Tinnitus ist neues Volksleiden

Dezember 2010 | Medizin & Trends

Warum Stress und Lärm ins Ohr gehen können
 
Die meisten hören ein Pfeifen, andere ein Brummen, Klingeln, Rauschen oder Zischen. Tinnitus werden die Ohrgeräusche genannt, die immer da sind und immer mehr Menschen das Leben gehörig schwer machen. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Betroffenen von rund 500.000 auf etwa 800.000 bis eine Million angestiegen. Zu viel Stress und zu viel Lärm sind laut Experten die wesentlichen Ursachen dafür, dass Tinnitus inzwischen als neues Volksleiden gilt. Lesen Sie, was geschehen kann, wenn man zu lange Zeit zu viel um die Ohren hat.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

„In meinem rechten Ohr pfeift es permanent, das heißt, ich höre andauernd einen durchgehenden hohen Ton“, beschreibt Elisabeth R., 45 Jahre alt, ihren Tinnitus, der sie seit einigen Jahren durchs Leben begleitet und einmal mehr, einmal weniger quält. Die Steirerin, die in einem Internet-Chatroom für Tinnitus-Geplagte über ihr Leiden schreibt und sich mit anderen Betroffenen austauscht, hofft, das Geräusch irgendwann ganz loszuwerden. „Vielleicht geht es ja wieder weg, so plötzlich, wie es gekommen ist?“ meint sie.
Tinnitus-Experte Univ. Prof. Dr. Christian Walch, Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten an der Medizinischen Universitätsklinik in Graz, möchte Elisabeth R. diese Hoffnung nicht nehmen. Doch werden die Chancen auf eine Heilung immer kleiner, je länger man die Geräusche bereits hört: „Warum das so ist, weiß man nicht“, sagt Walch. „Betroffene sollten aber so rasch wie möglich zum Arzt, wenn die Ohrgeräusche auftreten.“ Eine frühzeitige Behandlung, die die Ursache für den Tinnitus beseitigt, bringe die Geräusche meistens rasch und für immer zum Verschwinden.

Von Brummen bis Zischen

Damit die Ärzte helfen können, müssen Betroffene das Geräusch genau beschreiben: Ist es ein durchgehender Pfeifton, wie bei den meisten Tinnitus-Geplagten, klingelt, brummt, rauscht, saust, zirpt oder zischt es im Ohr? Wichtig ist auch, wann das Geräusch erstmals bemerkt wurde und wie laut es ist. Letzteres wird über Vergleiche mit den Lautstärken anderer Töne ermittelt. Am häufigsten ergibt die Messung einen Pegel von fünf bis 15 Dezibel. Das ist in etwa so laut wie das Rascheln von Blättern oder das Ticken von Uhren.  
„Sind Lautstärke, Beginn und Art des Ohrgeräuschs bekannt, wird mit einer Untersuchung der Ohren, einer Blutanalyse und bildgebenden Verfahren nach organischen Ursachen für das Leiden gesucht“, beschreibt Walch die nächsten Diagnoseschritte. „Können organische Ursachen ausgeschlossen werden, fragen wir, wie es mit der seelischen Gesundheit steht, also wie die berufliche und familiäre Situation aussieht.“ Denn auch depressive Verstimmungen und Stress können – wie sich immer öfter zeigt – hinter dem Problem stecken.

Von Verspannungen bis Silvesterknaller

Es gibt viele Gründe für die Entstehung des Brummens, Pfeifens, Rauschens im Ohr. Mag. Dr. Manfred Koller, Präsident der Österreichischen Tinnitus-Liga, einem Verein von Betroffenen, der auch Selbsthilfegruppen betreibt, sind sie alle vertraut: „Meist ist ein Schaden im Bereich des Innenohrs die Ursache für das Ohrgeräusch“, sagt er. Bei vielen wurde der Tinnitus durch Hörschäden ausgelöst, die nach dem Besuch eines lauten Konzerts, nach der Silvesterknallerei oder einem Schuss in unmittelbarer Nähe auftraten.
Häufig gehen die Geräusche auch auf Durchblutungsstörungen im Innenohr zurück oder auf Entzündungen. Koller: „Manchmal liegt die Ursache auch außerhalb des Innenohrs oder außerhalb des Hörsystems.“ So kann ein Ohrschmalzpropf im Gehörgang einen Tinnitus auslösen. Aber auch Muskelverspannungen im Bereich der Kiefergelenke und der Halswirbelsäule können die Ursache für Ohrgeräusche sein. Und schließlich können noch psychische Faktoren hinter dem Tinnitus stecken bzw. das Problem verstärken.
Koller, der seit einer Ohrenerkrankung und einer Ohrenoperation vor 16 Jahren selbst an Tinnitus leidet und zwei verschiedene, laute Zischtöne hört: „Bei einigen Betroffenen hat der Tinnitus nicht nur eine einzige Ursache, sondern ist durch mehrere Faktoren entstanden, die zeitgleich aufgetreten sind.“

