Faszien im Fokus

Mai 2014 | Medizin & Trends

Mächtiges Netzwerk im Körper
 
Jeder hat es, kaum einer kennt es: das mächtige Netzwerk aus Faszien, das alle Muskeln, Gelenke und inneren Organe umhüllt. Lange Zeit wurde dieses Bindegewebe für totes Füllmaterial gehalten. Jetzt erkennt man seine wichtige Rolle in der Entstehung und Behandlung von Schmerzen im Bewegungsapparat, insbesondere im Rücken.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

Jeder dritte Österreicher wird von Rückenschmerzen geplagt; nicht wenige irren auf der Suche nach Linderung jahrelang durch den Dschungel von Therapiemöglichkeiten. Das Problem: Für eine wirksame Behandlung braucht es eine Diagnose, die zeigt, wo der Schmerz herkommt. Und das ist oft nicht so einfach: Bei 75 Prozent der Betroffenen, so die Ergebnisse einer 2009 im New England Journal of Medicine veröffentlichten Studie, konnten bildgebende Verfahren wie z. B. Röntgen die Beschwerden nicht erklären. Auch mit der zuletzt stärkeren Einbeziehung möglicher psychischer Faktoren konnten längst nicht alle Schmerzpatienten von ihrem Leiden erlöst werden. Nun haben Wissenschafter an der Universitätsklinik Ulm einen weiteren möglichen Schuldigen für die Qualen ausfindig gemacht: „Rückenschmerzen können in vielen Fällen von Faszien ausgelöst werden“, hat der Humanbiologe, Psychologe und Körpertherapeut Dr. Robert Schleip herausgefunden, der das Ulmer Forscherteam leitet.
Damit rücken Körperteile in den Fokus der Medizin, die jeder hat, aber kaum einer kennt: Faszien. Nach der an der Harvard Medical School in Boston festgelegten Definition umhüllt das weiße, faserige Bindegewebe wie ein Netzwerk unsere Muskeln, Muskelfasern, Gelenkkapseln und inneren Organe, es bezeichnet aber auch bandartige Strukturen wie die Achillessehne. Wie Faszien aussehen, macht der Experte für Neuroanästhesie und neuromuskuläre Erkrankungen Priv. Doz. Dr. Werner Klingler deutlich, der zu Robert Schleips Team gehört: „Die Faszien des Menschen sehen aus wie das Weiße, das wir von einem Steak wegschneiden, bevor wir es braten.“

Verklebt, verdickt, qualvoll

Früher hielt man dieses Netzwerk für passives Füllmaterial und schenkte ihm wenig Beachtung. Doch Schleip und sein Forscherteam fanden heraus, dass Faszien höchst aktiv sind. Das gelang u. a. mit einem neuen bildgebenden Ultraschallverfahren, der Elastographie. Schleip: „Damit konnte gezeigt werden, dass die Lendenfaszie bei Patienten mit chronischem Schmerz im Lendenwirbelbereich weniger gleitfähig ist als bei Gesunden. Das deutet auf Verbackungen, also Verklebungen zwischen den Schichten hin.“ Darüber hinaus, ergänzt Klingler, „kann man auf den Bildern sehen, dass die Lendenfaszie bei den Schmerzpatienten um bis zu 25 Prozent dicker ist“. Damit nicht genug: Man stellte außerdem fest, dass von diesen Verklebungen und Verdickungen vergleichsweise starke und lang anhaltende Schmerzen ausgehen. Als „erschöpfend“, „quälend“ bis „folternd“ beschrieben Versuchspersonen die Pein, die sie spürten, nachdem ihnen eine reizende, chemische Lösung in die Faszien gespritzt wurde. Den Schmerz nach Injektionen in Muskeln und das Unterhautbindegewebe empfanden sie hingegen nur als „lokal begrenzt“, „stechend“ und „ziehend“.
Außerhalb des Versuchslabors werden Faszien durch zu wenig oder zu einseitige Bewegung, durch Fehlhaltungen oder Überlastungen beim Sport gereizt. Das hat zur Folge, dass die Fasern verdicken bzw. verkleben, das Netzwerk fester wird – und schmerzt. Und das nicht nur im unteren Rücken: Auch Schmerzen in Na­cken, Schulter, Knie, Achillessehne und Waden werden nach Schleips Erfahrungen oft von verdickten Faszien ausgelöst, ebenso ein Tennisellenbogen und Karpaltunnelsyn­-
d­rom.

