen unternimmst“.

Lücken im Gesundheitssystem

Bis tatsächlich etwas gegen die Seelenpein unternommen wird, vergeht in der Regel viel Zeit. Tritt die psychische Erkrankung in der Maske von körperlichen Beschwerden auf, so dauert es durchschnittlich sogar sieben Jahre, bis überhaupt eine Diagnose gestellt wird. „Es ist aber wichtig, dass möglichst rasch die Weichen gestellt und schon beim Erstgespräch mit dem Arzt auch psychische Ursachen in Betracht gezogen werden. Ansonsten absolviert der Patient einen Untersuchungsmarathon, in dem man organische Krankheiten ausschließt ohne zu erkennen, woran es eigentlich hakt“, betont Manfred Stelzig und kritisiert im selben Atemzug die Lücken im österreichischen Gesundheitssystem: „Die Gesprächsmedizin kommt bei uns viel zu kurz. Ein Arzt darf für ein zehnminütiges Gespräch 13 Euro verrechnen, mit psychosomatischer Zusatzausbildung für 20 Minuten 18 Euro“, nennt Stelzig die Bedingungen, unter denen Ärzte die vielfältigen Alarmsignale der Seele aufspüren sollten. Den Patienten wiederum mute man zu, „zwei, drei Monate auf einen Termin bei einem Psychiater mit Kassenvertrag warten zu müssen. Wer eine Psychotherapie machen möchte, hat einen hohen Selbstbehalt. Wir brauchen dringend leistbare Behandlungen“, fordert der Arzt.

Schließlich erfordert gerade eine psychische Störung rasches (Be)Handeln. Wird sie nicht rechtzeitig therapiert, besteht – wie bei einer organischen Krankheit auch – die Gefahr, dass sie chronisch wird. „Dann ist sie viel schwerer zu behandeln“, betont Psychiater Stelzig. „Dann kommt es unter Umständen zu einer derart massiven Störung, dass es nicht mehr möglich ist, die Betroffenen wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. In Österreich sind psychische Erkrankungen mittlerweile die Hauptursache für eine Berufsunfähigkeitspension.“

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Die fünf wichtigsten Alarmsignale der Seele

Schlafstörungen: „Ich komme nicht zur Ruhe“

Ob Ein- oder Durchschlafprobleme oder auch ein Zuviel an Schlaf – Schlafstörungen sind die wichtigsten Begleiterscheinungen psychischer Störungen. „Es gibt kaum eine psychische Erkrankung, die nicht mit Veränderungen des Schlafes einhergeht“, weiß Prim. Dr. Georg Psota, Facharzt für Psychiatrie in Wien. Dazu zählen u. a. Depression, Manie, Alkoholismus und Angsterkrankung.

Konzentrationsstörungen: „Mein Hirn funktioniert nicht mehr“

Konzentrationsstörungen führen dazu, dass Menschen das Gefühl haben, das Hirn funktioniert nicht mehr. Sie sind geplagt von der Sorge, zu verblöden oder an Alzheimer zu erkranken“, beschreibt der Salzburger Psychiater Prim. Dr. Manfred Stelzig das Problem. Hinter den Beschwerden muss nicht automatisch eine Demenzerkrankung stecken; auch eine Angststörung oder eine schwere Depression kann dazu führen, dass man sich schlecht konzentrieren oder nur schwer etwas merken kann.

Antriebslosigkeit & Erschöpfung: „Ich kann nicht mehr“

Vor einem halben Jahr noch konnte man Bäume ausreißen – und heute schafft man es in der Früh mit Müh und Not aus dem Bett: „Antriebslosigkeit, Erschöpfung und das Gefühl, den Alltag körperlich nicht mehr zu bewältigen, sind ebenfalls wichtige Alarmsignale“, sagt Stelzig. Fehlender Antrieb tritt z. B. im Rahmen einer Depression oder eines Burn-out­Syndroms auf.

Schmerzen: „Mir tut der Rücken so weh“

Schmerzen am Bewegungs- und Stützapparat, aber auch Kopfschmerzen sind besonders häufige Warnzeichen der Psyche“, so Stelzig. „Oft kommt es auch zu Schmerzen etwa im Magen-Darm-Bereich oder im Kiefergelenk.“ Die „Organwahl“ hat nicht selten mit dem zugrundeliegenden Problem zu tun, „wie es der Volksmund gut zu benennen vermag“, so Stelzig: Man ist geknickt, etwas lastet auf den Schultern, man muss die Zähne zusammenbeißen, es dreht einem den Magen um. Wo die Schmerzen auch sitzen, sie sind häufige Begleiterscheinungen z. B. von Depressionen und Angststörungen.

Atem- & Herzprobleme:  „Mein Herz rast“, „Ich krieg’ keine Luft“

Das Herz rast, vielleicht sticht oder drückt es auch. Oder man hat das Gefühl, man bekommt keine Luft oder eine Riesenlast drückt auf den Brustkorb“, beschreibt Manfred Stelzig die bedrohlichen Symptome, die beispielsweise eine Angststörung begleiten können.

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Wie geht es mir?

Vorübergehendes Unwohlsein oder womöglich der Beginn einer psychischen Krankheit? So wie ein regelmäßiges körperliches Check-up empfiehlt sich Innehalten für eine Inventur der seelischen Befindlichkeit.
Nachfolgende Fragen, zusammengestellt von DDr. Adelheid Gassner-Briem, Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie und Psychotherapeutin in Feldkirch, helfen dabei:

  • Fühle ich mich wohl?
  • Habe ich mich verändert?
  • Gibt es eine Erklärung für die Veränderung?
  • Fällt die Veränderung auch anderen deutlich auf?
  • Hält die Veränderung schon länger als drei Monate an?
  • Ist mir zurzeit alles im Leben egal?
  • Leide ich unter körperlichen Beschwerden?
  • Bin ich oft krank?
  • Ist mein Schlaf gestört, schlafe ich zu wenig oder zu viel?
  • Fühle ich mich oft ungeduldig, aggressiv, gereizt, intolerant?
  • Fällt es mir schwerer als früher, meine täglichen Aufgaben zu erfüllen?
  • Mache ich mir immer Sorgen im Alltag und über die Zukunft?
  • Habe ich viel Angst?
  • Habe ich Selbstmordgedanken?
  • Bin ich oft einsam?
  • Habe ich Freunde, Menschen, mit denen ich über meine Probleme sprechen kann?
  • Helfen Gespräche mit Freunden nicht mehr?


Buchtipps:

Stelzig,
Krank ohne Befund
ISBN 978-3-7110-0028-6
256 Seiten, € 21,90
Ecowin Verlag

Porta, Hlatky,
Stress verstehen – Burnout besiegen
ISBN 978-3-902552-43-3
160 Seiten, € 14,90
Verlagshaus der Ärzte

Stand 06/2013

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