Binge-Eating: Warum Fressattacken zunehmen

September 2013 | Gesellschaft & Familie

Sei es, weil sie sich allzu lange kasteit haben, oder weil sie im Bestreben um eine schlanke Figur resignieren: Gerade bei Frauen sind Essattacken auf dem Vormarsch. MEDIZIN populär über Ursachen und Auswege.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Nicht Magenknurren ist es, sondern ein unbezwingbarer Heißhunger, der Sarah F. mindestens zweimal pro Woche nächtens in die Küche treibt: Dann stopft die 50-Jährige Reste vom Abendessen, Cremeschnitten, Kekse und Schokolade in sich hinein – Tausende von Kalorien wandern in kürzester Zeit in den Mund. Und es ist nicht das wohlige Gefühl von Sattheit, das Sarah die Fressorgie schließlich beenden lässt, sondern ein starkes Völlegefühl, das sie lange noch am Einschlafen hindert.
Mit den regelmäßigen Essgelagen ist die alleinstehende Bürokauffrau eine typische „Binge-Eaterin“ (siehe Binge-Eating unten). Ebenfalls typisch für diese Essstörung: Es wird schneller als üblich und vorzugsweise Süßes, Fett- und Kalorienreiches gegessen; geschlemmt wird außerdem allein – die einzigen Begleiter sind Selbstekel, Scham- und Schuldgefühle. Das Speisen in Gesellschaft wird zunehmend schwierig, oft geht der Essensrhythmus verloren. Aufgrund der exzessiven Nahrungszufuhr sind viele Binge-Eater übergewichtig; Sarah wiegt inzwischen knapp 20 Kilogramm mehr als noch vor einem Jahr, als die Essattacken erstmals auftraten.

Überfluss und Magerwahn

Dass heute immer mehr Menschen regelmäßigen Heißhungerattacken erliegen, hat auch gesellschaftliche Hintergründe: „Generell sind Essstörungen ein Problem der westlichen Überflussgesellschaft“, erläutert OA Dr. Verena Dummer, Fachärztin für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin an der Tagesklinik für Essstörungen am LKH Innsbruck. „Wir leben in dem Dilemma, dass einerseits immer mehr Lebensmittel angeboten werden und andererseits die als ideal gesehenen Körpermaße weiter schrumpfen.“ Dieses Spannungsfeld ist – bei entsprechender Vorbelastung – der „ideale Nährboden“ für Essattacken: „Man entwickelt den Wunsch, mit restriktivem Essverhalten abzunehmen. Später kommt es aufgrund von Diäten zu Heißhunger und Essanfällen“, erklärt die Psychiaterin.

Körper als Schlachtfeld

Aus verschiedenen Gründen sind Frauen besonders gefährdet, an einer Essstörung zu erkranken: „Es hat wahrscheinlich auch mit der rasanten Veränderung der Frauenrolle zu tun, mit widersprüchlichen Erwartungen, die auf den Frauen lasten“, erläutert die Wiener Psychotherapeutin Mag. Helga Holczik, die sich seit Jahren intensiv mit Essstörungen beschäftigt. „Die Frau soll eine fürsorgliche und einfühlsame Mutter sein, eine attraktive Geliebte, außerdem soll sie Karriere machen und dabei entspannt und ausgeglichen sein – kurzum: Sie soll in unserer Leistungsgesellschaft funktionieren. Das steht allerdings im Widerspruch zu dem, was Weiblichkeit auch ausmacht: Der Menstruationszyklus etwa hat sein eigenes Tempo und geht mit unterschiedlichen Befindlichkeiten einher, die sich nicht steuern oder kontrollieren lassen. Und auch rund um die Menopause funktioniert frau oft nicht so, wie es die Gesellschaft fordert.“ Zudem setzt der Vergleich mit medialen Bildern von schlanken, fröhlich-fitten Frauen unter Druck: Der Körper wird zum „Schlachtfeld“, auf dem Spannungen ab- und Probleme ausgetragen werden.

Protestfressen

Das Sich-Messen mit (unrealistischen) medialen Bildern und die daraus resultierende Unzufriedenheit ist ein weit verbreitetes Leiden in der westlichen Welt. In den USA etwa hadern Umfragen zufolge bereits 80 Prozent der zehnjährigen Mädchen mit ihrem Aussehen. Im permanenten Streben um eine bessere Figur steckt laut Helga Holczik oftmals der Keim für eine Essstörung. „Irgendwann kippt das Sich-Kasteien ins Gegenteil“, so die Expertin. Die Betroffenen resignieren, weil das schlanke Körperideal unerreichbar ist und beginnen zu fressen: „Man könnte das Binge-Eating auch als Protest gegen die Zügelung durch eine Diät verstehen“, sagt Verena Dummer. Das Problem der Heißhungerattacken spitzt sich zu, wenn aufgrund von Crash-Diäten oder einseitigem Essverhalten ein Nährstoffmangel dazukommt.

