In steirischen Klassenzimmern stehen im wahrsten Sinne des Wortes die Ampeln für Lärm auf Rot. Ein von der ARGE Zuhören initiiertes Projekt reagiert damit auf die überraschende Erkenntnis, dass es mittlerweile sogar den Kids in der Schule zu laut geworden ist. Für Maßnahmen ist es allerdings auch allerhöchste Zeit, denn sowohl Mediziner als auch Pädagogen warnen vor den unabsehbaren Folgen von immer heftigeren Ton-Bomben.
Von Heimo Revnea
Renate Fuchs ist Lehrerin an der Volksschule der Schulschwestern in Graz-Eggenberg und unterrichtet neuerdings so etwas wie eine Flüsterklasse. Die Mädchen und Buben der 4b-Klasse sind eigentlich lebhaft und temperamentvoll, aber die Lust am Leisesein hat sie richtig gepackt. Während der Schulstunden kann man eine Stecknadel fallen hören und selbst die Frau Lehrerin bekommt vorwurfsvolle Blicke, wenn sie bisweilen zu laut spricht.
Das Maß aller Stille ist die Lärmampel, die seit einiger Zeit neben der Tafel hängt. Sie zeigt grün, wenn die akustische Welt in Ordnung ist, warnt gelb vor dem drohenden Überschreiten der Lautstärkegrenze und macht tiefrot deutlich, wenn die Geräusch-Notbremse zu ziehen ist. Zunächst war die Sache mit der Ampel natürlich ein technischer Spaß, mittlerweile gehen die jungen Herrschaften jedoch im Stil von Profis damit um. Renate Fuchs hat ihnen erklärt, was Lärm für Folgen hat, und das neue akustische Arbeitsklima hat sich einfach bewährt.
Nicht nur die Kinder finden das „echt toll“, auch die Lehrerin meint überschwänglich, dass der Umgang mit dem Thema Lärm und die Unterstützung durch die Ampel ihr „Leben total verändert“ hat. Sie kommt nie mehr mit heiserer Stimme nach Hause und seit man einander besser zuhören kann, zeigt auch das Stimmungsbaromter konstant nach oben.
Seit vielen Jahren weiß man, dass Lärm im Klassenzimmer ein brisantes Thema ist. Er treibt Pädagoginnen und Pädagogen scharenweise ins Burnout und verursacht auch bei den Kindern massive Probleme verschiedenster Art. Aber eine brandneue Umfrage der ARGE Zuhören unter 1100 Schülerinnen und Schülern in der Steiermark hat plötzlich jene Lawine ins Rollen gebracht, die eigentlich überfällig gewesen ist. Dabei stellte sich nämlich heraus, dass mittlerweile auch eine satte Mehrheit der Kids (etwa zwei Drittel) vom Schullärm die Nase voll hat. Vor diesem Hintergrund bekam das Pilotprojekt mit den Hörampeln (gesponsert vom Hörgeräte-Unternehmen Neuroth) ungeahnte Flügel. Die Liste der Schulen, die sie anschaffen wollen, wird immer länger und auch in anderen Bundesländern ist das Interesse daran erwacht.
Maßnahmen zur Lärmbekämpfung
Die ARGE Zuhören (www.zuhoeren.at) will aber nicht voreilig in Euphorie verfallen, sagen ihr Vorsitzender Erich Hotter und Vorstandsmitglied Dr. Josef Zollneritsch, der Chef der steirischen Schulpsychologen. Seit einigen Wochen wird der Einsatz der Ampeln getestet, um ihre Verwendung zu optimieren, und es wird über weitere Maßnahmen zur Lärmbekämpfung in den Schulhäusern nachgedacht.
Für die Maßnahmen gibt es triftige Gründe. Nummer eins: Die genannte Studie hat auch alarmierende Fakten zum Umgang von Kindern und Jugendlichen mit MP3-Playern aufgedeckt. 72 Prozent aller Schülerinnen und Schüler besitzen bereits ein solches Gerät und immer mehr isolieren sich damit von ihrer sozialen Umwelt. Pädagogen berichten von Wandertagen, Schikursen und Pausen, wo drei Viertel der Klasse „zugestöpselt“ waren. Ein Grund, warum in manchen Bildungsstätten sogar über ein MP3-Player-Verbot nachgedacht wird. Als bedrohlich betrachten die Experten der ARGE Zuhören allerdings nicht nur die Isolationstendenzen, sondern auch das massive Risiko vieler Stunden intensiver Dauerbeschallung. Sie tragen dazu bei, dass heute bereits jeder fünfte Jugendliche einen Hörschaden hat.
