Patchworken: Wie das Miteinander gelingen kann

November 2016 | Gesellschaft & Familie

Liebespartner trennen sich und kommen mit neuen Partnern zusammen. Bringt wenigstens einer der Neo-Partner Kinder mit, entsteht eine Patchworkfamilie. Aufgrund der hohen Scheidungsrate ist das Modell stark im Kommen: In Österreich ist knapp jede zehnte eine solche Stieffamilie.
Die bunt zusammengewürfelte Gemeinschaft bringt Vielfalt in den Alltag, sie birgt allerdings auch jede Menge Zündstoff.
Lesen Sie, wie das „Patchworken“ allen Herausforderungen zum Trotz ein Gewinn für Kids und Eltern werden kann.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Ehe er sich verliebte war der 39-jährige Max ein eingefleischter Single. Umso schwieriger für ihn, dass er mit seiner neuen Freundin Lydia gleich zwei Kinder im Kleinkindalter dazu bekommen hat. Die 14-jährige Jana wiederum lehnt die neue Partnerin ihres Vaters massiv ab. Und Roland, Ex der 38-jährigen Sandra, macht deren neuen Lebensgefährten regelmäßig vor den gemeinsamen Kindern schlecht. Probleme wie diese sind in herkömmlichen Familien unbekannt, in Stieffamilien hingegen gang und gäbe: Wenn unterschiedliche Welten, Erfahrungen und Erziehungsstile aufeinanderprallen, sorgt das für jede Menge Zündstoff.

Abschied von Altem:
SCHWIERIGER NEUANFANG

Dass der Start für eine Stieffamilie oft holprig verläuft, liegt in der Natur der Sache. Der neuen Gemeinschaft geht immer eine Trennung oder Scheidung – und damit ein einschneidendes oder sogar traumatisches Erlebnis – voraus. „Kinder und Eltern müssen von der Ursprungsfamilie Abschied nehmen“, betont Dr. Ekkart Schwaiger, Facharzt für Psychiatrie, Familien- und Paartherapeut in Wien. Besonders schwierig wird es für Kinder, die immer noch hoffen, dass die Eltern wieder zusammenfinden. Sie erleben den Neuen als Eindringling oder Schuldigen, dass Papa und Mama nicht mehr zusammenkommen. Oft empfinden sie es auch unbewusst als Verrat am anderen Elternteil, wenn sie die neue Freundin oder den neuen Freund akzeptieren, selbst wenn die- oder derjenige noch so lieb ist.
Hier könnten klärende Worte helfen: Mama und Papa leben zwar nicht mehr miteinander, sie bleiben aber nach wir vor eure Eltern. Der/die Neue ist nicht euer neuer Papa/eure neue Mama.

Mama, Papa und ich!
KINDERWUNSCH NACH KERNFAMILIE

Während das neue Paar vielleicht von einer schönen neuen Familie träumt, hängen die Kinder ihren eigenen Wünschen nach: Mama und Papa sollen wieder zusammenkommen! „In Studien sehen wir, dass Kinder sehr geprägt sind von der Ideologie der Kernfamilie, der klassischen Vater-Mutter-Kind Konstellation. Andere Familienformen nehmen sie oft gar nicht als ‘richtige’ Familien wahr“, weiß die Soziologin Ass. Prof. Dr. Ulrike Zartler von der Universität Wien.    
Steht fest, dass die Eltern nicht mehr zusammenkommen, möchten sie Mama oder Papa für sich allein haben – und nicht mit dem neuen Partner teilen. Speziell, wenn ein Kind schon längere Zeit mit einem Elternteil allein gelebt hat, ist es schwer zu ertragen, verdrängt zu werden. Eine massive Ablehnung des Neuen kann zu einer großen Belastungsprobe für die Liebesbeziehung werden. „Es bedarf einer hohen Frustrationstoleranz, sonst mündet der ständige Frust womöglich in einen explosiven Ärger oder in eine Depressivität“, warnt Schwaiger.
Versetzen Sie sich außerdem in die Lage des Kindes: Wie würde es mir gehen, wenn ich plötzlich mit einem quasi fremden Menschen bzw. mit anderen Kindern zusammenleben müsste?
Schließlich können sich auch Probleme im (neuen) Geschwisterverbund ergeben, wenn zum Beispiel das Nesthäkchen plötzlich zum Sandwichkind wird oder die größere Schwester einen älteren Bruder bekommt.

