Sexsucht: Gefangen vom Verlangen

Mai 2007 | Partnerschaft & Sexualität

Mit Lust und Liebe hat die Sucht nach Sex und Beziehungen herzlich wenig zu tun. Experten schätzen, dass sechs Prozent der Erwachsenen davon betroffen sind. Sie werden von der Suche nach einem Gefühl getrieben, das sie niemals empfinden können.
Und so stürzen sie sich in immer noch riskantere Abenteuer und schädlichere Verhaltensweisen. In MEDIZIN populär spricht Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller über das suchthafte Verlangen nach Sex und Liebe.
 
Von Mag. Andrea Fallent

INTERVIEW

mit Prim. Univ. Prof. Dr. Reinhard Haller
Facharzt für Psychiatrie und stellvertretender Vorstand des Instituts für Suchtforschung der Universität Innsbruck mit Sitz am Krankenhaus Maria Ebene in Frastanz/Vorarlberg

MEDIZIN populär
Herr Primar Haller, wo liegt die Grenze zwischen Spaß am Sex und Sucht nach Sex?

Prim. Haller
Der Unterschied zwischen lustbetonten Menschen mit häufigen sexuellen Kontakten und Sexsüchtigen ist eindeutig. Sexsüchtige sind getriebene Menschen, ständig auf der Suche nach Lustgewinn und Entspannung durch Sex, ohne dabei je ans Ziel zu kommen. Dazu kommen die typischen Anzeichen einer Sucht wie sukzessive Steigerung der Frequenz und Vernachlässigung der übrigen Lebensbereiche wie Familie und Arbeit. Sobald das Handeln Leidensdruck erzeugt – sei es bei sich selbst oder bei anderen –, wird das Verhalten krankhaft und behandlungsbedürftig.

Wie viele Menschen sind von dieser Sucht betroffen?
Die Häufigkeit der Sexsucht wird in der internationalen Literatur mit rund sechs Prozent der erwachsenen Bevölkerung angegeben. In vielen Fällen ist die Sexsucht mit stofflichen Abhängigkeiten kombiniert, vorrangig Kokain, Extasy und Alkohol. Frauen leiden häufig parallel unter Essstörungen. Deshalb wäre es auch wichtig, dass das Thema im Zuge einer Psychotherapie oder eines ärztlichen Gespräches aktiv angesprochen und nicht ausgegrenzt wird.

Welche Ursachen vermutet man hinter der Sexsucht? Ist sie ein Phänomen unserer sexualisierten Gesellschaft?
Die Sexsucht hat nicht mit dem Internetzeitalter begonnen, sondern wird schon lange in Zusammenhang mit illustren Persönlichkeiten überliefert. Ein berühmtes Beispiel war Messalina, die Gattin des römischen Kaisers Claudius, die heimlich der Prostitution nachgegangen ist. Daher stammt auch die Bezeichnung „Messalina-Komplex“. Dann natürlich die Para-debeispiele Casanova und Don Juan, aber auch Katharina die Große, die eine ausgeprägte Nymphomanin gewesen sein soll. Als Ursachen vermutet man eine gewisse genetische Disposition, die man aber noch nicht genau festmachen kann. Es gibt wahrscheinlich auch hormonelle Einflüsse wie ein Übermaß an männlichen Hormonen und eine Reihe von psychologischen Erklärungen. Den Begriff Sexsucht per se prägte im Jahr 1945 Otto Fenichl, ein Freud-Schüler, der sagte: Jedes Ding kann süchtig machen. Vorher wurde Sexsucht mit Begriffen Satyriasis oder Nymphomanie umschrieben.

Unter welchen Entzugserscheinungen leiden Betroffene, wenn sie nicht genug von ihrem Suchtmittel bekommen?
Zu den typischen Symptomen gehören Gefühle von innerer Leere, Langeweile und Sinnlosigkeit, Depressivität und häufig auch psychosomatische Störungen wie Herzbeschwerden, Atemnot oder Magenprobleme.

In Zusammenhang mit der Sexsucht wird auch die Liebessucht genannt. Wo liegen hier die Unterschiede?
Die Sexsucht ist eine Verhaltensstörung, während sich die Liebessucht auf emotionaler Ebene abspielt. In diesem Fall leidet der Betroffene unter dem Gefühl, nicht genug geliebt zu werden, und er sucht immer wieder neue Beziehungen, in denen er sich Liebe erhofft. Der Leidensdruck ist enorm. In Beziehungen sind Liebessüchtige sehr empfindlich und schnell gekränkt. Sie empfinden selbst hinter harmlosen Worten und Gesten Abwertungen und zweifeln ständig daran, ob sie genug Aufmerksamkeit bekommen. Meist beginnt diese Problematik bereits im Elternhaus und weitet sich dann auf zukünftige Partner aus.

Wie sieht die Therapie in beiden Fällen aus?
Bei der Liebessucht kommt meist die klassische Psychotherapie zum Einsatz. Bei der Sexsucht ist die Therapie suchtspezifisch angelegt, kombiniert mit einer Verhaltenstherapie.

