Depressionen – Männer leiden anders

Juni 2007 | Medizin & Trends

Die männlichen Gesichter des Seelenleidens
 
In Fachkreisen weiß man inzwischen, dass sich Depressionen bei Männern oft anders zeigen als bei Frauen. Die typischen Symptome beim starken Geschlecht: unmotivierte Wutanfälle und erhöhte Risikobereitschaft. In der Bevölkerung sind diese Zusammenhänge noch immer nicht ausreichend bekannt, wie Experten beklagen. MEDIZIN populär über die männlichen Gesichter des Seelenleidens.
 
Von Mag. Andrea Fallent

Gotland wurde in den 1970er Jahren von der Statistik als Insel der Lebensmüden geführt: Das Eiland wies damals eine der höchsten Suizidraten Schwedens auf. Eine systematische Schulung der niedergelassenen Ärzte konnte anschließend die Suizidrate um zwei Drittel senken. Auffallend dabei: Die Suizidzahlen nahmen bei Frauen zwar um beachtliche 90 Prozent ab, jene der Männer blieb jedoch unverändert. Der Grund: Männliche Depressive wurden von diesem Selbstmord-Verhütungsprogramm aufgrund ihrer spezifischen Symptome nur am Rande erfasst. Nicht zuletzt aufgrund dieser Beobachtungen weiß man heute mit Bestimmtheit, dass Männer nicht immer in das typische Beschwerdebild eines Depressiven passen: „Die Leitsymptome der Depression wie gedrückte Stimmung, völlige Antriebslosigkeit und Schlafstörungen sind bei Männern und Frauen zwar vergleichbar“, sagt Univ. Prof. Dr. Siegfried Kasper, Leiter der Klinischen Abteilung für Biologische Psychiatrie an der Wiener Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. „Weitere Symptome wie Gereiztheit, Aggressivität und die Tendenz, anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, sind aber eher Männern zuzuordnen.“
Erhöhte Zornbereitschaft ansonsten ausgeglichener Partner und ein zunehmend aggressives Verhalten bei Lappalien sind ernst zu nehmende Zeichen für eine mögliche Depression. „Häufig werde diese Ärger-Attacken auch von den Agierenden selbst als übertrieben und unpassend empfunden. Sie können diese Ausbrüche aber nicht unterdrücken“, so der Psychiater. „Die genannten Anfälle können ähnlich wie bei Panikattacken sehr plötzlich beginnen und sind nicht selten von körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Schwindelgefühlen, Angst und Unruhe sowie dem subjektiven Eindruck begleitet, im nächsten Moment die Kontrolle zu verlieren.“

Riskantes Verhalten
Eine Depression ist eine ernsthafte Erkrankung. Geschätzte 15 Prozent der betroffenen Menschen wählen den letzten Weg des Freitodes. Obwohl Frauen häufiger Suizidversuche vornehmen, sterben mehr Männer bei der Absicht, sich das Leben zu nehmen, weil sie dabei aggressiver vorgehen.
Diese erhöhte männliche Grundaggressivität schlägt sich auch in der österreichischen Unfallstatistik nieder: So sterben Männer doppelt so häufig bei Unfällen wie Frauen. Wobei depressive Männer vermehrt dazu neigen, ihre Gefühlslage mit einer erhöhten Risikobereitschaft auszuleben: „Einige Verkehrsunfälle, zum Beispiel Geisterfahrten auf der Autobahn, können als suizidales Verhalten interpretiert werden“, so Kasper. „Auch waghalsige Bergtouren oder gefährliche Sportarten gehen in diese Richtung.“ Allerdings: Nicht jeder Mann, der Depressionen entwickelt, ist ein potenzieller Rowdy auf der Straße. Auch eine mögliche höhere Neigung zu Straftaten konnte bei Depressiven noch nicht wissenschaftlich belegt werden. Fakt ist aber, dass Männer in Belastungssituationen zu einem aggressiven „Kampf- und Fluchtverhalten“ tendieren, während den Frauen als depressive Reaktionsweise ein „Totstellreflex“ im Sinne vermehrter Passivität zugeordnet wird.

Schwierige Diagnose
Auch wenn das Phänomen der männlichen Depression in den vergangenen Jahren mit großem wissenschaftlichen Eifer erforscht wurde, bleiben nach wie vor viele Erkrankungen unerkannt. Dass liegt vor allem daran, dass Männer häufig erst dann einen Arzt konsultieren, wenn sie körperliche Beschwerden wie Müdigkeit, Schlaflosigkeit oder die gesundheitlichen Spätfolgen von Alkohol- und Nikotinkonsum verspüren. Prof. Kasper: „Männer haben ein reduziertes Krankheitsgefühl und projizieren ihre Probleme eher auf die Umwelt.“ Über Stressfaktoren und emotionale Probleme reden Männer nicht gerne: Noch immer haftet an der Depression ein soziales Stigma. Eine psychische Erkrankung wird nach wie vor als Schwäche ausgelegt, die sich Männer nicht erlauben dürfen. „Dazu kommt, dass viele Ärzte diese typischen Warnsignale nicht genügend hinterfragen und so die Möglichkeit einer Depression gar nicht erwägen“, so Kasper, der aber einräumt, dass unter den Allgemeinmedizinern eine wachsende Sensibilisierung für dieses Thema zu verzeichnen ist.