Von Dauerberieselung bis Stress

Das stellt auch Tinnitus-Experte Walch von der Grazer Uniklinik immer wieder bei seinen Patientinnen und Patienten fest. Als Beispiel für ein Faktorenbündel, das in jüngster Zeit immer häufiger zu Pfeifen, Brummen & Co in den Ohren führt, nennt der Mediziner die Dauerberieselung mit Musik aus tragbaren Audioplayern, die die Ohren im Alltag belastet, den Besuch von Discos am Wochenende, wo die Ohren wiederum Lärm ausgesetzt sind, gepaart mit Stress im Beruf oder im Privatleben.
„Beide Faktoren, also zu viel Lärm und Stress, sind sicher wesentliche Gründe dafür, weshalb immer mehr Menschen an Tinnitus leiden“, sagt Christian Walch. Und es sind heute um so viel mehr als früher, dass Tinnitus inzwischen als neues Volksleiden gilt: Allein in den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Betroffenen von rund 500.000 auf etwa 800.000 bis eine Million angestiegen.
Der Mediziner hat auch beobachtet, dass durch Stress und durch stressbedingte Verspannungen der Muskeln im Bereich der Halswirbelsäule und der Kiefergelenke in der Gruppe der 35- bis 50-Jährigen besonders häufig die lästigen Ohrgeräusche ausgelöst werden. Ein Alter, in dem es zuletzt auch die größten Zunahmen an Betroffenen gab. Unter Jüngeren im Alter von 20 bis 35 Jahren, eine Altersgruppe, in der sich der Tinnitus ebenfalls auffällig stark ausbreitete, treten die Beschwerden eher in Folge von Hörschäden durch eine Dauerbelastung des Ohrs oder durch Lärmtraumata auf. Bei Patientinnen und Patienten über 50 sind hingegen oft entzündliche Ohrenerkrankungen, hormonelle Störungen oder Substanzen in bestimmten Medikamenten der Grund dafür, dass es von einem Tag auf den anderen in den Ohren pfeift, brummt, klingelt oder zischt.  

Von Schonung bis Entschleunigung

Stress und Lärm können den Tinnitus aber nicht nur auslösen, sondern auch verstärken. Um vor besonders lauten Ohrgeräuschen verschont zu bleiben, muss demzufolge der Lebensstil geändert werden: Schonung der Ohren und Entschleunigung sind angesagt. „Mehr Ruhe tut Tinnitus-Betroffenen sicher gut“, sagt die Wiener Fachärztin für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten Dr. Anna-Andrea Zimmermann, die sich nicht nur beruflich um Tinnitus-Patientinnen und Patienten kümmert, sondern auch selber seit fünf Jahren von lästigem Sausen im Ohr geplagt wird. „Wenn man die Betroffenen befragt, dann stellt man fest, dass der Tinnitus bei sehr vielen durch Lärm und Stress mit ausgelöst worden ist“, bestätigt sie. „Sie hatten zu dem Zeitpunkt, als sie zum ersten Mal Ohrgeräusche hörten, sozusagen im doppelten Wortsinn zu viel um die Ohren.“ Auch bei ihr selber wäre das so gewesen. Schwillt das Sausen in den Ohren der Medizinerin an, so wertet sie dies heute als Alarmzeichen. Zimmermann: „Ich weiß dann, ich brauche meine Ruhe, nehme mir eine Stunde frei und mache Entspannungsübungen.“ Mit dem Stress verschwinde dann auch der Tinnitus.
Damit sich die quälenden Ohrgeräusche nicht weiterhin so rasant wie zuletzt in unserer Gesellschaft ausbreiten, rät Zimmermann auch dazu, Maßnahmen zu setzen, um Tinnitus vorzueugen: „Man sollte einmal darüber nachdenken, was einem im Leben wirklich wichtig ist, sollte Dinge möglichst vermeiden, die unwichtig sind und einem bloß negativen Stress bereiten, und so zu mehr Ruhe und einem entschleunigten Lebenstempo finden.“

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Mit Ruhe und Entspannung gegen Tinnitus

Den Ohren Ruhe gönnen

Durch den Lärm in Discos, lauten Konzerten oder von MP3-Playern & Co werden die Härchen in den Sinneszellen im Innenohr, die die Schallwellen in elektrische Impulse umwandeln und an das Gehirn weiterleiten, mitunter geschädigt – so kann Tinnitus entstehen. Wird das Hörorgan geschont, erholen sich die Haarzellen, und die Gefahr, an Tinnitus zu erkranken, ist gebannt. Ist durch eine längere Lärmeinwirkung oder ein Lärmtrauma das Hörvermögen vermindert und/oder ist bereits ein Ohrgeräusch zu hören, sollte man es nicht bei der Schonung belassen, sondern ärztliche Hilfe suchen.

Sich Ruhe gönnen

Auch durch Stress kann Tinnitus entstehen. Wie genau dieser Mechanismus funktioniert, weiß man nicht. Was man aber weiß: Geht man das Leben ruhiger an, verringert sich auch das Tinnitus-Risiko.

Infotipp:
Informationen über Tinnitus und Kontaktdaten von Selbsthilfegruppen finden sich im Internet auf der Website der Österreichischen Tinnitus-Liga (ÖTL):
www.oetl.at  und sind auch unter der Telefonnummer 0 316/28 91 30 der ÖTL zu erfragen.

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