Reden, reden, reden:
GEHEN SIE DAS PROJEKT BEHUTSAM AN!

Wie lange sich ein Paar mit dem Zusammenziehen Zeit lassen sollte, ist von Fall zu Fall unterschiedlich. „Man kann allerdings viel richtig machen, indem man nicht übereilt vorgeht“, empfiehlt die Wiener Familienberaterin Christine Bischof. Idealerweise trifft man sich vorab regelmäßig, um in der Runde die Pläne zu besprechen. Alle, ganz besonders die Kinder, sollten die Möglichkeit haben, ihre Gedanken, Gefühle, Wünsche, Ängste und Widerstände frei auszudrücken. „Die meisten Probleme entstehen, wenn man Dinge nicht beim Namen nennen kann“, ist Bischof überzeugt. Zudem stärke es die Kinder, wenn sie skeptisch oder ablehnend sein können, ohne verurteilt oder belehrt zu werden. Man sollte den Kindern stets ein Mitsprache-, nicht aber das Entscheidungsrecht einräumen – diese Verantwortung bleibt bei den Erwachsenen. In den Gesprächsrunden lernen sich die Familienmitglieder in spe besser kennen.

Keine Konkurrenz zur Kernfamilie:
WOHNGEMEINSCHAFT STATT FAMILIE

Schrauben Sie außerdem Ihre Erwartungen zurück: Starten Sie das „Projekt Patchworken“, indem Sie eine Wohngemeinschaft – und nicht gleich eine Familie – gründen.
Den Kindern könnte man das so kommunizieren: Der Papa ist aus unserer Wohngemeinschaft ausgezogen, der Franz wird unser neues WG-Mitglied.
Damit bannt man die mögliche Angst der Kinder, der oder die Neue könnte die Rolle eines Elternteils übernehmen. Als neues WG-Mitglied hat man bestimmte Pflichten, aber kein Erziehungsrecht – das bleibt den biologischen Eltern vorbehalten.
Schließlich mache es einen großen Unterschied, ob die Biologie oder quasi der Zufall einen zusammenbringt, betont Bischof. „Bei den biologischen Eltern fühlen die Kinder sich von vornherein sicher, dass sie geliebt werden.“

„Du bist nicht mein echter Papa!“
UNDANKBARE ROLLE DER STIEFELTERN

Der neue Partner sollte sich aus der Erziehung heraushalten, ansonsten sind Machtkämpfe mit dem Kind programmiert: Du bist nicht meine richtige Mama! Du hast mir gar nichts zu sagen!
„Man sollte sich nicht aufdrängen, aber das persönliche Gespräch anbieten“, empfiehlt Bischof.
Was das Miteinander ebenfalls erschweren kann: Manch Stiefelternteil vermisst die gemeinsame Geschichte mit den Kindern: Es macht einen großen Unterschied, ob man ein Kind mit der Geburt kennenlernt oder als pubertierende 13-Jährige. Doch selbst, wenn Sie verunsichert sind: Versuchen Sie nicht, die biologischen Eltern zu übertrumpfen oder sich beim Kind einzuschmeicheln! Kinder spüren instinktiv, ob ein Erwachsener sich authentisch verhält.

Heile Familienwelt?
SETZEN SIE SICH NICHT UNTER DRUCK!

Auch wenn Sie es noch so sehr wünschen: Ein Familienidyll lässt sich nicht erzwingen! „Große Erwartungen verursachen große Enttäuschungen“, warnt Schwaiger. Tappen Sie nicht in die Falle, sich mit anderen Familien zu vergleichen – jede Patchwork-Situation ist anders. Selbst wenn Promis das scheinbar spielend schaffen oder man in anderen Patchworkfamilien gemeinsam mit den Ex-Partnern in den Urlaub fährt: Setzen Sie sich nicht unter Druck! In vielen Familien sind solche gemeinsamen Unternehmungen nicht möglich. Oder sie sind nicht gewünscht, weil die ExPartner keinen engen Kontakt zueinander wollen. Im großen (Patchwork-)Verbund zu feiern oder zu verreisen, darf sein. Für das Funktionieren dieser Familien ist es jedoch nicht nötig.