Hilfe anbieten?
Für Angehörige ist es sehr schwierig, helfend in die Situation einzugreifen. Voraussetzung ist das Wissen darüber, dass hinter vielen körperlichen Belangen und überzogenen Wutanfällen eine Depression stecken kann. Die Betroffenen leiden unter vermindertem Antrieb, verlieren ihre Interessensvielfalt und vernachlässigen soziale Kontakte. Viele sind nicht in der Lage, ihre Gefühlslage in Gesprächen zu offenbaren. „Hier muss man als Partnerin oder Freund sehr behutsam vorgehen“, rät Psychiater Kasper. Auf keinen Fall sollte man einen uneinsichtigen Betroffenen dazu auffordern, von sich aus einen Psychologen oder Psychiater aufzusuchen. Besser ist es, sich mit dem Hausarzt zu beraten, der bei der nächsten Vorsorgeuntersuchung ein ausgedehnteres Gespräch einplanen kann.

Moderne Therapie
Zur Behandlung von depressiven Verstimmungen steht heute eine Reihe von Antidepressiva zur Verfügung. „Es wurde noch kein männerspezifisches Medikament entwickelt“, erklärt Kasper. „Bevorzugt werden die so genannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer eingesetzt, die sehr gut wirken.“ Mögliche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten müssen umfassend mit dem behandelnden Arzt besprochen werden. Er kann bei Unverträglichkeiten den Wechsel zu einem anderen Präparat vorschlagen. Am effizientesten ist eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Behandlung. Das gilt vor allem für ältere Männer, bei denen die Suizidgefahr statistisch um ein Vielfaches zunimmt. Kasper: „Männer, die hinter ihrer schlechten Stimmung eine Depression vermuten, sollten sich unbedingt ihrem Arzt anvertrauen.“ Denn: Depression ist keine Schwäche, sondern eine Erkrankung, welche die Lebensqualität auf Dauer massiv einschränken kann.

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Leide ich unter einer Depression?
Wenn Sie mehrere der folgenden Fragen mit Ja beantworten, könnte hinter Ihren körperlichen Problemen oder vermehrtem Stress im Alltag eine Depression stecken.

  • Haben Sie in letzter Zeit immer wieder die Beherrschung verloren und andere beschuldigt?
  • Haben Sie diese Ausraster danach bereut?
  • Treiben Sie seit einiger Zeit sehr viel Sport?
  • Müssen Sie regelmäßig hart durchgreifen, damit zu Hause oder bei der Arbeit Ordnung herrscht?
  • Fühlen Sie sich seit einiger Zeit allein?
  • Müssen Sie Ihrem Partner und Ihren Kollegen öfter klar machen, dass Sie das Sagen haben?
  • Neigen Sie zu riskantem Verhalten, z. B. beim Autofahren?
  • Fehlen Ihnen seit einiger Zeit Energie und Ausdauer?
  • Rauchen oder trinken Sie seit einiger Zeit mehr als sonst?
  • Fühlen Sie sich öfter niedergeschlagen und ohne Perspektive?
  • Haben Sie Schwierigkeiten, selbst einfache Entscheidungen zu treffen?

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So zeigt sich die Depression beim Mann

  • Plötzliche Ärger-Attacken in Kombination mit körperlichen Symptomen wie Herzklopfen, Kurzatmigkeit, Schwindelgefühlen, Angst sowie ein Gefühl des Kontrollverlustes
  • Verbitterung und Feindseligkeit gegenüber anderen
  • Neigung zu Vorwürfen und nachtragendem Verhalten
  • Geringe Stress-Toleranz
  • Erhöhte Risikobereitschaft (z. B. beim Autofahren, waghalsige Bergtouren)
  • Verhalten an der Grenze zur sozialen/gesetzlichen Norm
  • Alkohol-, Nikotinsucht
  • Allgemeine Unzufriedenheit mit sich und seinem Verhalten
  • Erhöhte Suizidneigung
  • Hypochondrie
  • Reduzierte Libido

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Hilfe und Beratung

Informationen, Hilfestellungen für Betroffene und Angehörige sowie Adressen von Selbsthilfegruppen finden Sie im Internet unter www.depression.at und unter www.buendnis-depression.at.

Österreichweite Männerberatungsstellen: www.maenner.at

Hier hilft man Ihnen telefonisch weiter:
Männer Gesundheitszentrum: 01/60191-5454 (Mo, Mi, Fr 9-13h)
Männerberatung Wien: 01/603 28 28
Telefonseelsorge Notruf: 142 (0-24h, kostenlos)
Ö3-ÖRK Kummernummer: 0810/600 300 (16-24h, kostenpflichtig)
Kriseninterventionszentrum: 01/406 95 95 0
Psychosozialer Notdienst: 01/310 87 79
Psychologische Beratung: 0900 53 53 88 22 (kostenpflichtig)
     

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