Immer mehr Problemkinder:

Juni 2011 | Gesellschaft & Familie

Was Österreichs Jugend krank macht
Laut aktuellen Daten haben immer mehr Jugendliche in unserem Land Probleme mit Alkohol, Essstörungen, Gewalt. Doch wie Experten betonen: Kein Teenager kommt trunk- oder magersüchtig, aggressiv oder depressiv zur Welt. Die Weichen für die Schwierigkeiten werden allerdings in vielen Fällen bereits in frühester Kindheit gestellt. Und hier liegt in der heutigen Zeit einiges im Argen.
Lesen Sie, warum Österreich immer mehr Problemkinder hat.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Fast ein Drittel der 15-Jährigen raucht regelmäßig, ein Drittel war bereits mindestens zwei Mal betrunken, ein Fünftel hat mit Übergewicht bzw. einer Essstörung zu kämpfen und rund ein Viertel der Jugendlichen ist selbst oder indirekt von Gewalt betroffen. Das ist das Ergebnis einer aktuellen OECD-Studie, die zeigt: Was Risikoverhalten und gesundheitliche Probleme angeht, sind Österreichs Kinder und Jugendliche europaweit traurige Spitzenreiter. Nun kommt keines der Problemkinder als kettenrauchender Rowdy oder als sich regelmäßig betrinkende Magersüchtige zur Welt. Die Weichen für psychosoziale Probleme werden allerdings in vielen Fällen schon in frühester Kindheit gelegt: Wie eine deutsche Langzeitstudie zeigt, wirken sich frühkindliche Belastungen langfristig auf das Wohlergehen aus (siehe Kasten). Vor diesem Hintergrund sind Österreichs Kinder auch zukünftig stark gefährdet: 20.000 bis 40.000 der unter Vierjährigen und fünf bis zehn Prozent aller Kinder wachsen in belastenden Situationen auf. Hohe Scheidungs- und niedrige Geburtenraten verschärfen die Situation zusätzlich. Erst vor kurzem schlugen Experten deshalb wieder Alarm: Sie fordern umfassende Maßnahmen, um die Ressourcen von Familien zu stärken und damit bessere Entwicklungsbedingungen für den Nachwuchs zu schaffen. „Denn die Kinder und Jugendlichen sind nicht das Problem, sie haben ein Problem“, sagt Prim. Dr. Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit.

Streit, Armut, Unsicherheit, Gewalt

Was macht Österreichs Jugend derart krank? Was genau beeinträchtigt die kindliche Entwicklung? Und wann spricht man von einer „belastenden Situation“? „Zu den wichtigsten gesundheitlichen Risikofaktoren zählen eine chronische Streitbeziehung der Eltern, Armut, eine Umgebung ohne sichere Bindungen, eine kleine Wohnfläche und Gewalterfahrung in der Kindheit“, fasst Vavrik zusammen. Gesellschaftliche Entwicklungen – z. B. eine Scheidungsrate von rund 60 Prozent – sorgen für zusätzlichen Druck. „Die Familienkonstruktionen sind im Vergleich zu früher nicht mehr sehr stabil“, sagt der Wiener Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Weiters habe eine Geburtenrate von 1,3 Kindern pro Frau Konsequenzen für das Kindeswohl. „Dieses eine Kind, das eine Familie im Durchschnitt bekommt, muss alle Erwartungen erfüllen, die sich sonst auf mehrere Kinder aufteilen – es soll perfekt sein“, verdeutlicht der Arzt. Der Mix aus belastenden Faktoren ergebe quasi „ein Druckfeld“ rund um die Kinder, die darauf sehr unterschiedlich reagieren können.

Aggression oder Rückzug

Steht ein Kind unter Druck, könne sich dies auf zwei Ebenen äußern: Erhöhte Belastung kann zum einen den Selbstwert des Kindes beeinträchtigen – also das Bild, das ein Kind von sich selbst hat, ob es sich geschätzt fühlt oder nicht. Zum anderen wirkt sich Druck auf das Sozialverhalten der Mädchen und Buben aus und schlägt sich in ihrem Umgang mit anderen nieder. „Überforderte und überlastete Kinder verhalten sich über längere Zeit sehr unruhig und zeigen sogenannte Impulskontrollstörungen. Das heißt, dass sie schnell auf andere hinschlagen, zwicken oder beißen“, verdeutlicht Vavrik. Auch anhaltende Rückzugstendenzen sind ein möglicher Hinweis auf „Überdruck“: „Es kann sein, dass Kinder still und eher depressiv werden und sich nichts zutrauen.“
Umgekehrt gilt: Hat ein Kind Zutrauen zu sich und Vertrauen in die Welt, kann man von einer guten Entwicklung ausgehen. „Das zeigt sich einerseits darin, dass das Kind zufrieden mit sich selbst und der Familiensituation ist, dass es sich geborgen fühlt und gut zur Ruhe kommen kann“, präzisiert der Facharzt. „Andererseits traut das Kind sich mutig in die Welt hinaus, es hat Freunde und wird in seinem Freundeskreis geschätzt.“