Wärme, manuelle Therapie

Was man gegen Faszienschmerzen tun kann? Im Akutfall rät Mediziner Klingler zur Anwendung von Wärme, deren heilender Effekt sogar in einer Metaanalyse nachgewiesen wurde: „Es kann schon hilfreich sein, eine Wärmflasche auf die schmerzende Stelle zu legen oder in die Sauna zu gehen“, so Klingler. Aufgrund der neuen Erkenntnisse über Faszienschmerzen bekommen zudem bestimmte manuelle Therapien mehr Gewicht, die so wie die Faszien selbst bis vor einigen Jahren eher ein Schattendasein führten. Dazu gehört allen voran das Fasziendistorsionsmodell, nach dem auch in Österreich einige Mediziner und Therapeuten arbeiten.
So z. B. Dr. Lukas Trimmel, Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Osteopath in Wien: „Das Fasziendistorsionsmodell geht davon aus, dass es sechs mögliche Störungen der Faszien gibt“, erklärt er. Mit geschultem Blick sei aufgrund der Beschreibung des Schmerzes durch den Patienten zu erkennen, um welche Störung es sich handelt und wie sie zu therapieren ist. „Die Behandlung besteht darin, mit den Händen das Gewebe im Bereich des Schmerzes wieder in Ordnung zu bringen“, erklärt Trimmel. „Dafür ist es manchmal nötig, mit viel Kraft und großem Druck zu arbeiten, was sehr schmerzhaft für die Patienten werden kann.“ Doch so können viele Schmerzen im Bewegungsapparat beseitigt werden, am häufigsten behandelt Trimmel Menschen mit Rückenproblemen. Um welche Schmerzen es sich auch handelt, „im Durchschnitt reichen etwa drei Behandlungen aus, um sie zu beseitigen“, sagt er. Mit Bewegung kann man verhindern, dass das Problem wiederkehrt (siehe unten).

Wenn Faszien Nerven einengen

Was passiert, wenn man nichts gegen den Faszienschmerz unternimmt? „Bleibt das Bindegewebe verfestigt, übt es Kräfte auf die Muskeln und Gelenke aus, die zu Reizungen, Entzündungen und zusätzlichen Schmerzen führen können“, nennt Klingler mögliche Folgen. Manchmal kommt es durch verdickte Faszien auch zu schmerzhaften Einengungen von Nerven, die sich z. B. in einem Karpaltunnelsyndrom äußern können. „Dagegen hilft oft nur noch eine Operation, bei der die Hülle der Fasern aufgespalten wird“, erklärt Klingler.
In der Chirurgie sind Faszientherapien im Übrigen vergleichsweise gängig: So werden verletzte Hirnfaszien z. B. bei Unfallpatienten durch Transplantate von Toten ersetzt. Chirurgisch eingegriffen wurde lange Zeit auch gegen die schwerste Faszienkrankheit, die nekrotisierende Fasziitis: „Bei dieser Krankheit wandern Bakterien, die über eine Wunde in den Körper eingedrungen sind, die Faszien entlang und bringen sie zum Absterben“, erklärt Klingler. Die einzig mögliche Rettung Erkrankter vor dem Tod war oft die Amputation. Doch seit es bakterienabtötende Antibiotika gibt, ist diese Krankheit fast ausgestorben. Mag sein, dass mit ihr auch das mächtige Netzwerk in uns bis vor kurzem weitgehend in Vergessenheit geriet.

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Was sind Faszien?
 
Als Faszien (vom Lateinischen für Band, Bündel) wird das weiße, faserige Bindegewebe bezeichnet, das wie ein Netzwerk um die Muskeln, Gelenkkapseln und inneren Organe gespannt ist. Faszien sind zwischen Bruchteilen eines Millimeters und zwei Zentimeter dick. Sie dienen nicht nur als Formgeber, Schutz und Stütze, sie verstärken auch die Kraft, die von Muskel zu Muskel übertragen wird, „in etwa so wie die Servolenkung beim Auto die Lenkkraft steigert“, verdeutlicht der Ulmer Faszienexperte Priv. Doz. Dr. Werner Klingler.
Darüber hinaus haben Faszien – wie auch die Gelenke und Nerven – Sinnesrezeptoren, die es uns ermöglichen, den Körper wahrzunehmen: „Sie tragen dazu bei, dass wir trotz geschlossener Augen zum Beispiel wissen, wo sich unser Kopf im Raum befindet“, beschreibt es Faszienforscher Dr. Robert Schleip. Und schließlich hat auch der Faszienschmerz eine Funktion: „Er ist ein Alarmsignal des Bewegungsapparats, der uns vor Schlimmerem schützen soll“, ist Schleip überzeugt.

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Was ist gut für die Faszien?

Mit Übungen aus dem Yoga und Pilates, „bei denen nahe an der Haut gedehnt wird“, lassen sich laut dem Experten Dr. Robert Schleip Faszien trainieren. Welche Bewegungsarten dem Bindegewebe besonders gut tun, wollen Schleip und sein Ulmer Forscherteam jetzt in einer Studie mit 300 Teilnehmern herausfinden. „Offenbar sind federnde Bewegungen, wie man sie etwa beim Tanzen oder Joggen ausüben kann, günstig für die Faszien“, verrät Schleip erste Ergebnisse. Als Ergänzung ideal: Ein spezielles Faszientraining, das auf Basis der bisherigen Forschungsergebnisse kreiert wurde. Ein Beispiel: Mit Hilfe einer festen Schaumstoffrolle werden die Bindegewebsstrukturen z. B. am äußeren Oberschenkel unter Druck gebracht. Indem sie unter diesem Druck nachgeben, werden Verklebungen in den Faszien gelöst.
Diese und andere Übungen finden Sie auf: www.fascial-fitness.de

Webtipp:
Informationen über das Fasziendistorsionsmodell und Kontaktdaten von Therapeuten in Österreich auf www.fdm-europe.com

Stand 04/2014

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