Andere Chancen, andere Risiken:
MEHR REIFE, MEHR TRENNUNGEN

Wenn es gelingt, sich nicht unter Druck zu setzen, bietet das Patchworkmodell einen großen Vorteil: „Partner, die schon eine Trennung hinter sich haben, sind oftmals reifer und realistischer als jene, die in der Verliebtheit eine Familie gründen“, ist Schwaiger überzeugt. Auf der anderen Seite ist das Risiko, dass die Liebe zerbricht, größer als in traditionellen Familien. „Wer schon einmal geschieden ist oder sich getrennt hat, hat ein höheres Risiko, sich wieder zu trennen“, weiß die Soziologin Zartler aus Studien. Das Risiko, dass die Eltern sich trennen, liegt in traditionellen Familien bei 30 Prozent, in Stieffamilien ist es deutlich höher – und hängt insbesondere von der Stabilität der neuen Paarbeziehung ab.
Die Stabilität wiederum setzt voraus, dass beide Partner ihre vorangegangenen Beziehungen wirklich abgeschlossen haben. Dies sei laut Paartherapeuten Schwaiger dann der Fall, wenn beide Seiten auch anerkennen können, was an der Beziehung gut war. Ist die Trennung wirklich vollzogen, können die Ex-Partner ein Einverständnis bezüglich der Kinder entwickeln. Aus Studien weiß man, dass die Kinder dann mittelfristig sehr gut mit den Folgen einer Scheidung umgehen können. Liegen die Ex-Partner hingegen im Clinch miteinander, besteht die Gefahr, dass sie die Konflikte über die Kinder weiterführen. Schlecht verkraften Kinder es auch, wenn es laufend zu Veränderungen kommt: Wenn auf die neue Beziehung wieder eine Trennung folgt etc.
Damit es nicht soweit kommt, gilt es achtsam hinsichtlich möglicher Probleme und Störungen zu sein. Gibt es in der Patchworkfamilie etwa laufend Konflikte bzw. wird ständig gestritten? „Kinder reagieren darauf mit Aggression, mit Rückzug, schlechterer Schulleistung oder einem allgemeinem Leistungsabfall“, zählt die Soziologin auf. In diesem Fall sollte man sich professionelle Unterstützung, etwa in Form einer Familientherapie, holen.

Verschiedene Bezugspersonen:
FLICKWERK ALS GROSSE CHANCE

Sind die Beziehungen der Erwachsenen stabil, kann das Familien-Flickwerk für alle bereichernd sein: Die Fähigkeit, miteinander gut umzugehen und Konflikte zu lösen, wächst. Dem Paar bleibt mehr Zeit zu zweit, wenn die Kinder beim anderen leiblichen Elternteil sind. Die Kinder wiederum haben eine größere Bandbreite an Bezugspersonen – ähnlich der Großfamilie von früher: Die Pubertierende geht mit der Stiefmutter gern shoppen, weil sie eine gute Beraterin ist. Der Zehnjährige wendet sich bei Ärger mit Freunden prinzipiell an den Stiefvater. „Unterschiedliche Personen können in unterschiedlichen Lebensbereichen hilfreich sein“, erklärt die Soziologin. Auch zu Stief- und Halbgeschwistern können sich positive Beziehungen entwickeln. Und letztlich – und trotz anfänglicher Widerstände – tut es den Kindern gut, wenn ihre Eltern wieder in befriedigenden Partnerbeziehungen leben. Bis man derart aufeinander eingespielt ist, braucht es allerdings Geduld: Experten zufolge dauert es mindestens fünf Jahre.

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Neues Rollenbild:
Bonusmutter statt „böser Stiefmutter”

Dass die gesellschaftliche Akzeptanz des Modells „Stieffamilie“ noch zu wünschen übrig lässt, hat verschiedene Gründe: Bis heute sind wir entscheidend vom Familienbild der 1950er bis 1970er geprägt – die Phase gilt als das ‘Goldene Zeitalter der Familie’: „Damals gab es sehr viele Kernfamilien und nur sehr wenige Stieffamilien“, erklärt die Wiener Soziologin Ass. Prof. Dr. Ulrike Zartler. Daneben steckt das Bild der „bösen Stiefmutter“ aus den Märchen noch in unseren Köpfen. Allerdings: Im Gegensatz  zu den historischen Stieffamilien werden die heutigen meist nach Scheidung oder Trennung gegründet und nicht nach dem Tod eines Elternteils (früher oft nach dem Tod der Mutter bei der Geburt oder im Kindbett).
Um mit dem schlechten Image aufzuräumen, werden heute neue Begriffe und Bezeichnungen kreiert – von der
‘Co-Mama’ bis zum ‘Reserve-Papa’. Der dänische Familienberater Jesper Juul plädiert für den Begriff „Bonuseltern“: Sie sind quasi eine gute Zugabe zu den leiblichen.