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Was heißt hier süchtig?
Kennzeichen der Sexsucht:

  • Kontrollverlust
    Das sexuelle Verhalten gerät außer Kontrolle.
  • Schädlichkeit
    Das sexuelle Verhalten hat negative Folgen.
  • Zwanghaftigkeit
    Trotz der negativen Folgen kann der oder die Betroffene das Verhalten nicht einstellen.
  • Dominanter Verhaltensbereich
    Es wird übermäßig viel Zeit mit sexuellem Verhalten, dem Beschaffen von Sex sowie mit der Verarbeitung von sexuellen Erlebnissen verbracht.
  • Leidensdruck
    Die Betroffenen haben den dauerhaften Wunsch, an ihrem Verhalten etwas zu ändern.
  • Destruktivität
    Selbstzerstörerische und riskante Verhaltensweisen kennzeichnen die Sexsüchtigen.
  • Dosissteigerung
    Es werden immer mehr sexuelle Erlebnisse gesucht, weil die augenblicklichen Aktivitäten zur Befriedigung nicht ausreichen.
  • Emotionale Destabilisierung
    In Zusammenhang mit sexuellen Aktivitäten kommt es zu Stimmungsschwankungen.
  • Einengung des Verhaltens
    Wegen des sexuellen Verlangens vernachlässigen die Betroffenen soziale und berufliche Aktivitäten.

 

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Betroffene berichten

Ich lebe nur noch für meine Beziehungen
Lea, 48, erzählt, wie die Liebessucht ihr Leben beherrscht.
Die meisten Männer, die ich kennen lerne und die Interesse an mir zeigen, fragen mich zunächst, wie das möglich sei, dass eine so attraktive, intelligente, vernünftige und gut situierte Frau keinen passenden Partner findet. Nun, das Finden ist nicht so sehr das Problem, aber sobald ich in einer Sex- und Liebesbeziehung mit einem Mann bin, fängt meine Sucht mit ihrem Zerstörungswerk an. Es ist wie bei der Alkoholsucht: Sobald der erste Schluck getrunken ist, läuft das Programm ab, das nicht mehr zu stoppen ist. Dann will ich immer mehr, will 24 Stunden am Tag mit diesem Mann zusammen sein, sein gesamtes Leben kontrollieren, bin unzufrieden mit dem, was er mir geben kann, vernachlässige meine eigenen Angelegenheiten, lebe nur mehr für diese Beziehung – und mache sie genau damit kaputt.
Viele Beziehungen liefen nach diesem Programm ab. So musste ich meinen Sohn auch als Alleinerzieherin aufziehen, und er hatte es nicht leicht mit mir und meinen wechselnden Liebhabern. Als mir in einer Beratungsstelle gesagt wurde, ich sei beziehungssüchtig, war ich an meinem Tiefpunkt angelangt – mein Leben war völlig aus dem Ruder geraten. Ich fühlte mich so machtlos, dass ich professionelle Hilfe und daraufhin die Meetings der Anonymen Sex- und Liebessüchtigen aufsuchte.
Erst im Lauf der Jahre, in denen ich mich selbst beobachtete, erkannte ich, was in meinem Leben immer wieder falsch lief bzw. mich immer wieder ins Chaos stürzte. Heute übe ich mich im Akzeptieren meines Schicksals, genieße das Alleinsein, meine private Selbstständigkeit und bringe meine anderen Beziehungen in Ordnung: zu Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden, Nachbarn, Kolleginnen.
Als gesund kann ich mich noch nicht bezeichnen, da ich zur Zeit eine langjährige Affäre mit einem gebundenen Mann führe. Mit dieser Distanz funktioniert es gut, da kann die Sucht nicht zuschlagen. Doch ich stelle eine deutliche Besserung meiner Lebensqualität fest. Es zahlt sich aus, hinzuschauen und mutig einiges am eigenen Denken und Verhalten zu ändern.

Liebeskummer verschlimmerte das Problem
Peter, 45, erzählt, wie seine Ehe und weitere Beziehungen durch die Sexsucht scheiterten.
Ab meinem 16. Lebensjahr betrieb ich tägliche Selbstbefriedung. Auch später während der Ehe nahm die tägliche, süchtige Selbstbefriedigung ein fixen Platz in meinem Leben ein. In weiterer Folge habe ich die Suchtdosis durch Kontakte zu Prostituierten und mehrere Affären gesteigert, die letztlich zum Scheitern meiner Ehe führten. Dann kam auch noch das Betrachten von Sexfotos aus dem Internet hinzu. Nach schwerem Liebeskummer vor fünf Jahren fand ich zur Selbsthilfegruppe SLAA. Anfangs führte der regelmäßige Besuch der Meetings zu einer Verbesserung meines Suchtverhaltens. Es gelang mir mit sehr viel Überwindung, drei Monate lang ohne Selbstbefriedigung auszukommen. Nach einer weiteren Enttäuschung in einer Beziehung folgte ein Rückfall in das alte Suchtmuster.
Nachdem ich zudem aufgehört hatte, SLAA-Meetings zu besuchen, wurde die Sucht schlimmer als zuvor. Seit zwei Jahren gehe ich wieder zu den Treffen und beschäftige mich bei jedem Rückfall intensiv mit den Ursachen. Je offener ich mich nach außen hin zeige, je genauer ich mein Suchtverhalten in der Gruppe schildere, je mehr ich meine Vergangenheit akzeptiere und je gelassener ich mit all den Ereignissen des täglichen Lebens umzugehen lerne, umso leichter fällt mir die Abstinenz von der Sexsucht. Seit drei Monaten komme ich ohne Selbstbefriedigung und ohne Sexfotos aus – drei Monate ohne Suchtdruck und ohne Überwindung. Eine Zeit, in der ich keinerlei Entzugserscheinungen verspürt habe, so als ob es diese Sucht für mich nie gegeben hätte.

   

 

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