Entspannen, aber wie?

November 2014 | Leben & Arbeiten

Wege aus dem Stress
 
Entspannung heißt das Zauberwort im Kampf gegen krankmachenden Stress. Doch viele schaffen es nicht mehr, abzuschalten und den Kopf freizubekommen. MEDIZIN populär über Wege zu innerer Ruhe.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer & Mag. Karin Kirschbichler

Stress in seiner schädlichen Ausprägung – eine „Epidemie“ unserer Zeit: Stressbedingte Probleme sind weit verbreitet und weiterhin im Zunehmen. Erhebungen zufolge hat rund die Hälfte der Österreicher „viel oder sehr viel Stress“. Darüber hinaus rechnet man, dass 14 Prozent der Erwachsenen an Burn-out, dem Erschöpfungssyndrom, leiden, ergänzt Dr. Norman Schmid, der sich als Psychologe und Buchautor intensiv mit den Themen Stressmanagement und Entspannung auseinandersetzt. „Von den am meisten verbreiteten Stressbeschwerden, Schlafstörungen, sind bis zu 36 Prozent betroffen“,  fügt Norman Schmid an.
Ständige Anspannung hat noch weitere Beschwerden im Schlepptau: „Es kommt zu Konzentrationsproblemen, zu innerer Unruhe, einem Gefühl von Mattigkeit“, gibt der Experte Beispiele. Neben psychosomatischen treten auch psychische Probleme auf: „Angstzustände, Panikattacken, Platzangst, depressive Verstimmungen und sogar Depressionen“, listet Schmid auf. Auch körperliche Beschwerden gehen zuweilen auf das Konto chronischer Belastung, z. B. Schmerzen, Schwindel, Engegefühle im Brustkorb, ein Kloßgefühl im Hals.
Eine Ursache für die besorgniserregende Entwicklung: In unserer Leistungsgesellschaft mit permanenter Reizüberflutung funktioniert der notwendige Wechsel von An- und Entspannung nicht mehr richtig, wir leben quasi gegen unsere Natur. Gewohnheitsmäßig gestresst, überfordert, angespannt, der Atem flach, die Schultern hochgezogen, die Stirn gerunzelt: Mehr als 40 Prozent der Berufstätigen fällt es heute schwer, in der Freizeit abzuschalten, viele wissen gar nicht mehr, wie es sich anfühlt, richtig entspannt zu sein.

Gelassenheit auf allen Ebenen
„Psychisch äußert sich Entspannung als angenehm gelassenes Empfinden: Man fühlt sich gelöst, frei, zufrieden mit sich und seinem Leben“, umschreibt Schmid den wohligen Seinszustand. „Körperlich zeigt er sich durch einen ruhigen, gleichmäßigen Atemrhythmus, eine entspannte, gelöste Muskulatur, eine langsame Herzfrequenz beziehungsweise durch die Herzfrequenzvariabilität.“ Das bedeutet: Der Herzschlag verändert sich mit dem Rhythmus des Atmens; beim Einatmen wird er etwas schneller, beim Ausatmen langsamer.
Von diesem erquicklichen Entspannungszustand profitiert nicht nur die Seele, sondern der gesamte Organismus. Entspannung wirkt z. B. günstig auf Herz-Kreislauf-System und Blutdruck. „Durch die richtige Atmung etwa werden die Blutgefäße weiter gestellt, sodass der Blutdruck abnimmt“, erläutert Schmid den Zusammenhang. „In Studien hat sich gezeigt, dass sich dadurch der Blutdruck um Werte von 15 bis 30 Millimeter Quecksilber senken lässt. Das heißt: Wenn jemand einen Bluthochdruck von 160/100 hat, kann der Wert nach sechs bis acht Wochen Entspannungstraining auf 140/80 gesenkt werden.“ Auch Gelenke und Muskulatur profitieren: „Wer gelernt hat, die Muskeln gut zu entspannen, nimmt automatisch eine entspannte Körperhaltung ein“, erklärt Schmid.
Entspannte Menschen sind darüber hinaus insgesamt belastbarer. Umgekehrt wird durch permanente Anspannung viel Energie vergeudet: „Ist man über längere Zeit stark gefordert, erschöpfen sich auch die Stresshormone Adrenalin, Cortisol, Noradrenalin“,  so Schmid. „Entspannungsübungen ermöglichen es, diese wieder aufzubauen.“ Von einer gelassenen Haltung profitiert indirekt außerdem das Immunsystem. „Die Immunabwehr ist beim entspannten Menschen wesentlich besser als beim gestressten“, sagt Schmid.  

Inneres Warnsystem
Damit nicht genug: Regelmäßige Entspannungsübungen verbessern die Selbstwahrnehmung – der beste Schutz davor, ständig über die eigenen Grenzen zu gehen und sich übermäßig zu verausgaben. „Man spürt wesentlich früher, wenn man körperlich angespannt oder psychisch belastet ist, dass man sich zum Beispiel müde fühlt oder nervös ist“, veranschaulicht der Experte. Denn nicht nur der Stress-, auch der Entspannungsmodus verselbständigt sich irgendwann. „Körper und Psyche melden dann von selbst zurück, wenn etwas nicht stimmt“, sagt Schmid. „Das funktioniert wie bei einem Thermostat, bei dem der Soll-Wert umgestellt wird.“ Ein Beispiel für das probate Warnsystem: Man hat mithilfe eines Atemtrainings eine bewusste und ruhige Atmung eingeübt. Wenn nun in einer Stresssituation der Atemrhythmus plötzlich flach wird, wird einem schnell bewusst: Da stimmt etwas nicht! Ist der innere Thermostat dank bewusster Entspannung nämlich neu „justiert“, schlägt er bei Stress früher an.