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Familie im Wandel
Jede zehnte Familie eine Patchworkfamilie

Beinahe jede zweite Ehe wird in Österreich geschieden, etwa jede zweite Partnerschaft getrennt. Gehen die Getrennten eine neue Beziehung ein und wenigstens ein Partner bringt ein oder mehrere Kinder mit, spricht man von einer Stief- bzw. Patchworkfamilie.
2014 waren von den 756.120 Paaren mit im Haushalt lebenden Kindern unter 18 Jahren insgesamt 65.503 Patchworkfamilien: Damit ist beinahe jede zehnte Familie (8,7 Prozent) eine Stieffamilie. Die meisten gibt es in Wien (14.620), in Niederösterreich (13.398) und in Oberösterreich (10.267).

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5 Tipps für Patchworker
So kann das Unternehmen gelingen

  • Führen Sie die Veränderungen behutsam und allmählich durch: Geben Sie sich und den Kindern Zeit und die Möglichkeit, Gefühle und Gedanken auszudrücken!
  • Geben Sie Idealvorstellungen von einer heilen Familie auf und schrauben Sie Erwartungen zurück!
  • Geben Sie jedem Familienmitglied – auch sich selbst – ausreichend Zuwendung und Aufmerksamkeit!
  • Entwickeln Sie neue Rituale im Zusammenleben! Pflegen Sie außerdem alte Rituale mit Ihren leiblichen Kindern!
  • Seien Sie respektvoll gegenüber der Elternschaft des Partners und reagieren Sie nicht eifersüchtig auf seine Vergangenheit bzw. die der Stiefkinder.

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Meine, deine, unsere Kinder:
Häufige Fragen & Antworten

Jede Familie und erst recht jede Patchworkfamilie ist anders – es gibt keine Patentrezepte, wie das Miteinander gelingen kann. MEDIZIN populär hat dennoch ein paar häufige Probleme von Stiefeltern aufgegriffen und Experten um Rat gefragt.

„Ich bin sehr verliebt in meine Freundin, nur mit ihren beiden Kindern komme ich nicht zurecht.“
Dr. Ekkart Schwaiger: Es gilt zu akzeptieren, dass man mit den Kindern eine Zugabe zur Beziehung bekommt, die man vielleicht nicht will. Konkurrieren Sie nicht mit den Kindern um die Gunst der Frau – damit würden Sie Ihre Liebesbeziehung gefährden!

„Mein Sohn wirft mir vor, dass ich meinen neuen Freund lieber hab als ihn.“
Christine Bischof: Hinter Eifersucht der Kinder steckt oft die Angst, nach der Trennung der Eltern auch noch einen Elternteil an jemand „Neuen“ zu verlieren. Seien Sie ehrlich mit Ihrem Sohn: Sagen Sie ihm, dass Sie verliebt in den Mann sind, aber auch ihn weiterhin lieben. Schließlich lässt sich die Verliebtheit zu einem Partner nicht mit der Liebe für ein Kind vergleichen.

„Wenn meine Kinder und die meiner Partnerin zusammen sind, fliegen immer die Fetzen.“
Christine Bischof: Sagen Sie den Kindern, dass Sie möchten, dass sie sich ihre Probleme untereinander ausmachen. Dass Sie aber da sind, wenn sie Hilfe brauchen. Man sollte sich nicht voreilig in Streitereien einmischen und auch nicht erwarten, dass die Kinder einander mögen.

„Meine Ex macht meine neue Freundin vor den Kindern schlecht.“
Christine Bischof: Reden Sie mit der Ex-Partnerin und stellen Sie klar, dass Sie das nicht möchten! Auch in Patchworkfamilien liegt es immer an den Erwachsenen, die Beziehungen untereinander zu verbessern.

 

Stand 11/2016

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