Wenn die Nerven verrückt spielen

Juli 2008 | Medizin & Trends

Alles über den Neuropathischen Schmerz
 
Der Nervenschmerz, in der Fachsprache „Neuropathischer Schmerz“ genannt, ist ein quälendes Leiden, das in Österreich rund 200.000 Menschen das Leben schwer macht. In MEDIZIN populär sprechen ein Experte und eine Betroffene über diese weitgehend unbekannte Erkrankung.
 
Von Mag. Michael Krassnitzer

All meine Gedanken waren auf meine Schmerzen ausgerichtet“, erzählt Sabine Waste: „Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn man den ganzen Tag vom Schmerz beherrscht wird.“ Es war eine extrem starke rheumatische Erkrankung, von der die ehemalige Personalchefin eines großen Konzerns im wahrsten Sinne des Wortes hingestreckt wurde: Sie litt unter derartig heftigen Schmerzen, dass sie sich kaum noch bewegen und nur mit Mühe sprechen konnte. „Ich war nur noch verzweifelt“, berichtet Waste.
In erster Linie kamen die unerträglichen Schmerzen vom Rheuma, doch bei einem Teil handelte es sich um eine andere Art von Schmerz: den so genannten Nervenschmerz oder „neuropathischen Schmerz“. Das ist eine besondere Form des chronischen Schmerzes, von der nicht weniger als 200.000 Österreicher betroffen sind – die aber weitgehend unbekannt ist.
Als Nervenschmerz bezeichnet man Schmerzen, bei denen es keinen erkennbar verantwortlichen Schmerzreiz gibt oder die ursprüngliche Schmerzursache bereits ausgemerzt wurde. Dieser Schmerz hat sich verselbstständigt und seine eigentliche Funktion als mitunter lebensnotwendiges Warnsignal verloren.

NERVEN GEBEN FALSCHE SIGNALE
Ursache des Nervenschmerzes sind geschädigte Nervenfasern. Der Nerv reagiert überempfindlich, oft schon bei geringsten Reizen. Betroffene berichten von Empfindungen wie Kribbeln oder brennenden, bohrenden, messerstichartigen, schneidenden, zerreißenden Schmerzen, die plötzlich einschießen und ausstrahlen können. Weil geschädigte Nervenbahnen falsche Signale ans Gehirn weiterleiten, wird der Schmerz nicht dort gefühlt, wo er entsteht.
Geschädigt werden die Nerven durch Entzündungen oder Verletzungen. Als die drei häufigsten Ursachen dafür nennt Prim. Univ. Prof. Dr. Heinrich Binder, Vorstand des Neurologischen Zentrums des Otto Wagner Spitals in Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurorehabilitation, Diabetes, Alkoholismus und ausgeprägten Vitaminmangel infolge falscher Ernährung. Weitere Auslöser von neuropathischen Schmerzen können eine Krebserkrankung, eine Gürtelrose (Herpes Zoster) oder Entzündungserkrankungen – wie das Rheuma im Fall von Frau Waste – sein. Auch die gefürchtete Trigeminus-Neuralgie ist eine Neuropathie: Diese Schmerzen können durch eine Schädigung des Gesichtsnervs nach einer Zahnbehandlung (Zahnreißen, Implantatentfernung oder -einsetzung) auftreten.
Neuropathischer Schmerz kann jedoch nicht nur vom peripheren Nervensystem – also von dem, was man gemeinhin „Nerven“ nennt – ausgehen, sondern auch vom Zentralnervensystem, also von Gehirn und Rückenmark. Nervenschmerz ist auch die mögliche Folge eines Schädel-Hirn-Traumas oder einer Querschnittlähmung. Auch jene im Volksmund als „Spastiker“ bezeichneten Menschen, die an einer Infantilen Zerebralparese, einer Bewegungsstörung infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung, erkrankt sind, leiden oft unter neuropathischem Schmerz. Etwa ein Drittel der Schmerzen nach einem Schlaganfall sind Nervenschmerzen.