Wut, Angst, Kränkung

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen allein münden aber noch nicht in eine Esssucht. „Eine Essstörung hat immer mehrere Ursachen, zu den sozialen braucht es auch persönliche Risikofaktoren“, betont Holczik. Erfahrungen von (emotionaler) Vernachlässigung, Ablehnung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch in der Kindheit etwa erhöhen die Gefahr, an einer Essstörung zu erkranken. „Ein wesentlicher Risikofaktor ist ein geringes Selbstwertgefühl, das wiederum unterschiedliche Ursachen haben kann“, ergänzt die Psychiaterin Verena Dummer.
Der angemessene Umgang mit Emotionen ist für die Überesser eine Herausforderung: „Essattacken sind ein Versuch, unangenehme Gefühle zu unterdrücken und schwierige Situationen zu bewältigen oder zumindest den Spannungsdruck zu nehmen“, so Dummer. „Auslöser sind sehr häufig Kränkungen, die Angst verlassen zu werden oder real erfahrene Trennungssituationen.“ Angst, Wut, Enttäuschung, aber auch Stress oder Langeweile lassen die Betroffenen dann wie unter Zwang zum Essen greifen. „Die Menschen schlucken die Gefühle hinunter und versuchen, sich mit dem Essen zu beruhigen oder abzulenken“, sagt die Ärztin. Nach der „Betäubung“ kommen die Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühle umso intensiver zurück. „Gefühle wie diese führen zu immer weiteren Essanfällen und letztlich in die soziale Isolation“, beschreibt die Psychiaterin den Teufelskreislauf.

Gewichtige Folgen

Damit hat die Krankheit massive Auswirkungen auf die Psyche und führt unter anderem zu Scham- und Minderwertigkeitsgefühlen, Hilflosigkeit, sozialem Rückzug, Resignation, Depression. „Zu den körperlichen Folgen zählen all die typischen Begleiterscheinungen von Übergewicht und Adipositas“, ergänzt Verena Dummer. Das sind etwa das metabolische Syndrom mit erhöhtem Blutzucker, erhöhten Blutfetten, Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen. „Weil das Übergewicht auch die Gelenke belas­tet, kann es vermehrt zu Arthrosen und Bandscheibenvorfällen kommen“, so die Fachärztin.

Langwierige Behandlung

Entsprechend der verschiedenen Ursachen wird auf mehreren Ebenen therapiert: „Im Rahmen einer Esstherapie müssen die Betroffenen lernen, sich eine geregelte Essstruktur anzueignen“, erklärt Verena Dummer. Antidepressiva können die Häufigkeit der Essanfälle verringern. Bewegung und eine ergänzende Ernährungsberatung sollen helfen, allmählich Gewicht abzubauen. Hand in Hand mit der Ess- geht eine Psychotherapie: „Die zugrunde liegenden Konflikte müssen bearbeitet, die auslösenden Situationen verstanden und neue Lösungsansätze, die nicht mit dem Essen zu tun haben, erlernt werden“, betont die Psychiaterin. „Ein Ziel ist zu lernen, den eigenen Bedürfnissen auf adäquate Weise nachzukommen“, ergänzt die Psychotherapeutin Holczik. „Oft geht es dabei um Bedürfnisse nach Geborgenheit und Halt.“
Außerdem gilt es, aus der Isolation herauskommen: „Man muss lernen, Freundschaften zu knüpfen, sich anzuvertrauen und auf Beziehungen einzulassen“, so Dummer. Essstörungen stehen oft in Zusammenhang mit anderen Erkrankungen (z. B. Depression, Angststörung, ADHS), die ebenfalls behandelt werden müssen. Entsprechend langwierig ist die Therapie – sie kann Monate, aber auch Jahre in Anspruch nehmen. Die Prognose? „Man geht davon aus, dass nach einer Therapie rund 70 Prozent wieder ein gesundes Essverhalten ohne Essanfälle haben“, sagt Verena Dummer.

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Binge-Eating: Der (un)heimliche Heißhunger

Von Binge-Eating (engl. Binge = Gelage) spricht man, wenn jemand über einen Zeitraum von wenigstens einem halben Jahr zumindest zweimal pro Woche einen Essanfall hat, bei dem große Mengen an Nahrungsmitteln verschlungen werden. Im Gegensatz zu anderen Esssüchtigen „arbeiten“ Binge-Eater dem Gegessenen nicht durch Erbrechen, Hungern oder obsessive Bewegung entgegen. Unter dieser Essstörung leiden auch vergleichsweise viele Männer: Von 100 Betroffenen sind 60 weiblich und immerhin 40 männlich. Die meisten erkranken zwischen dem 20. und 30. sowie dem 45. und 55. Lebensjahr, also in den Wechseljahren. Neben psychosozialen Risikofaktoren können – wie bei anderen Süchten auch – Veränderungen der Botenstoffe im Gehirn sowie genetische Faktoren bei der Entwicklung eine Rolle spielen. Ein Großteil der Betroffenen ist übergewichtig oder adipös; umgekehrt hat rund ein Drittel der Adipositas-Patienten Heißhungerattacken.

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