Die Stadt der Kinder

November 2009 | Gesellschaft & Familie

Gesunde Entwicklung braucht Freiräume
 
Wenn Kinder ihre Stadt planen könnten, sähe sie vollkommen anders aus als alles, was wir heute kennen: Auf Brachflächen entstünden Hügel, Bäche, Matschrutschen, aus Straßen würden Gehwege – und die wären für die Fußgänger da, nicht für Parkplätze. Wenn Kinder ihre Stadt planen könnten, wenn Eltern Initiativen setzten, würde das mehr Lebensqualität für alle bedeuten, sagen ein deutscher Raumplaner und ein österreichischer Umweltmediziner.
 
Von Bettina Benesch

Es gibt einen Ort, da ist die Welt heil: Da gibt es Bäume und Hügel, Wasser, reichlich Platz für Spiele und Fantasie. Keine Autos, keine Autobahnen, keinen Straßenlärm, keine Abgase. Das Problem: Diesen Ort gibt es bislang nur in der Vorstellung. Der Vorstellung von Peter Apel zum Beispiel. Er ist Inhaber des Planungsbüros Stadt-Kinder in Dortmund und beschäftigt sich als solcher mit Fragen wie diesen: „Wie kann ich den Verkehr so organisieren, dass sich Kinder gerne und sicher durch die Stadt bewegen? Wie entwickle ich Fußgängerzonen, Plätze, Hinterhöfe, Baulücken oder Siedlungsränder so, dass Kinder sich darin gerne bewegen, einander begegnen, spielen und die Natur erleben? Viele Fragen, von denen nur wenige davon bis heute beantwortet sind: „Weltweit sind die Städte nicht kinderfreundlich. Die autogerechte Stadt ist immer noch das Leitbild“, sagt Apel.
Trotzdem gibt es erste Ansätze: „In Deutschland hat es einen Quantensprung gegeben“, sagt Apel. Zusätzlich zur Entwicklungsplanung für den Verkehr gibt es seit etwa fünf Jahren ein weiteres Instrument: die Spielleitplanung. Damit ist es möglich, die Interessen von Kindern und Jugendlichen in die Stadtplanung einfließen zu lassen. Konkret läuft das folgendermaßen ab: Der Raumplaner kommt in Schulen und in Jugendzentren, legt den Kindern und Jugendlichen der Kommune, des Bezirks, der Stadt, konkrete Arbeitsfelder vor. Dann gehen die Kinder ans Werk. „Sie zeigen uns die unsichtbaren Städte, die Zwischenräume, nehmen uns mit, steigen über Zäune, über Mauern. Uns interessiert: Wie gehen Kinder mit der Stadt um? Wo haben sie Schwierigkeiten über die Straße zu kommen? Wir erfahren dabei die Wertigkeit und die Bedeutung der einzelnen Freiräume unmittelbar von den Kindern.“
Danach geht es in die Planungswerkstatt. Die Kinder machen Pläne, bauen Modelle und stellen sie den Politikern selbst vor. „Das können die besser als ich“, sagt Apel. „Die haben einen Charme … da werden die Politiker hellwach und sehen, dass die Kinder und Jugendlichen kompetent sind, und es entsteht ein ganz interessanter Dialog, der sich endlich fachgerecht um die Interessen von Kindern dreht.“

Für das Leben lernen wir …

Und nicht nur die Politiker entdecken die Welt der Kinder neu – auch die Kinder selbst entwickeln sich: „Es gibt einen interessanten Effekt, vor allem bei Hauptschülern, Förderschülern und Schülern mit Migrationshintergrund: Sie haben anfangs große Schwierigkeiten, sich auszudrücken und ihre Ideen vorzustellen“, sagt Apel. „In der zweiten und dritten Folge erlangen sie aber Selbstbewusstsein. Sie lernen über die Beteiligung eine unheimliche Selbstkompetenz, weil sie ernst genommen werden und frei arbeiten können.“ Gesetzlich verankert sind diese Treffen zwischen Kindern und Politikern laut Apel nicht, es gibt jedoch Bundesländer in Deutschland, die Förderungen mit der Spielleitplanung verknüpfen. Derzeit werde daran gearbeitet, das Instrument auch auf Bundesebene mit Förderungen zu verknüpfen, sagt Apel.
Die Zeit für ein Umdenken ist gekommen, sagt der Raumplaner. Notwendig werde das allein wegen zweier Punkte, die auch für Österreich denkbar sind: „Die demografische Entwicklung in Deutschland ist dramatisch, die Städte verlieren 20 bis 30 Prozent ihrer Bevölkerung. Einerseits wegen des Geburtenrückgangs und andererseits wegen des Wegzugs von Familien in das Umland, weil sie in Städten kein spielbares Wohnumfeld mehr finden.“ Diese Zahlen machen selbst den bequemsten Politiker hellwach: Schließlich sinken kommunale Einnahmen, wenn Menschen und Unternehmen das Weite suchen.
Dort aber, wo es kinder- und familienfreundliche Plätze gibt, wo Menschen sich wohlfühlen, sagt Apel, dort fühlen sich auch Industrie und Kleingewerbe wohl. „Das ist mittlerweile ein zentraler Standortfaktor geworden. Es gibt inzwischen keine Kommune, die nicht das Leitbild der kinderfreundlichen und familienfreundlichen Stadt verabschiedet hat.“ Das Leitbild, wohlgemerkt. „Wenn man dann fragt: ,Und was tut ihr jetzt?‘, sagen die Kommunalpolitiker: ,Ja, wir machen mal eine Bespaßungsaktion und sonntags trifft sich der Bürgermeister mit den Kindern!‘ Mit der Spielleitplanung können wir den Kommunen zum ersten Mal anbieten: Wir haben das Instrument, um das Leitbild umzusetzen.“