Lebenselixier Liebe

Wie nun können Eltern – und andere Bezugspersonen – den Nachwuchs von Beginn an stärken und fördern? „Der wichtigste Wirkfaktor ist sicherlich Liebe“, betont Dr. Katharina Kruppa, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde und Psychotherapeutin in Wien. „Es geht dabei um Beziehung und Kontakt, darum, das Kind wahrzunehmen und auf seine Kontaktversuche adäquat zu reagieren.“ Ein Beispiel: Wenn ein Baby weint, gilt es im ersten Schritt wahrzunehmen: „Aha, mein Kind braucht etwas“. Danach sollte man im Kontakt mit dem Kind herausfinden, was ihm fehlt: Nahrung? Körperliche Zuwendung? Ruhe?
Indem man von Anfang an mit dem Kind in Kontakt ist, auf seine Signale reagiert und diese beantwortet, kann es verschiedene Kernkompetenzen ausbilden. „Als erstes entwickelt das Kind Urvertrauen, also das Wissen: Es gibt mich, ich darf da sein und werde wahrgenommen“, verdeutlicht Kruppa, Leiterin der Baby-Care-Ambulanz am Preyerschen Kinderspital. Auch die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse richtig zuzuordnen, bildet sich dadurch aus. „Feinfühlige Eltern, die emotional für die Signale ihrer Kinder verfügbar sind, fördern zudem eine sichere Bindungsentwicklung ihrer Kinder“, ergänzt Doris Staudt, akademische mobile Frühförderin, Familienbegleiterin und „SAFE®“-Mentorin in Wien. Das fällt Müttern und Vätern aber oft schwer, zumal wenn sie selbst diesbezüglich Defizite in ihrer Kindheit erfahren mussten. Staudt fordert daher mehr Unterstützung für Eltern, wie es z. B. das Pilotprojekt „SAFE®“ geboten hat. Schließlich ist eine sichere Bindung ein kindliches Grundbedürfnis. „Bindung ist das wichtigste nicht-stoffliche Lebensmittel“, betont Kinderarzt Vavrik.

Bindung und Forscherdrang

Erst auf Basis einer sicheren Bindung, kann der Nachwuchs einem weiteren grundlegendem Bedürfnis nachkommen – dem Forscherdrang. „Kinder haben dadurch den Rückhalt, in die Welt hinauszugehen und diese zu erforschen“, veranschaulicht Staudt. „Dies tun zwar auch Kinder mit unsicherer Bindung, es ist aber wissenschaftlich erwiesen, dass sie dabei einen erhöhten Stresspegel haben und sich bei weitem nicht so intensiv mit ihrer Umwelt auseinandersetzen können wie sicher gebundene Kinder.“
Dass Bindung stärkt, belegen verschiedene Untersuchungen: „Kinder mit sicherer Bindung sind oft feinfühliger, sozialer und sprachlich besser entwickelt, sie sind kreativer und weniger aggressiv“, berichtet Staudt. Sichere Bindung stelle außerdem einen Resilienz-, also einen Schutzfaktor dar: „Die Kinder können sehr kritische, belastende Situationen oft besser als andere bewältigen.“    

Gefährliche Vernachlässigung

Problematisch wird es, wenn ein Kind auf diese Zuwendung verzichten muss und das Umfeld nicht adäquat auf seine Bedürfnisse reagiert. Wird ein Kind vernachlässigt, so wächst es weniger – und zwar auf seelischer, körperlicher, und geistiger Ebene. Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen „psychosozialen Minderwuchs“. Kruppa: „Viele der späteren psychischen und psychiatrischen Erkrankungen werden in der frühen Kindheit angelegt.“ Die körperlichen Auswirkungen von Vernachlässigung oder gar Misshandlung sieht man schon früher: an den blauen Flecken eines Fünfjährigen etwa, der für sein Alter auffallend klein ist. „Ein Kind, das massiv vernachlässigt wird, wächst weniger, selbst wenn es ausreichend gefüttert wird“, erklärt die Kinderärztin. Und auch die geistigen Folgen von einem Mangel an Zuwendung lassen sich messen: Wird mit einem Kind zu wenig kommuniziert, so bleibt sein Gehirn nachweislich kleiner, weil es nicht gefordert wird. „Das Gehirn lernt ja nur über Kommunikation“, erläutert Kruppa. „Dahinter steckt ein ,Use it or lose it‘-Prinzip. Das bedeutet, dass sich alle Neuronen, die verwendet werden, weiterentwickeln. Und jene, die nicht in Gebrauch sind, verkümmern zunehmend.“
Aber nicht nur mangelhafte, auch falsche Kommunikation habe dramatische Auswirkungen. Fachärztin Kruppa gibt ein Beispiel: „Ein Kind schreit, weil es ein Bedürfnis hat. Bei der Bezugsperson läuft indessen innerlich der Film ab: Das Kind ist aggressiv. Und dann sperrt man es ein, statt sein Bedürfnis zu stillen.“ Weiters schaden undifferenzierte Verbote und ständige Neins der Entwicklung. „Wenn die Welt nur aus Nein besteht, haben die Kinder zu wenige Lernmöglichkeiten.“

