Gereizt, genervt, geladen

Oktober 2012 | Gesellschaft & Familie

Warum sind alle so aggressiv?
 
Hupen und Gestikulieren im Straßenverkehr, Drängeln und Rempeln an der Bushaltestelle, Sticheleien und Streitereien in der Partnerschaft, Schikanen und Feindseligkeiten im Büro, Spott, ja Terror in der Schule:
Aggression hat viele Gesichter und ist die alltägliche Zutat in unserem stressbetonten Leben. Und inmitten dieser explosiven Stimmung münden zwischenmenschliche Konflikte nicht selten in tätliche Gewalt. Was macht uns so aggressiv? Für MEDIZIN populär erklären Experten, warum die Nerven heute gar so blank liegen.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Er sitzt nur da und bittet um ein paar Cents. Weiter nichts. Und trotzdem regt der Bettler die Passanten, die aus dem Einkaufszentrum kommen, „wahnsinnig auf“. Viele schütteln den Kopf, einige schimpfen und eine Frau zischt ihn an: „Geh’ doch arbeiten, du Tachinierer!“
Das ganz normale Leben ist gespickt mit Ärgernissen: Wir schimpfen über den „Schleicher“ auf der Autobahn, der beharrlich die Mittelspur blockiert, die Kellnerin, die „provokant langsam“ die Gäste bedient, das x-te überflüssige Mail, das uns beim konzentrierten Arbeiten stört. Warum reagieren viele schon angesichts alltäglicher Situationen so heftig? Warum sind heute alle so aggressiv?

Ellenbogengesellschaft

Eine der Hauptursachen für die explosive Stimmung liegt für den Vorarlberger Psychiater Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller, Chefarzt am Krankenhaus Maria Ebene, in der ständig steigenden Leistungsbezogenheit unserer Gesellschaft. „Der Druck auf die Menschen ist größer, die Forderungen sind mehr geworden“, so der Arzt. „In dieser Ellenbogengesellschaft ist Aggression ein probates, ja erforderliches Mittel, um sich durchzusetzen.“ Der Druck, sich (beruflich) zu behaupten, mündet manchmal in einen Teufelskreis: Wer um jeden Preis Karriere machen will und „bis zum Umfallen“ arbeitet, ist früher oder später erschöpft. Insbesondere bei Männern kann hinter aggressivem Verhalten eine Depression oder ein Burn-out stecken. „Männer, die sonst umgänglich sind, und plötzlich sehr aggressiv werden, sind häufig depressiv oder ausgebrannt“, erläutert Haller. „Im Prinzip wehren sie sich damit gegen den Zustand des Niedergedrücktseins, des Gelähmtseins.“
Weitere Umstände verschärfen die Situation: Viel mehr Menschen leben auf engerem Raum zusammen. „Vor allem in Ballungsräumen steigt das Aggressionspotenzial“, sagt Haller. Der Nachbar vis-à-vis feiert wieder eine wilde Party, das Ehepaar auf Stiege 3 liefert sich ein lautstarkes Schreiduell. Zwischenmenschliche Konflikte nehmen allgemein zu, beobachtet Reinhard Haller, Auseinandersetzungen in der Partnerschaft ebenso: „Darauf reagiert der Mensch besonders aggressiv“, so der Psychiater. „In der Folge kommt es öfter zu dem, was man als „Familiendrama“ bezeichnet: zu Gewalt und Mord, den Extremformen von Aggression.“ Dazu werden bestimmte Substanzen wie harte Alkoholika und Kokain verstärkt konsumiert. Alkohol etwa hat eine enthemmende Wirkung und macht in höheren Dosen aggressiv und gewalttätig.

Anspannung und Druck

Dass wir im Alltag schneller gereizt reagieren, führt die Linzer Psychiaterin Prim. Dr. Adelheid Kastner auch auf den enormen Zeitdruck zurück. „Es ist eine deutliche Beschleunigung im Alltag zu bemerken“, sagt die Psychiaterin. „Zusätzlich hat durch die modernen Kommunikationsmittel die Reizbeflutung zugenommen.“ Die ständige Erreichbarkeit am Handy, der Antwortdruck durch viele, oft sinnlose E-Mails: Man ist genervt, hat viel um die Ohren, ist „fast am Auszucken“ – chronische Belastung erhöht die Anspannung. „Immer dann, wenn das Anspannungsniveau höher ist, steigt das Risiko, dass man aggressiv reagiert“, verdeutlicht Kastner. Jeder Zusatzstress muss dann abgewehrt werden: „Wie heftig wir reagieren, hat auch damit zu tun, wie sehr wir unter Druck stehen.“