Vom Plan ins wahre Leben

Beeindruckende Pläne und Instrumente gebe es auch in Österreich, sagt Dr. Hans-Peter Hutter, Oberarzt am Institut für Umwelthygiene an der Medizinischen Universität Wien, zudem Landschaftsökologe, Landschaftsgestalter und Vorstand der Organisation „Ärztinnen und Ärzte für eine gesunde Umwelt“. Die Raumplanung ist ein mächtiges Instrument und bunter Fachbereich, der im Grunde vieles – gerade für die Stadtgestaltung – möglich macht. Es gibt Konzepte für Junge, Alte, Familien, Menschen mit Behinderung. „Wenn man aber aus dem Fenster sieht, schaut die Welt ganz anders aus“, sagt Hutter: „In Großstädten dreht sich alles um individuellen motorisierten Verkehr. Dann kommt lange nichts – und dann kommt alles andere: alte Menschen und Kinder zum Beispiel. Das ist die traurige Realität. Egal ob auf Bezirks-, Gemeinde- oder auf Bundesebene: Man will es sich mit den Autofahrern nicht verscherzen.“
Dabei wäre es so wichtig, sagt der Mediziner, Räume für Kinder zu schaffen: Spielen im Freien fordert und fördert Körper und Geist, lässt Verschaltungen im Gehirn wachsen, die es Kindern erst möglich machen, Bewegungen auch zu koordinieren und Risiken abzuschätzen. „Wenn Kinder Bewegungsabläufe nicht lernen und die Motorik ,unterentwickelt‘ bleibt, sind sie auch als Erwachsene ungeschickter als der Durchschnitt“, erklärt Hutter. Das bedeutet: Übergewichtige Erwachsene können schwerer abnehmen, weil Sportarten bzw. Bewegungsabläufe nur mühsam erlernt werden und sie schneller frustriert aufgeben. Bewegung ist aber neben gesunder Ernährung für das Abnehmen bekanntlich unerlässlich. „Mangelnde Bewegung beim Kind hat Folgewirkungen bis ins späte Erwachsenenalter“, sagt Hutter.
Spielen, klettern, Baumwipfel bezwingen – das alles macht Kinder und damit die späteren Erwachsenen selbstbewusst. Gemeinsames Tun macht sozial kompetent, lehrt Kinder mit anderen nicht nur auszukommen, sondern besser: mit ihnen zusammenzuarbeiten. Nicht zuletzt fördern Bewegung und Spielen im Freien das Denken, die kognitiven Leistungen.

Ohne Engagement der Eltern geht nichts

Was es für gutes Spielen braucht, ist kein ausgeklügeltes Spielplatzmanagement. Was es braucht ist Freiraum, der sicher ist: freie Natur, Brachflächen, Naturspielplätze – Stichworte Matsch und Hügel – Fußgängerzonen, Schulhöfe. Einzelinitiativen in diese Richtung gebe es in Österreich immer wieder, berichtet Hutter. Und: „Eigeninitiativen und Vernetzung sind sehr wichtig. Die Eltern müssen sagen: So, wie es jetzt ist, möchten wir es nicht. Und sie müssen Vorschläge bringen, um Druck auf Entscheidungsträger erzeugen zu können.“ Hutters Forderung: „Die Politik muss bei Planungen verstärkt an Kinder denken.“ Dabei ist die Politik auf das Engagement der Eltern angewiesen:
Aber auch das eigene (häusliche) Umfeld lässt sich kinderfreundlich gestalten: mit schadstoffarmer Einrichtung oder dem Verzicht auf Zigarettenrauch und unnötige Chemikalien („Raumsprays“) in der Wohnung. Außerhalb der eigenen vier Wände geht es weiter: Schulwege werden am besten zu Fuß zurückgelegt, mit Bus, Straßen- oder U-Bahn. Eltern müssen ihren Kindern die Gelegenheit geben, ihrem Bewegungsdrang nachzugeben.
Auf ganz pragmatische Weise geschieht das einmal wöchentlich in Bremen: Da wird schlichtweg eine Straße für Autos gesperrt. Am Straßenanfang ein Stuhl, am Ende einer, jeweils besetzt mit einem Aufpasser – einer Mutter, einem Vater. Die Idee kam nicht von Politikern. Sie kam von den Eltern selbst.  

Bewegte Kinder – gesunde Erwachsene
So wirkt sich regelmäßige Bewegung aus:

  • Verminderung des Herzinfarktrisikos (50 %)
  • Verminderung des Risikos der Entwicklung von Typ 2-Diabetes (50 %)
  • Reduktion des Risikos von Fettstoffwechselstörungen
    bzw. des Übergewichts (50 %)
  • Reduktion des Risikos der Entwicklung von zu hohem Blutdruck (30 %)
  • Verzögerung des Auftretens von Osteoporose
  • Rückgang von Depressions- und Angstsymptomen
  • Verringerung des Dickdarm- und Brustkrebsrisikos
  • höhere Stresstoleranz

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