Zuwendung, Zärtlichkeit, Zeit

Trotz der großen Verantwortung, die Eltern für ihre Kinder haben, gehe es aber weder um Perfektion noch um ein „Super-Fördern“, wie Katharina Kruppa betont: „Man sollte weder von den Kindern noch von sich selbst als Bezugsperson übermäßig viel erwarten“, so die Ärztin. „Was zählt, ist ein selbstverständliches miteinander Lernen und Wachsen.“ Und der Rat von Kinderfacharzt Vavrik an verunsicherte Eltern lautet: „Wenn Sie ausreichend Zuwendung, Zärtlichkeit und Zeit für Ihr Kind aufwenden, ist das Wichtigste schon getan.“

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Kinder sind heute anders krank:
Politik ist gefordert

Gesundheitsförderung und -prävention im Bereich der Kinder- und Jugendgesundheit sind in Österreich nicht sehr gut ausgebaut, kritisieren Experten. „Es braucht eine systematische Datenerfassung über Kindergesundheit, um intervenieren und Maßnahmenpläne entwickeln zu können“, betont Prim. Dr. Klaus Vavrik, Präsident der Österreichischen Liga für Kinder- und Jugendgesundheit. „Die Risikofaktoren und Krankheitsbilder von Kindern und Jugendlichen haben sich in den letzten Jahrzehnten stark geändert: Nicht mehr die klassischen Infektions- und Mangelkrankheiten stellen die heutige Bedrohung dar.“ Vielmehr leiden Kinder heute an sogenannten Lebensstilerkrankungen aufgrund von falscher Ernährung, zu wenig Bewegung und schlechter Körperhaltung. Aber auch chronische Entwicklungsstörungen wie z. B. Sprach- und Lernstörungen machen immer mehr Mädchen  und Buben in Österreich zu Problemkindern. Dazu kommen zunehmend die sogenannten psychosozialen Integrations- und Regulationsstörungen wie Bindungsstörungen, Depressionen, Suchtverhalten.
Für diese (neuen) Herausforderungen sei das Gesundheitssystem noch nicht ausreichend eingerichtet. „Wir haben zwar eine wunderbare Versorgung in der allgemeinen Kinderheilkunde, im Fall notwendiger Therapien jedoch – seien es Psycho-, Logo-, Ergotherapien – gibt es jahrelange Wartezeiten.“ Ein Grund sei die nachteilige Verteilung der Gesundheitsausgaben: „Kinder und Jugendliche machen etwa  20 Prozent der Bevölkerung aus, sie erhalten aber maximal sechs Prozent der Gesundheitsausgaben. Es gibt kaum kostenfreie Therapien für Kinder, was einmal mehr bedeutet: Armut macht krank.“ Dies gelte ganz besonders für manche soziale Schichten und bestimmte Regionen: „Es gibt immer noch sehr viele Kinder – ob in entlegenen ländlichen Gebieten oder in Ballungszentren –, die in Armut leben. Sie haben nachweislich schlechtere Gesundheitswerte“, betont der Arzt.

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Mannheimer Risikokinderstudie:
Die Folgen von Belastung

Dass belastende Situationen (z. B. Beziehungsprobleme der Eltern, Armut, beengte Wohnverhältnisse) in der Kindheit die Gesundheit langfristig beeinträchtigen, bestätigt eine deutsche Langzeitstudie – die Mannheimer Risikokinderstudie: „Kinder, die unter Belastungen aufwachsen, weisen später etwa zehn Mal so hohe Suchtraten auf, es kommt bei ihnen drei Mal so häufig zu auffälligem Verhalten, und sie haben etwa doppelt so oft depressive Störungen wie andere“, fasst Kinderfacharzt Prim. Dr. Klaus Vavrik die wichtigsten Ergebnisse zusammen. In Ländern wie z. B. Deutschland werden die Risikofaktoren mittlerweile systematisch erfasst und beobachtet – und es wird, wenn notwendig, interveniert. Vavrik: „In der Folge konnten die Missbrauchs- und Kriminalitätsraten um mehr als die Hälfte reduziert werden.“

Buchtipp:
Dr. med. Peter Voitl, Was fehlt meinem Kind?
ISBN 978-3-902552-14-3, 344 Seiten, € 24,90
Verlagshaus der Ärzte

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