Mobbing auf dem Vormarsch

Schon in der Evolution ist Angriff eine Überlebensstrategie, um sich einer bedrohlichen Situation zu stellen, veranschaulicht Adelheid Kastner. Im Unterschied zur Steinzeit erleben wir jetzt aber andere Dinge als bedrohlich: Nicht den Höhlenbären, aber etwa die Rüge des Chefs gilt es heute abzuwehren. „Aggressives Verhalten hat es immer schon gegeben, es hat sich aber verändert“, betont auch Reinhard Haller, der einen „Trend von der tätlichen hin zu verbaler und emotionaler Aggression“ ausmacht. „Auf emotionaler Ebene sind wir besonders empfindlich. Mit den scheinbar kultivierteren Waffen kann man sehr verletzen“, sagt der Psychiater. Mobbing am Arbeitsplatz etwa nimmt derart zu, dass international Mobbingkliniken eingerichtet werden. „Untersuchungen zufolge sind rund zwei Prozent der Frühpensionisten Mobbingopfer“, berichtet Haller. Ausgrenzen, Informationen vorenthalten, sarkastische Bemerkungen zählen zu den beliebten „Techniken“.
„Hinter feindselig-aggressivem und gewalttätigem Verhalten steht meist die Unfähigkeit, Konflikte, Zurückweisung und Verbote sowie spannungsgeladene Gefühle wie Angst, Schmerz, Trauer und Wut zu verarbeiten und zu bewältigen“, erklärt Prim. Dr. Ralf Gößler, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Neurologischen Zentrum Rosenhügel in Wien.

Hochsaison für Ausraster

In Zeiten, in denen die Anspannung generell besonders hoch ist, kommt es auch verstärkt zu aggressiven Ausbrüchen, beobachtet Gößler am Beispiel der Akutaufnahmen von Kindern und Jugendlichen: „Die erste Hochsaison ist die emotional stark besetzte Zeit um Weihnachten bis Ende Jänner, wenn das erste Schulsemester endet“, so der Mediziner. Die zweite Spitze verzeichnet man zu Schulschluss und zu Beginn der Sommerferien. Ralf Gößler: „Offensichtlich machen sich Leistungsstress und der Stress des Umfelds – die Eltern stecken in der Arbeit, alle sind angespannt – bemerkbar.“

Schimpfen als Reflex

Wir sind aber nicht nur schneller auf 180, wir sind auch empfindlicher und intoleranter geworden und „immer weniger gewillt, Umstände einfach hinzunehmen“, beobachtet Kastner. Früher hat man einen grantigen Zeitgenossen mit einem „der hat einen schlechten Tag“ abgetan. „Heute ist man beleidigt und gekränkt, weil der andere ungut war“, so die Ärztin. „Dass wir selbst auch immer wieder grantig sind, wird gern vergessen.“
Diese Neigung, schnell gegen andere zu wettern und bei sich selbst beide Augen zuzudrücken, habe etwas mit (mangelnder) Fähigkeit zur Selbstreflexion zu tun, erklärt Ralf Gößler, „der Fähigkeit, sich selbst und das eigene Tun zu betrachten und zu relativieren“. Bei Jugendlichen und erst recht bei Kindern ist diese Fähigkeit wenig bis gar nicht ausgeprägt. „Diese entwickelt sich erst allmählich mit Beginn der Pubertät.“ Das Vorbild erwachsener Bezugspersonen ist gefragt – nur: „Das eigene Handeln zu hinterfragen, ist nicht unbedingt die Stärke der meisten Erwachsenen“, bedauert Gößler. Stattdessen neigt man dazu, andere quasi reflexartig zu beschuldigen oder zu beschimpfen – oder, im schlimmsten Fall, gewalttätig zu werden.
Und dann beginnt der Teufelskreis: „Es ist bekannt, dass Kinder, die geschlagen werden, auch wieder zuschlagen“, betont Kinderpsychiater Gößler. „Wenn ein Kind wiederholt familiärer Gewalt – direkt oder indirekt, verbal oder tätlich – ausgesetzt ist, ist das eine negative Grundkonstellation“, betont Ralf Gößler. Vielfach bauen die Kinder Wut und Spannung dann nicht zuhause, sondern in der Schule oder auf der Straße ab. Der Kinderpsychiater: „Die Aggression wird dort ausgelebt, wo es weniger Angst macht.“