KEINE EINGEBILDETE KRANKHEIT
Obwohl nach Angaben der Österreichischen Schmerzgesellschaft (ÖSG) rund 200.000 Österreicher unter neuropathischen Schmerzen leiden, ist diese Erkrankung kaum bekannt. „Ich kenne Leute, die haben jahrelange Leidenswege hinter sich“, berichtet Sabine Waste, die nach ihrer Genesung den Verein „help 4 you company“ ins Leben gerufen hat. Der Verein will unter anderem dem Thema Nervenschmerz mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit verschaffen (siehe nächste Seite).
„Man müsste insbesondere der Schmerzbehandlung viel mehr Aufmerksamkeit schenken“, wünscht sich Primarius Heinrich Binder: „Glücklicherweise nimmt der Stellenwert der Schmerztherapie immer mehr zu.“ Der Neurologe verweist in diesem Zusammenhang auf das kürzlich ins Leben gerufene „Schmerzdiplom“ der Österreichischen Ärztekammer.
Und Sabine Waste empfiehlt, dass Schmerzgeplagte sich in Zukunft am besten an Ärzte wenden sollen, die diese spezielle Zusatzqualifikation erworben haben. Noch einen Tipp hat sie parat: „Wer unter scheinbar unerklärlichen Schmerzen leidet, sollte auf jeden Fall seinen Hausarzt bitten, ihn zu einem Neurologen zu überweisen.“ Nervenschmerzen sind nämlich alles andere als eine eingebildete Krankheit. Mit bestimmten elektrophysiologischen Tests oder Sensibilitätstests mit genau definierten Reizen lassen sich die zugrunde liegenden Nervenschädigungen eindeutig diagnostizieren.
Und die Nervenschmerzen können auch erfolgreich behandelt werden. Eine Reihe von Möglichkeiten steht hier zur Verfügung: z. B. spezielle Massagen und Medikamente; oder invasive Methoden, das heißt: Medikamente werden mittels Pumpe direkt an die geschädigten Nerven gebracht oder Elektroden werden im Gehirn platziert.

SCHMERZ UNBEDINGT BEHANDELN!
Bei der Behandlung von Nervenschmerzen geht es zunächst um die Unterdrückung des Schmerzes. Denn zum einen ist die Diagnose der dahinter liegenden Ursache schwierig und langwierig – so lange zu warten, ist den Betroffenen nicht zuzumuten. Zum anderen darf Schmerz nicht zu lange unbehandelt bleiben, sonst brennt er sich in das „Schmerzgedächtnis“ ein – die Nervenzellen des Schmerzzentrums verändern ihre Aktivität, so dass schon der leichteste Reiz als Schmerz empfunden wird. „Chronische Schmerzen müssen behandelt werden, andernfalls können unumkehrbare Schäden entstehen“, warnt Schmerzexperte Binder.
Natürlich muss auch der Auslöser der neuropathischen Schmerzen gefunden und nach Möglichkeit beseitigt werden. So ist es zum Beispiel bei Diabetikern unumgänglich, dass der Blutzuckerspiegel richtig eingestellt ist. Bekommt man die Grunderkrankung in den Griff, so kann der Betroffene sogar ohne dauernde Schmerztherapie wieder schmerzfrei werden.

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Nervenschmerz

Was ist das?

Der Neuropathische Schmerz unterscheidet sich von anderen Schmerzarten in drei gravierenden Punkten:

  • Dieser Schmerz wird nicht dort gefühlt, wo er entsteht, da geschädigte Nervenbahnen falsche Signale ans Gehirn weiterleiten.
  • Übliche Schmerzmedikamente helfen oft nicht.
  • Die Experten für diese Erkrankung sind Neurologen und Schmerzmediziner.

 

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KONTAKTTIPP: Hilfe bei Nervenschmerz

„Wir wollen zeigen, dass man sich trotz Nervenschmerz gut fühlen und mitten im Leben stehen kann“, erklärt Sabine Waste. Die ehemalige Managerin ist Leiterin des gemeinnützigen Vereins „help 4 you company“, der sich als Anlaufstelle für Menschen mit Nervenschmerz und Rheuma versteht. Die Organisation bietet telefonische Beratung auf einer Hotline, aber auch persönliche Beratung sowie Informationen, Begleitungsdienste, Erledigung von Amtswegen und Unterstützung in Rechtsangelegenheiten.
Waste hat ein Netzwerk von Therapeuten und Ärzten aufgebaut, darunter österreichische Neurologen, die diese Arbeit unterstützen. Um dem Thema Nervenschmerz einen entsprechenden Platz in der Öffentlichkeit zu sichern, organisiert die „help 4 you company“ regelmäßig Informationsveranstaltungen.

Internet: www.help4youcompany.at
E-Mail: infono@sonicht.help4youcompany.at

BUCHTIPP:

Graninger u.a., Schluss mit Schmerzen. Strategien gegen Ihr Leiden,

ISBN 978-3-901488-91-7
100 Seiten € 12,90 Verlagshaus der Ärzte

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