Stress killt Schlaf

Oktober 2010 | Medizin & Trends

„Mit einem Säbelzahntiger im Bett kann niemand schlafen!“
 
Chronomediziner Dr. Alfred Lohninger erklärt im Gespräch mit MEDIZIN populär, warum uns Stress den Schlaf raubt und sich der Mensch in Sicherheit wiegen muss, um gut schlafen zu können.
 
von Mag. Karin Kirschbichler

MEDIZIN populär
Herr Dr. Lohninger, als Chronomediziner befassen Sie sich mit den Rhythmen des Lebens. Wie beurteilen Sie den Takt, den die 24-Stunden-Gesellschaft heute vorgibt?

Dr. Alfred Lohninger
Wir haben es heute mit vielen Taktvorgaben zu tun, die uns ständig aus dem Rhythmus werfen. So können zum Beispiel die wenigsten ihrem Rhythmus gemäß schlafen, wenn sie müde sind, und wieder aufstehen, wenn sie ausgeschlafen sind. Der Wecker läutet uns aus dem Schlaf, das Mittagessen wird verschoben, weil noch ein dringendes Telefonat erledigt werden muss, die wichtige Besprechung ist ausgerechnet auf 13 Uhr angesetzt, wenn wir eigentlich chronobiologisch gesehen ein Leistungstief haben.

Wie kann man da zu einem gesunden Rhythmus finden?

Manchen dieser Taktvorgaben lässt sich schwer entkommen. Dann ist es am besten, Defizite regelmäßig zu kompensieren, idealerweise noch am selben Tag etwa durch das sogenannte Power-Napping. Oder aber zumindest einmal in der Woche, indem man zum Beispiel regelmäßig am Sonntag einen rhythmusgerechten Tag verbringt: aufstehen nach der eigenen, inneren Uhr, vormittags aktiv sein, nach dem Mittagessen ruhen, nachmittags wieder etwas unternehmen, sich sozusagen artgerecht bewegen, also gehen oder Rad fahren an der frischen Luft, und abends den Tag gemächlich ausklingen lassen. Das bringt unsere Körperrhythmen wieder in Ordnung.

Und wenn uns der Stress aus dem Rhythmus wirft?

Dann ist es wichtig, für entsprechenden Ausgleich zu sorgen. Stress ist ja nichts anderes als eine Reaktion des Körpers auf eine drohende Gefahr. Zu Urzeiten hatte das noch einen Sinn: Im Angesicht des Säbelzahntigers wurde das gesamte System derart aktiviert, dass es zum Kampf oder zur Flucht bereit war. Heute sind wir im Dauerstress und unser autonomes Nervensystem wird quasi ständig alarmiert: Um Gottes Willen, Gefahr durch Säbelzahntiger! Wenn ich dann nach einem solcherart angespannten Zehn-Stunden-Tag abends noch Joggingschuhe und Pulsuhr schnappe und sozusagen um mein Leben laufe, dann ist das alles andere als ein entsprechender Ausgleich. Denn dann erhält das vegetative Nervensystem die Botschaft: Nach zehn Stunden Gefahr durch Säbelzahntiger geht es jetzt ums nackte Überleben! Das System bleibt kampfbereit – an Schlaf ist in dieser Situation nicht zu denken. Mit einem Säbelzahntiger im Bett kann niemand schlafen.

Wie bekommt man den Säbelzahntiger aus dem Schlafzimmer?

Indem man das vegetative Nervensystem in Sicherheit wiegt. Das klappt zum Beispiel mit Ritualen. Wenn Sie sich angewöhnen, jeden Abend eine Runde ums Haus zu gehen oder durch die Wohnung, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung ist, oder wenn Sie ein Buch zur Hand nehmen oder eine Tasse Tee trinken, dann bedeutet das für das Vegetativum: Das kenne ich schon, da besteht keine Gefahr, wir sind in Sicherheit, wir können schlafen.

Wir leben aber in unsicheren und auch in schlaffeindlichen Zeiten. Wir schlafen jetzt schon deutlich weniger als die Menschen vor 100 Jahren, wie wird das weitergehen?

Ich sehe unsere Gesellschaft bereits am Übergang von der Leistungs- zur Regenerationsgesellschaft. Leistung kann nicht noch mehr verbessert werden. Vielmehr geht es darum, jene Zeiten, in denen man nicht leistet, zu optimieren, damit Leistung weiterhin erbracht werden kann. Das heißt, man ist gezwungen, in guten Schlaf und in gute Freizeitgestaltung zu investieren, weil man sonst den ganzen Wahnsinn gar nicht aushält.
Schlaf ist ein Hineinkriechen des Menschen in sich selbst, hat Friedrich Hebbel so schön gesagt. Und so sollte es auch sein. In Zeiten der völligen Transparenz durch Facebook & Co ist der Schlaf eine kostbare Oase der Intimität, in der man wirklich bei sich selbst sein kann.

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