Bulimie

Juni 2009 | Medizin & Trends

Das Leiden im Verborgenen
 
Für MEDIZIN populär erklärt Univ. Prof. Dr. Ursula Bailer, Leiterin der Spezialambulanz für Essstörungen am Wiener AKH, was die Ursachen für Bulimie sind, welche Folgekrankheiten auftreten können, was man tun sollte, wenn man bemerkt, dass jemand bulimisch ist, und welche Therapien helfen.
 
von Mag. Sabine Stehrer

Bulimie,wie die Ess-Brechsucht in der Fachsprache heißt, ist eine Krankheit der Mädchen und jungen Frauen: Ein bis drei Prozent der 15- bis 35-Jährigen leiden daran. Selten, aber doch sind auch Männer betroffen. Die Zahl der Neuerkrankungen steigt von Jahr zu Jahr an. Warum das so ist, wisse man nicht, sagt Univ. Prof. Dr. Ursula Bailer, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Klinischen Abteilung für Biologische Psychiatrie der Medizinischen Universität Wien sowie Leiterin der Spezialambulanz für Essstörungen am AKH. „Die Hintergründe sind vielfältig, möglicherweise scheinen auch mehr Bulimikerinnen in den Statistiken auf, weil die Betroffenen von heute eher als ihre Vorgängerinnen Hilfe suchen.“ Woher das Leiden kommt? Bailer: „Es kommt nicht aus dem Nichts.“

Am Anfang stehen ein vermindertes Selbstwertgefühl und eine Körperwahrnehmungsstörung: Auch wenn die Mädchen und jungen Frauen normalgewichtig sind: Sie haben das Gefühl, viel zu dick zu sein und machen eine Diät, aus der sie oft nicht mehr herauskommen. Anfällig für Bulimie ist zudem, wer sich selbst negativ bewertet, besonders impulsiv ist, an einer Angststörung oder Sozialphobie leidet, Depressionen hat und/oder in der Kindheit unter gewalttätigen Übergriffen seitens der Eltern litt bzw. sexuellen Missbrauch erlebte. Auch Übergewicht in der Kindheit und Übergewicht der Eltern gelten als Risikofaktoren.

Gefühl des Versagens
Wann wird das Essen und Erbrechen zur Sucht? „Als an Bulimie erkrankt gilt jemand, der öfter als zweimal in der Woche und länger als drei Monate Essanfälle hat und anschließend der möglichen Gewichtszunahme entgegenwirkt, zum Beispiel durch absichtliches Erbrechen“, sagt Bailer.

„Bulimiker nehmen sich vor, den ganzen Tag über so wenig wie möglich zu essen und tun das auch, aber abends werden anfallsartig Lebensmittel hineingestopft.“ Kalorienreiches wie Schokolade oder fette Burger bringen kurz ein Gefühl der Entspannung, auf das aber schnell das Gefühl des Versagens folge. Um dieses Gefühl loszuwerden, werde erbrochen. Bailer: „Um den Würgereflex hervorzurufen, stecken sich die Betroffenen den Finger in den Hals, manche nehmen einen Kochlöffel zu Hilfe.“ Viele machen das nicht nur einmal am Tag, sondern bis zu zehn oder 15 Mal. Um möglichst viel der aufgenommenen Nahrung wieder loszuwerden und Gewicht zu verlieren, werde aber nicht nur erbrochen. „Die meisten nehmen auch Abführ- und Entwässerungsmittel zu sich, essen 24 und mehr Stunden nichts, betreiben exzessiv Sport und joggen so lang, bis sie die aufgenommenen Kalorien wieder abgebaut haben.“

Untrügliche Zeichen der Sucht

Je nachdem, wie oft erbrochen wird, hinterlässt die Bulimie über kurz oder lang ihre Spuren am Körper. Wie das nach dem Entdecker benannte „Russel sign“, eine Hornhautbildung am Zeigefinger, dort, wo er beim Auslösen des Würgereflexes an die Unterkante der oberen Schneidezähne stößt. Hinzu kommen Risse in den Mundwinkeln und kariöse Zähne, beides Folgen des häufigen Kontakts mit der Magensäure. Ebenfalls durch das wiederkehrende Erbrechen schwillt die Speicheldrüse an. Das führt dazu, dass die Betroffenen aussehen, als hätten sie Mumps. Durch den hohen Druck, der durch das Erbrechen im Kopf entsteht, kann es auch zu Blutungen im Mund und Rachenraum kommen. Andere Begleiterscheinungen der Sucht sind Müdigkeit, Schwindelgefühle, Konzentrationsstörungen, bedingt durch die Anstrengung, die mit dem Essen und Erbrechen verbunden ist.

Leiden im Verborgenen

Bailer weiß: „Fast alle Bulimikerinnen fühlen sich krank und leiden doppelt, weil sie sich für ihre Krankheit schämen und alles daran setzen, sie vor dem Umfeld zu verbergen.“ Oft, indem sie nicht mehr an Essen im Familienkreis teilnehmen und Einladungen ausschlagen. Das führt nicht selten zur sozialen Isolation, die den Leidensdruck noch höher werden lässt.„Mir fällt auf, dass du nie mehr mit uns isst und nie mehr mit deinen Freunden ausgehst.“ Das ist es, was jemand aus dem Umfeld zum Beispiel sagen könnte, der die Bulimie bemerkt. „Mehr nicht“, sagt Bailer. „Ganz falsch wäre, Vorwürfe zu machen, denn dann ziehen sich die Betroffenen nur noch mehr zurück und es dauert länger, bis sie Hilfe suchen.“ Das müssten sie aktiv und selbst tun, sonst bringe es nichts.

Palette der Hilfsangebote

Die Palette der Hilfsangebote ist groß. Bailer: „Es gibt Anleitungen zur Selbsthilfe in Buchform und im Internet, die vielen dabei helfen, die Zahl der Ess- und Brechanfälle zu reduzieren und den Weg aus der Sucht zu finden.“ Wer es so nicht schafft, dem rät die Expertin zur ambulanten Psychotherapie, bei der neben dem Wiedererlernen eines normalen Essverhaltens auch der Auslöser der Sucht therapiert wird.Eine stationäre Therapie in einer Spezialeinrichtung und einer Behandlung durch ein interdisziplinäres Team empfiehlt Bailer, wenn die Krankheit so ausgeprägt ist, dass die Erkrankte keine Mahlzeit mehr bei sich behält, wenn der Abführ- und Entwässerungsmittel-Missbrauch so massiv geworden ist, dass ein ärztlich begleiteter Entzug notwendig wird, oder wenn Suizid-Gedanken bestehen. Als Begleitmaßnahme zur stationären oder auch zur ambulanten Therapie habe sich eine medikamentöse Therapie bewährt, sagt Bailer: „Mit Antidepressiva ist eine 50- bis 80-prozentige Symptom-Reduktion erzielbar.“

Erfolge der Therapie

Nach der Therapie kann ein Drittel der Betroffenen die Zahl der Ess- und Brechanfälle einschränken und erlebt nur noch wenige Male im Jahr einen Rückfall. Bei einem weiteren Drittel geht die Bulimie für eine kurze Zeit in andere Essstörungen über, ehe sie schwindet. Ein weiteres Drittel der Betroffenen kommt durch die Therapie sofort weg von der Sucht. „Man weiß außerdem, dass sich die Bulimie mit den Jahren von selbst auswächst“, sagt Bailer. „Sind die Betroffenen einmal über 35, verschieben sich die Werte im Leben, anderes wird wichtiger als die Sucht.“

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