Margaretha Maleh

Dezember 2016 | Prominente & Gesundheit

„Mir ist wichtig, dass man neben unserer sogenannten Flüchtlingskrise die Situation in Afrika nicht vergisst”
 
Sie ist Präsidentin der Sektion Österreich der internationalen Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“, die vor 45 Jahren in Frankreich gegründet und mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Im Gespräch mit MEDIZIN populär erzählt die 64-Jährige, was sie als Psychotherapeutin dazu motiviert hat, das Amt anzunehmen, unter welchen Voraussetzungen die Ärzte ohne Grenzen Hilfsprojekte starten, wo überall sie selbst bereits im Einsatz war, welche Schicksale sie dabei besonders berührt haben und wie es zu schaffen ist, tagtäglich mit Leid konfrontiert zu sein.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

MEDIZIN populär
Frau Maleh, was hat Sie als Psychotherapeutin dazu motiviert,
das Amt der Präsidentin von „Ärzte ohne Grenzen“ anzunehmen?


Margaretha Maleh

Mir haben schon immer die Werte gefallen, für die die Organisation Ärzte ohne Grenzen steht, und ich habe die Arbeit geschätzt, die sie leistet. Weil ich fand, dass es sehr wichtig ist, in den Krisengebieten der Welt neben der ärztlichen Hilfe bei körperlichen Krankheiten und Verletzungen auch psychosoziale Hilfe zu leisten, also sich um die seelische Gesundheit der Menschen zu kümmern, bin ich 2007 Ärzte ohne Grenzen beigetreten. Vor fünf Jahren wurde ich in den ehrenamtlichen Vorstand gewählt, und 2015 hat sich die Wahl zur Präsidentin ergeben, die ich sehr gern angenommen habe.   

Unter welchen Voraussetzungen starten Hilfsprojekte von Ärzte ohne Grenzen?

Ärzte ohne Grenzen ist weltweit sehr gut mit Ärzten und anderen Hilfsorganisationen vernetzt. Sobald wir erfahren, dass unsere Hilfe nötig wäre, bilden wir ein assessment-team, ein Team, das die Situation bewertet. Ergibt sich aus der Bewertung, dass wir ein Projekt anlaufen lassen, wird es von einem unserer fünf operational-center, Einsatzzentren, organisiert. Grundsätzlich helfen wir nach Naturkatastrophen, in Kriegsgebieten, bei Armut. Unsere Ziele sind seit der Gründung von Ärzte ohne Grenzen vor 45 Jahren dieselben geblieben. Wir wollen Menschenleben retten, Leid lindern sowie als unabhängiger, neutraler und unparteilicher Zeuge fungieren, ein Sprachrohr der Zivilbevölkerung  sein, und als dieses Sprachrohr die Öffentlichkeit darüber informieren, was in den Krisengebieten geschieht.

Derzeit laufen weltweit rund 70 Projekte. Welches ist Ihnen persönlich besonders wichtig?

Mir ist vor allem wichtig, dass man in unseren Medien neben unserer sogenannten Flüchtlingskrise die Situation in Afrika nicht vergisst. Hunderttausende von Menschen werden dort wegen Krieges und Armut zur Flucht gezwungen, viele versuchen es auf dem gefährlichen Weg über das Mittelmeer. Es steht allen Hilfe zu.

Welcher Einsatz ist aktuell am anforderungsreichsten?

Das sind ganz eindeutig die Einsätze in Syrien, im Jemen, in Afghanistan, weil dort rücksichtslos Krankenhäuser bombardiert werden. Allein 2015 bombardierte man 75 unserer Krankenhäuser. Dabei sterben nicht nur Patienten, sterben Ärzte, sondern es wird auch die medizinische Infrastruktur zerstört, und damit wird Menschen der Zugang zu medizinischer Hilfe verwehrt.

Wo überall waren Sie selbst bereits im Einsatz?

In Papua-Neuguinea, Jordanien, im Irak und zuletzt vor zwei Jahren für sechs Monate in Bangladesch. Ich war meist vergleichsweise lang in den Krisengebieten, weil für mich die länger dauernde Ausbildung von Menschen aus der Gegend zu psychosozialen Beratern, die nun vor Ort helfen, im Vordergrund stand.

Waren Sie auch schon einmal in Lebensgefahr?