Außenseiter im Visier

Die Aggressionsopfer wiederum sind „häufig Menschen, die Selbstwertzweifel, Minderwertigkeitsgefühle oder eine Außenseiterposition haben“, analysiert Reinhard Haller. „Bei Kindern und Jugendlichen sind es jene, die sich zum Beispiel wegen besonderer Schüchternheit oder irgendwelcher körperlicher Merkmale von anderen unterscheiden“, ergänzt Kastner. Dass man bevorzugt Außenseiter schikaniert, ist nicht neu: „Es ist ein grundmenschliches Bedürfnis, dass man sich besser fühlen will als jemand anderer“, weiß die Psychiaterin. „Jene, die sich nicht aggressiv durchsetzen können, müssen dann dafür herhalten.“
Je nachdem, wie ausgeprägt das aggressive Verhalten ist, ob es sich um tätliche oder verbale Attacken handelt, leiden die Opfer mehr oder weniger darunter. „Inwiefern eine Traumatisierung ausgelöst wird, hängt auch von der Psyche des Betroffenen ab“, ergänzt Gößler. Auch weiß man, dass ein intaktes soziales Umfeld einen wichtigen Schutzfaktor darstellt. „Wenn ich in meiner Familie gut aufgehoben bin und mit meinen Problemen zu meinen Angehörigen kommen kann, dann werden die Folgen weniger traumatisch sein“, sagt Ralf Gößler. Umso mehr leiden Kinder, die sich nirgendwo hinwenden können. Die Attacken münden nicht selten in einen Teufelskreis, warnt Reinhard Haller: „Was kränkt, macht krank, und was krank macht, macht auch aggressiv.“
Doch auch den Aggressoren erwachsen Probleme: „Die Entwicklungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, wenn Hinhauen die einzige Strategie ist“, verdeutlicht Adelheid Kastner. „Dadurch lernt man weniger gut, sich in Situationen nicht-körperlich zu behaupten und produktiv auseinanderzusetzen.“

Hinunterschlucken oder explodieren

Dass die einen gleich explodieren, andere alles hinunterschlucken und wieder andere stillschweigend Rachepläne schmieden, hängt laut Kastner „zum Gutteil mit der jeweiligen Persönlichkeit zusammen“. Wie jemand gestrickt ist, zeigt sich schon in der Kindheit. „Es gibt Kinder, die vom Temperament her eher dazu neigen, Emotionen wie Unzufriedenheit, Ungeduld nach außen zu transportieren und das auch in Form von Aggressionen“, erklärt Ralf Gößler. Jedenfalls ungünstig sei, wenn Kindern nicht gelehrt wird, ihre Wünsche aufzuschieben und eine gewisse Impulskontrolle zu entwickeln.

Gesunder Spannungsabbau

Positiv hingegen, wenn man gelernt hat, Aggression angemessen auszudrücken: „Jene, die innere Spannungen und Unmutszustände nach außen transportieren können, sind psychohygienisch gesünder, weil sie weniger unter innerem Druck stehen“, betont der Kinderpsychiater. Gefährdet sind jene, die „immer alles hinunterschlucken“: „Sie geraten in innere Spannungszustände und entwickeln Störungsbilder, eine Essstörung oder selbstverletzendes Verhalten, um sich zu bestrafen“, warnt Gößler. „Das ist der Stoff, aus dem Depressionen gemacht sind.“ Wer Wut und Anspannung gegen sich selbst richtet, verhält sich „autoaggressiv“. „Meistens hat es damit zu tun, dass man einen geringen Selbstwert hat, sich selbst vielleicht ablehnt oder hasst“, sagt Psychiater Haller. Gesamtgesellschaftlich ist die Entwicklung von Selbst- zu Fremdaggression stets gegenläufig, so Haller: „Derzeit geht die Tendenz in Richtung Fremdaggression und die Selbstaggression geht zurück.“

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Spotten, schikanieren, schießen:
Terror in der Schule

