Antidepressiva

November 2009 | Medizin & Trends

Doping für unsere Leistungsgesellschaft?
 
Im vergangenen Jahr wurden in den heimischen Arztpraxen 5.344.685 Rezepte für Antidepressiva ausgestellt. Das sind um fast 70 Prozent mehr als im Jahr 2000. Wird Österreich ein Land der Depressiven? Sind längere Krisen- und Trauerphasen heute nicht mehr drin? Hat der steigende Medikamentenkonsum vielleicht auch damit zu tun, dass es in unserer Leistungsgesellschaft stets funktionierende Menschen braucht? Fragen wie diese hat MEDIZIN populär-Chefredakteurin Mag. Karin Kirschbichler mit Univ. Prof. Dr. Michael Musalek, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, diskutiert.

MEDIZIN populär
Angenommen, ein Mann, der um seine verstorbene Frau trauert, kommt zu Ihnen in die Praxis, weil sich seine Kinder Sorgen machen, dass er an der Trauer zerbrechen könnte. Würden Sie ihm Antidepressiva verschreiben? Anders gefragt: Sind längere Krisen- und Trauerphasen heute nicht mehr drin? Und ist Trauer überhaupt behandlungsbedürftig?

Univ. Prof. Dr. Michael Musalek
Trauer ist sicher keine Krankheit, sondern eine ganz normale menschliche Regung, die wir natürlich möglichst vermeiden wollen, weil sie nicht angenehm ist, aber die einfach zum Leben gehört. Nach dem Verlust eines Menschen ist eine entsprechende Trauerphase ganz wesentlich, um frei für Neues zu werden. Davon abgrenzen muss man die so genannte verlängerte Trauerreaktion, die nichts anderes ist als ein Übergang von der Trauer in einen wirklich depressiven Zustand. An diesem Übergang ist eine Behandlung sinnvoll und notwendig. Aber Trauer selbst ist etwas, dem man im freundschaftlichen Gespräch begegnen sollte und nicht mit therapeutischen Maßnahmen.

Wann ist der Übergang zur Depression erreicht?

Wenn es zu einer Symptomverschiebung kommt. Trauer und Traurigsein sind für eine Depression untypisch, die wenigsten Depressiven sind traurig. Wenn der erlittene Verlust aber die Lebensgestaltung beeinträchtigt, man über Monate quasi nichts anderes tun kann als sich damit auseinanderzusetzen und alle anderen Lebensbereiche völlig vernachlässigt, dann sollte man an eine Depression denken und entsprechend handeln und behandeln.

Antidepressiva helfen in vielen Fällen schon in kurzer Zeit aus dem seelischen Tief, die meisten Präparate wirken stimmungsaufhellend. Braucht unsere Leistungsgesellschaft, in der Menschen stets gut drauf sein und funktionieren sollen, Antidepressiva sozusagen als Dopingmittel?

Der Leistungsdruck ist natürlich heute enorm und führt bei vielen zu einer völligen Einengung auf die Leistung. Das heißt, Leistung ist für viele nicht nur etwas, das sie erbringen müssen, sondern wird zu ihrem einzigen Lebensziel und lässt alle anderen Werte in den Hintergrund treten. Das führt in der Regel auch dazu, dass man sich keine Regenerationsphasen mehr zubilligt und irgendwann in ein Burnout-Syndrom schlittert. Das ist eine hochproblematische Situation.

Über die ein Antidepressivum hinweghelfen kann?

Nur dann, wenn beim Betroffenen auch depressive Zeichen vorhanden sind. Antidepressiva wirken nur, wenn tatsächlich eine Depression vorliegt, wenn also die für die Krankheit bezeichnenden Gehirnstoffwechselstörungen gegeben sind. Antidepressiva können in diese Störung eingreifen, so einen Depressiven gesund und somit wieder arbeits- und leistungsfähig machen. So wie ein Gipsverband dabei hilft, ein verletztes Bein zu heilen, oder Antibiotika gegen eine Entzündung wirken und so dazu führen, dass der Betroffene wieder rasch an seinem Arbeitsplatz tätig werden kann. Da würden Sie doch auch nicht von Doping sprechen.

Das heißt, Antidepressiva können die Stimmung nur dann aufhellen, wenn sie durch eine Depression getrübt ist?

Genau. Die Sache mit der Glückspille ist eine reine Mär. Wenn Sie keine Depression haben, dann bewirken Antidepressiva gar nichts. Um Glücksgefühle auszulösen und die Leistungsfähigkeit zu steigern, gibt es andere Substanzen, die leider zur Genüge eingesetzt werden. Allen voran Alkohol, der in geringen Mengen euphorisierend wirkt, in höheren Dosen aber rasch in einen gefährlichen Teufelskreis führt. Eine besondere Form des Dopings, über die viel zu wenig gesprochen wird, sind Schlafmittel. Viele können aus Überforderung nicht mehr schlafen und führen den Schlaf eben ständig künstlich herbei. Und dann gibt es noch die Gruppe der Psychostimulanzien wie Amphetamine oder Kokain. Interessanterweise wirken diese Substanzen bei Depressionen überhaupt nicht.

Die Zahl der Verordnungen von Antidepressiva ist laut Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherungsträger in Österreichs Arztpraxen seit dem Jahr 2000 um fast 70 Prozent gestiegen. Wie erklären Sie sich dann diesen Anstieg? Wird Österreich ein Land der Depressiven?