Dass ich dort oder da einmal gerade noch dem Tod entronnen bin, kann ich nicht sagen. Ich habe aber öfter Glück gehabt. In Bagdad war ich zum Beispiel bei traumatisierten Patienten in einem Krankenhaus, und fünf Minuten, nachdem ich es wieder verlassen hatte, ist der Checkpoint vor dem  Krankenhaus durch ein Bombenattentat zerstört worden. Und in Bangladesch habe ich wohl auch Glück gehabt, dass mir nichts passiert ist. Dort ist die Gefahr für Verkehrsunfälle sehr groß, so groß, dass ich mir sogar angewöhnt hatte, zur Sicherheit in der Nähe der dort zahlreichen Kühe die Straße zu überqueren.

Welche Schicksale haben Sie bei Ihren Einsätzen besonders berührt?

Sehr berührt hat mich zum Beispiel das Schicksal eines sechsjährigen Buben, der in Bagdad zu mir gebracht wurde, weil er nicht mehr redete. Über Zeichnungen habe ich dann in Erfahrung gebracht, dass er gesehen hat, wie sein Lieblingsonkel den Vater seines besten Freundes erschossen hat. Erst nach zwei Monaten Behandlung war er so weit, dass er wieder gesprochen hat. Berührt haben mich aber auch die vielen Frauen und Männer, die durch entsetzliche Kriegserlebnisse, die Flucht oder Vergewaltigungen traumatisiert waren. Durch unser psychosoziales Angebot konnten wir vielen helfen, wieder auf die Beine zu kommen.

Wie ist das zu schaffen, monatelang und tagtäglich mit Leid konfrontiert zu werden?

Wir Psychotherapeuten lernen schon während unserer Ausbildung, wie wir uns selbst arbeitsfähig erhalten und welche Bewältigungsstrategien hilfreich sind.  Neue Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen erhalten ein Vorbereitungstraining, wo sie im Modul Stress im Feld über den Umgang mit Stress in den Einsatzgebieten informiert werden.  Vor Ort ist ja alles anders als daheim, die Erkrankungen, mit denen man konfrontiert ist, deren Ursachen, die Arbeitsbedingungen, die Kollegen, das Klima, das Essen, und so weiter. Es kommt aber trotz des Trainings vor, dass jemand den Einsatz frühzeitig abbricht, weil er oder sie es doch nicht schafft.

Wie ist dieses Training vorstellbar?

Im Wesentlichen dient es dazu, für sich 20 bis 30 Möglichkeiten zu finden, Stress abzubauen, und zwar solche Möglichkeiten, die auch am Einsatzort umsetzbar sind. Für viele ist Sport das beste Mittel, zur Ruhe zu kommen, zum Beispiel zu joggen. Aber das ist nicht überall möglich, und da muss man etwas anderes parat haben, um seine eigene mental health erhalten zu können.

Gelingt es, sich während der Einsätze auch körperlich fit zu halten?

Wo die diesbezüglichen Möglichkeiten eingeschränkt sind, schauen wir drauf, dass zumindest ein Hometrainer und Hanteln für ein körperliches Training zur Verfügung stehen.   

Wenn Sie sich für Ärzte ohne Grenzen ein Projekt wünschen könnten – wem würde es helfen?

Ich würde mir wünschen, dass kein Projekt nötig wäre. Aber das ist ein Traum.

******************************

  • Gegründet wurde die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen” am 20.12.1971 in Paris von Medizinern, die nach Einsätzen in Krisengebieten frustriert waren über die begrenzten Möglichkeiten, notleidenden Menschen zu helfen.
  • Heute ist „Ärzte ohne Grenzen” eine internationale Bewegung, die aus 24 Mitgliedsverbänden besteht und in rund 70 Ländern Hilfsprogramme betreibt.
  • Österreichs Sektion besteht seit 1994 und hat ihren Sitz in Wien. 2015 leisteten 163 Mitarbeiter aus Österreich und Zentraleuropa insgesamt 241 Hilfseinsätze (die teilweise schon 2014 begonnen wurden) in 42 Ländern.
  • Bei Fragen zu Spenden gibt das Spenderservice von „Ärzte ohne Grenzen” Auskunft: Telefon 0800 246 292 (gebührenfrei)

Webtipp:
www.aerzte-ohne-grenzen.at

Stand 12/2016

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