Aggressionen fahren mit
Aggressionen durch Anonymität
Ein Beispiel, das sich täglich wohl Tausende Male auf Österreichs Straßen abspielt: „Man kommt im Stau nur schrittweise voran, zu einem wichtigen Termin droht man trotz eingeplanter Zeitreserve zu spät zu kommen, weshalb das Handy ununterbrochen läutet. Anderen Autofahrern in der Kolonne ergeht es genauso, es wird geblinkt, gehupt, manche scheren ohne Rücksicht auf andere plötzlich aus – dieses Szenario erzeugt Stress“, so Univ. Prof. Dr. Herwig Scholz, ärztlicher Leiter des Krankenhauses de La Tour in Treffen in Kärnten. Der Neurologe und Psychiater ist auch geschäftsführender Obmann der Ärztlichen Kraftfahrvereinigung Österreichs (ÄKVÖ), die sich unter anderem mit den psychischen Phänomenen im Straßenverkehr beschäftigt. „Man hat in der kleinen Kabine nur wenige Möglichkeiten, den Stress, diese geladene Stimmung, ausagieren zu können. Zu diesen Möglichkeiten zählen Gesten und Ausdrucksweisen, die außerhalb des Straßen- verkehrs nur in den seltensten Fällen angewendet werden: Man tippt auf den Kopf, schimpft, betätigt die Hupe oder provoziert“, so Scholz.Nach Ansicht der Verkehrspsychologin Dr. Elisabeth Panosch vom Kuratorium für Verkehrssicherheit (KfV) vermittelt gerade die Isoliertheit im Fahrzeug dem Lenker ein Gefühl der Sicherheit und Anonymität, was viele dazu verleitet, ihren Aggressionen freien Lauf zu lassen. „Viele glauben, dass man im Auto nicht sofort mit Gegenaggression bestraft werden kann. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass Cabriofahrer mit geschlossenem Verdeck die Hupe öfter und länger betätigen, wenn im Straßenverkehr nichts weiter geht, als diejenigen mit geöffnetem Verdeck. Letztere sind nämlich gut sichtbar und fühlen sich daher nicht so geschützt.“
Aggressiv sind immer die anderen
Aus psychologischer Sicht bemerkenswert ist die Selbsteinschätzung der Fahrer: Als aggressiv und bedrohlich werden nämlich immer nur die anderen eingestuft. Nur etwa jeder 30. Autofahrer gibt zu, dass er sich nicht immer fair verhält. Zwei Drittel der österreichischen Autofahrer halten sich selbst für weniger gefährlich als die anderen – wie eine europaweite Studie ergeben hat. „Diese Studie zeigt auch, dass die Einschätzung der Geschwindigkeit, mit der die Autofahrer durch ein Ortsgebiet fahren, völlig unrealistisch ist. Nur sechs Prozent der Befragten gaben an, im Ortsgebiet schneller als erlaubt unterwegs zu sein. Wir wissen jedoch von Geschwindigkeitsmessungen des Kuratoriums für Verkehrssicherheit, dass jeder Zweite wesentlich schneller als 50 km/h fährt. An eine 30er-Beschränkung hält sich überhaupt nur jeder Fünfte“, sagt Frau Dr. Panosch. Um Aggressionen und andere psychische Phänomene im Straßenverkehr besser in den Griff zu bekommen, bedarf es noch intensiver wissenschaftlicher Forschung. Daher plädiert Prof. Scholz für die Errichtung eines Instituts für Verkehrsmedizin, in dem die Forschungen über die vielen Gesundheitsrisiken im Straßenverkehr zusammenlaufen. „So wie es zahlreiche Forschungsarbeiten zur Verringerung der Autoabgase oder zur Verbesserung der Sicherheitstechnik gibt, so sollten auch an einem unabhängigen verkehrsmedizinischen Institut die Ursachen und Auswirkungen psychischer Phänomene im Straßenverkehr intensiv untersucht werden“, so der Obmann der Ärztlichen Kraftfahrvereinigung Österreichs.
Raserei und Alkohol
Für Univ. Prof. Dr. Herwig Scholz ein absolut gefährliches Duo: „Alkohol reduziert nicht nur die Fähigkeit rasch zu reagieren, Entfernungen richtig einzuschätzen oder sich koordiniert zu bewegen, sondern er steigert auch die Aggressionstendenz und die Risikobereitschaft.“ Der Neurologe und Psychiater macht jedoch auch auf die verminderte Fahrtüchtigkeit durch die Wirkung von Psychopharmaka aufmerksam. „Menschen, die am Abend Schlaf- oder Beruhigungsmittel zu sich nehmen, sollten wissen, dass diese Medikamente auch noch am Morgen oder Vormittag danach wirken können und somit die Verkehrstauglichkeit beeinträchtigen. Wir wissen, dass Verkehrsteilnehmer unter Einfluss von Benzodiazepinen, das sind Substanzen mit angstlösender und beruhigender Wirkung, ein mindestens doppelt so hohes Unfallrisiko haben wie jene, die keine Medikamente zu sich nehmen. Denn auf der einen Seite haben diese Mittel eine beruhigende Wirkung, auf der anderen Seite können sie die Risikobereitschaft erhöhen – im Straßenverkehr sind solche Nebenwirkungen fatal!“
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Keine Chance für Aggressionen
Expertentipps für einen entspannten und sicheren Urlaubsreiseverkehr
- Planen Sie die Reise sorgfältig, Staurouten und Stauzeiten möglichst mit berücksichtigen.
- Wählen Sie den Reisebeginn flexibel, vermeiden Sie möglichst die Tage des Urlauberschichtwechsels.
- Wählen Sie eine angepasste Geschwindigkeit – das beruhigt nachweislich den Verkehr und schont die Nerven.
- Halten Sie genügend Abstand – das trägt maßgeblich zur Homogenität des Verkehrs bei, dadurch kommen alle Verkehrsteilnehmer besser und sicherer voran.
- Machen Sie in Pausen Dehnungsübungen oder gehen Sie ein paar Schritte, um zu entspannen.
- Machen Sie sich bewusst, dass andere Fahrer auch Fehler machen können und dass nicht immer Absicht hinter einer als aggressiv erlebten Handlung steckt.
- Bedenken Sie, dass aggressives Fahren anstrengender ist als gelassenes Fahren.
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