Nun, wir wissen nicht genau, ob es einen realen Anstieg an Depressionen in Österreich gibt. Tatsache ist, dass die Zahl der diagnostizierten Depressionen zunimmt. Und das ist ein sehr gutes Zeichen. Denn es bedeutet, dass offensichtlich dadurch, dass die Depression heute mehr ins Gespräch kommt, die Chance größer ist, dass die Krankheit bei Betroffenen erkannt und behandelt wird. Auch der zweite Grund für den Anstieg der verordneten Antidepressiva ist letztlich ein positiver. Es sind die Antidepressiva selbst, hocheffektive, nebenwirkungsarme Präparate, mit denen man heute die Depression tatsächlich behandeln kann, während man sie früher oft mit Tranquillizern nur zugedeckt hat. Dadurch werden sie natürlich häufiger verschrieben. Dennoch müssen wir damit rechnen, dass immer noch nur 20 bis maximal 30 Prozent aller Depressionen als solche erkannt und behandelt werden.

Wenn man davon ausgeht, dass mit 5.344.685 Verordnungen von Antidepressiva nur 20 Prozent der Depressiven versorgt werden – muss man dann nicht doch von einer depressiven Gesellschaft sprechen?

Die Depression ist einfach insgesamt eine sehr häufige Erkrankung. Dazu muss man bedenken, dass der Begriff „depressiv“ in der Umgangssprache inzwischen fast inflationär für einen Zustand verwendet wird, der mit der Depression als Krankheit rein gar nichts zu tun hat. Wenn wir sagen: „Ich bin heut’ so depressiv!“, dann meinen wir, dass wir traurig sind, dass wir ein Problem haben oder ähnliches. Die Depression hingegen zeigt sich am so genannten Losigkeits-Sydrom, an Interesselosigkeit, Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Perspektivelosigkeit etc. Leider sehen das heute viele Menschen als Versagen und nicht als Krankheit. Aber auch aus anderen Gründen werden Depressionen heute immer noch nicht erkannt. So zum Beispiel jene, die sich hinter körperlichen Symptomatiken verstecken und als körperliche Leiden behandelt werden. Und so müssen wir sicher damit rechnen, dass ein Großteil der Depressionen immer noch nicht therapiert wird.

Bei den Antidepressiva hat sich in den letzten 20, 30 Jahren viel getan. Worin sehen Sie die Vorteile gegenüber den Medikamenten von früher?

Der große Vorteil ist ihr hervorragendes Wirkprofil. Die modernen Antidepressiva sind gut verträglich und können – im Unterschied zu Tranquillizern – nicht süchtig machen. Die Vielzahl an Nebenwirkungen bei den quasi klassischen Antidepressiva haben ja dazu geführt, dass diese – obwohl sie auch schon hervorragend gewirkt haben – nicht so oft verschrieben wurden. Stattdessen hat man eher Tranquillizer gegeben, die angstlösend und entspannend wirken, mit denen man aber die Depression selbst nicht behandeln kann. Dass es jetzt Substanzen gibt, die eine gute Wirkungsentfaltung aber ein niedriges Nebenwirkungspotenzial haben – ist ein ganz großer Vorteil, sowohl für die Patienten als auch für die verschreibenden Ärzte.

Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von unterschiedlichen Antidepressiva …

… was ein weiterer großer Vorteil ist. Wir verfügen heute über eine breite Palette von Antidepressiva mit unterschiedlichen Wirkmechanismen. Denn leider sprechen manche Patienten auf manche Medikamente einfach nicht an. Zum Unterschied von früher haben wir für diese Fälle heute Alternativen. Wir können auf ein zweites, drittes, viertes Medikament umstellen und haben so eine hohe Wahrscheinlichkeit, eines zu finden, das tatsächlich hilft. Früher gab es diese Möglichkeit nicht.

Antidepressiva geraten immer wieder in Verruf, ihre Wirkung vor allem bei Menschen unter 25 komplett zu verfehlen und sogar die Wahrscheinlichkeit eines Suizids zu erhöhen. Was ist dran?

Nichts. Natürlich begehen mehr Menschen einen Suizid, die Antidepressiva nehmen, als jene, die das nicht tun. Das hängt aber schlicht und einfach damit zusammen, dass diese Menschen eine Depression haben. Das ist das eine. Das zweite ist, dass beim Wirkeintritt des Antidepressivums in fast allen Fällen zuerst der Antrieb verbessert wird und dann erst die Stimmung. Das heißt: Der bei Depressiven reduzierte Antrieb kann letztlich auch dazu führen, dass man keinen Suizid begeht, weil man nicht einmal dazu einen Antrieb hat. Wenn nun im Zuge der Behandlung der Antrieb zurückkommt, die Stimmung aber noch nachhängt, so kann es zu einem Suizid oder Suizidversuch kommen. Das ist leider ein bekanntes Phänomen, und dem muss in der Therapie durch Aufklärung und entsprechende Maßnahmen Rechnung getragen werden. Aber Antidepressiva, die die Suizidgefahr erhöhen – auch das ist eine Mär!

Ein Blick in die Zukunft: In welche Richtung wird derzeit geforscht, um die medikamentöse Behandlung von Depressionen weiter zu verbessern?

Es werden zwei Strategien verfolgt: Zum einen will man für Substanzen, die bereits in der Praxis eingesetzt werden, eine noch bessere Verträglichkeit erreichen. Zum anderen – und das ist sehr erfolgversprechend – forscht man in Richtung neuer Wirkmechanismen, um eine noch breitere Palette zur Verfügung zu stellen. Und das ist von großer Bedeutung für die Betroffenen.


Buchtipp:

Müller, Depression. Erkennen – behandeln – damit leben
ISBN 978-3-902552-50-1ca. 144 Seiten, € 14,90, Verlagshaus der Ärzte

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