Am besten maßgeschneidert

Bewusste Entspannung lässt sich aktiv auf vielerlei Weise erreichen. Ob es sich bei dem wissenschaftlich gesicherten Weg zur inneren Ruhe um Atemtraining, Progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Achtsamkeits-Meditation oder Imagination handelt: Wie Rock oder Hose „sitzt“ auch das Entspannungstraining am besten, wenn es maßgeschneidert ist. Experte Schmid hat eine Checkliste mit weiterführenden Fragen parat: Wofür will ich die Entspannungsübungen  einsetzen? Leide ich unter Schmerzen, etwa Kopfschmerzen? Habe ich vegetative Beschwerden, etwa Schlafstörungen? Habe ich Atembeschwerden? Oder möchte ich einfach lernen, richtig abzuschalten?
Auch das persönliche Stressmuster sollte man unter die Lupe nehmen: Reagiere ich mit kalten, feuchten Händen und Herzklopfen, also mit dem Vegetativum, auf Stress? Oder neige ich zu muskulären Verspannungen? Oder zu Kurzatmigkeit? „Atemübungen sind eher körperlich orientiert, Achtsamkeits-Meditation hat einen stärkeren mentalen Effekt“, gibt Schmid Beispiele. Natürlich sollten bei der Wahl des Trainings auch persönliche Erfahrungen und Interessen berücksichtigt werden.
„Für das Training sollte man sich dann täglich zehn bis 15 Minuten Zeit nehmen und das Üben in den Tagesablauf einbauen“, führt Psychologe Schmid aus. Die einen bevorzugen den Abend, um nach einem hektischen Tag besser abschalten zu können. Wer schon vor dem Aufstehen „rotiert“, tut hingegen gut daran, sich in der Früh bewusst Zeit zu nehmen.

Therapeutisch im Dauereinsatz

Nicht nur als Lebensstilmaßnahme, auch bei der Behandlung vieler Erkrankungen ist Entspannung ein wichtiger Eckpfeiler: „Bei Krebserkrankungen etwa sind Imaginationsübungen, meist kombiniert mit Atemübungen, sehr hilfreich“, berichtet Norman Schmid. Auch bei Schmerzen ist Entspannung ein wichtiger Teil der Behandlung: „Mit verschiedenen Übungen wird die Aufmerksamkeit von den Schmerzen weglenkt“, so der Experte. „Die günstige Beeinflussung körperlicher Prozesse erfolgt nämlich auch indirekt über psychische und mentale.“ Diese Prozesse spielen nicht zuletzt eine große Rolle, wenn es darum geht, ob bestimmte Beschwerden (z. B. Schmerzen) sich reduzieren lassen oder bestehen bleiben. Entspannung ist damit ein Schlüsselfaktor, um einer Chronifizierung von Krankheiten entgegenzuwirken bzw. deren Verlauf zu verbessern.

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Für Körper, Geist, Psyche:
Wie Entspannung wirkt

  • Die Ausschüttung der Stresshormone wird eingestellt.
  • Das vegetative (nicht bewusst steuerbare) Nervensystem schaltet auf Erholung und Regeneration.
  • Die Atmung wird ruhiger, Bauchatmung löst nach und nach Brustkorbatmung ab.
  • Blutdruck und Herzfrequenz sinken.
  • Da Kampf und Flucht nicht mehr nötig sind, kann sich der Körper wieder um andere Aufgaben kümmern, etwa um die Verdauung.
  • Das Immunsystem wehrt Krankheiten besser ab.
  • Die Durchblutung wird gesteigert, Hände und Füße werden wärmer.
  • Die Muskeln entspannen sich, vor allem im Kopf-, Schulter-, Rücken- und Armbereich fühlt es sich weniger verspannt an.
  • Die Wahrnehmung wird bei Stress extrem eingeengt, bei Entspannung kann sich die Aufmerksamkeit auf mehrere, auch positive Dinge richten.
  • Stress verleitet zu Panikreaktionen, in der Ruhe erweitert sich der Handlungsspielraum.
  • An die Stelle von Angst, Ärger, Unsicherheit treten Gelassenheit, Zufriedenheit, Selbstvertrauen.
  • Mit zunehmender Übung in Entspannung weicht Getriebenheit dem Gefühl, Kontrolle über sein Leben – und den Stress zu haben.
  • Man wird insgesamt belastbarer, baut sich eine Art Stresspuffer auf.
  • Reizbarkeit und Aggressivität sinken, Beziehungen zu anderen Menschen verbessern sich.
  • Man lebt gesünder: Rauchen, Alkohol im Übermaß, Essanfälle und andere ungesunde Versuche der Stressbewältigung braucht es seltener bis gar nicht mehr.


Buchtipp:

Schmid,
Mein Weg in die Entspannung
Mit Audio-CD & Selbsttest
ISBN 978-3-85175-978-5
192 Seiten, € 22,–
Verlag Maudrich 2013

 

Stand 11/2014

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