Das Internet eröffnet viele Möglichkeiten – auch für aggressives Verhalten: Cybermobbing ist stark im Zunehmen. Kinder und Jugendliche treffen die „virtuellen Attacken“ besonders hart: Andere gleichsam vor aller Welt schlechtzumachen oder bloßzustellen sind die Waffen, gegen die man sich schlecht zur Wehr setzen kann.  
Auch in Sachen tätlicher Gewalt – bei Amokläufen und Schulterror – verzeichnet man weltweit eine Zunahme, berichtet der Psychiater Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller. Mögliche Gründe dafür, dass Kinder oder Jugendliche plötzlich ausrasten: „Sie fühlen sich ausgegrenzt oder verspottet“, sagt Haller. „Der Amoklauf ist oft Ausdruck dafür, dass sich der junge Mensch sehr gekränkt fühlt.“ Durch die medialen Möglichkeiten steigt für den Amokläufer zudem die Chance auf eine kurze, höchst zweifelhafte Berühmtheit. „Für einen Moment ist er der meistbeachtete Mensch der ganzen Welt“, präzisiert Haller. „Das bereitet ein narzisstisches Hochgefühl.“

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Konflikte und Gewalt in Medien:  
Achtung, Nachahmung!

Vergleiche zwischen US-amerikanischen und kanadischen Medien zeigen: In den USA, wo die Berichterstattung über Gewalt und Aggression einen höheren Stellenwert hat, ist das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung wesentlich geringer. „Auch hierzulande werden Aggressionsdelikte und aggressive Handlungen medial wesentlich mehr verbreitet als noch vor zehn Jahren“, erklärt die Linzer Gerichtspsychiaterin Prim. Dr. Adelheid Kastner. „Eine derartige Berichterstattung verstärkt unsere Wahrnehmung der zunehmenden Aggressivität, die aber durch keine Kriminalstatistik bestätigt wird.“
Warum aber gieren wir geradezu danach, über Konflikte und Gewalt zu lesen? Ist die Lektüre ein „ungefährliches“ Ventil für die eigenen Spannungen oder wird dadurch aggressives Verhalten sogar gefördert? „Wenn es dadurch zur Emotionalisierung von Menschen kommt, besteht die Gefahr der Nachahmung, von sogenannten Trittbrettfahrern“, warnt der Kinder- und Jugendpsychiater Prim. Dr. Ralf Gößler. Der „Batman-Attentäter“ in den USA z. B. hat im Sommer sofort einen Nachahmer gefunden. „Eine Wiener Forschungsgruppe hat zudem herausgefunden, dass auf Berichte darüber, dass jemand sich vor eine U-Bahn geworfen hat, stets weitere Suizide folgen“, ergänzt Gößler.  
Um Emotionalisierung geht es vielfach auch bei den in Fachkreisen umstrittenen Computerspielen: Lassen sich etwa durch „Ego-Shooter“-Spiele innere Spannungen auf ungefährliche Weise ausleben? Oder sind sie – weil dabei Realitätsbezug und Empathie verlorengehen – sogar für die „Amokläufer von morgen“ verantwortlich? „In Studien hat man herausgefunden, dass die Auswirkung stark von der Grundpersönlichkeit des Anwenders abhängt“, verdeutlicht der Psychiater. „Problematisch wird es, wenn ein labiler Mensch mit Minderwertigkeitsgefühlen sich durch virtuelle Kräfte stark fühlt und diese dann real ausspielt.“

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Gefangenenchor der Justizanstalt Klagenfurt:
Singen gegen die Aggression

Das gemeinsame Musizieren fördert Teamgeist und Toleranz – und baut ganz nebenbei Aggressionen ab: In der Justizanstalt Klagenfurt beschreitet man seit Ende 2010 neue Wege, um den Insassen eine Starthilfe in eine zum Teil ungewisse Zukunft zu geben. Ob gefühlvolle Soullieder oder selbst getextete Raps: Für die Mitglieder des Gefangenenchors ist das gemeinsame Musizieren viel mehr als nur ein Zeitvertreib. Gerade jugendliche Straftäter finden damit ein wertvolles Aggressionsventil: „Anhand der Raps, die die Jugendlichen texten, lässt sich beobachten, dass die Sprache allmählich weniger aggressiv wird“, berichtet der Leiter der Justizanstalt, Brigadier Peter Bevc, der das außergewöhnliche Projekt initiiert hat. Nicht zuletzt wird durch das gemeinsame Singen ein friedliches Miteinander gefördert: „Man lernt, den anderen zuzuhören, sich aufeinander einzustimmen und einen gemeinsamen Rhythmus zu finden“, veranschaulicht Bevc. Nach anfänglicher Skepsis wird das Angebot mittlerweile von den Häftlingen begeistert angenommen – der Andrang ist entsprechend groß.

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