Grund Nummer zwei: Die Akustik ist in der Mehrzahl der Schulräume katastrophal, weil es einerseits zur Bauzeit zu wenig Sensibilität für das Problem gab, und weil andererseits gespart werden musste. Geradezu Gefahr in Verzug ist in Turn- und Pausenhallen, wo nach geltenden Arbeitsschutzbestimmungen Lehrkräfte eigentlich Hörschutz zu tragen hätten. Nach Ansicht von Fachleuten müsste in vielen Schulgebäuden kräftig in Maßnahmen zur Schalldämmung investiert werden. Mit etwas Kreativität kann man die Verhältnisse allerdings auch kostengünstig verbessern. Etwa mit (natürlich brandsicheren) Vorhängen und Teppichen, Filz unter Stuhl- und Tischbeinen etc.
Für ein Neues Ohr-Bewusstsein
Die ARGE Zuhören plädiert insgesamt dafür, (nicht nur im schulischen Bereich) wieder mehr Bewusstsein für die Bedeutung der Ohren zu entwickeln. Da geht es in ganz besonderer Weise um die Tugend des einander Zuhörens, die in der heutigen Zeit kaum noch beherrscht wird. Diesbezüglich lässt die deutsche „Stiftung Zuhören“ aufhorchen: Ihr ist es in den letzten fünf Jahren gelungen, an 500 deutschen Schulen „Hörclubs“ zu installieren, wo die Mädchen und Buben wieder jenes Zuhören lernen, ohne das auch Unterricht nicht richtig gelingen kann. Die ARGE will mit Nachbarschaftshilfe aus Deutschland auch in Österreich bald die ersten Hörclubs gründen und dafür Lehrerinnen und Lehrer zu Zuhör-Trainern ausbilden. Allein in Bayern gibt es bereits mehr als 3000 davon.
All das hat für Bernd Chibici, Autor des Buches „Auf Wiederhören. Von Lust und Frust der neuen Ohrzeit“ und Vorstandsmitglied der ARGE Zuhören, hohe Priorität. „Einander Zuhören ist die Hälfte jenes elementaren Bestandteiles unserer modernen Gesellschaft, den wir Dialog nennen. Aber diese Hälfte haben wir in letzter Zeit sträflich vernachlässigt, wie wir auch an den Folgen erkennen können…“ Schule wäre, wie er meint, der ideale Boden, auf dem „insgesamt ein neues Ohr-Bewusstsein keimen“ könnte. Nicht zuletzt deshalb, weil Kinder und Jugendliche in besonderer auditiver Bedrängnis sind. Einige Beispiele dafür:
- Jedes sechste Kindergartenkind in Österreich weist bereits eine verzögerte Sprachentwicklung auf, bräuchte logopädische Therapie. Sprache gedeiht über das Zuhören, aber wer nimmt sich noch Zeit für das Vorlesen und Erzählen?
- Nicht nur Spiel-Gewehre und -Pistolen verursachen gar nicht selten so genannte Knalltraumata, auch Multimedia-Spiele finden auf diese Weise bedrohliche Lebensnähe.
- Die Begeisterung für Musik hat fatale Nebenwirkungen: Popkonzerte bringen es auf bis zu unfassbare 120 Dezibel – was einem Düsenflugzeug in sieben Metern Nähe entspricht. Und dann noch die Dauerbeschallung mit dem bereits genannten MP3-Player…
- Unter Tinnitus leiden nicht nur Erwachsene. Er kann durch Ohrenentzündungen, Kopfverletzungen oder zu laute Geräusche auch bei Kindern entstehen.
- Immer mehr Mädchen und Buben stehen unter dem Stress von Straßen- oder auch Fluglärm, der in Schulen und Wohnungen dringt. Längst weiß man, dass dies erhebliche Auswirkungen auf Körper und Psyche hat. Kinder sind mindestens genauso lärmempfindlich wie Erwachsene.
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Kinderohren aus ärztlicher Sicht
Zunehmend mit Hörschäden junger und jüngster Menschen, die durch ein Übermaß an Lautstärke verursacht wurden, sieht sich Univ. Prof. Dr. Josef Kainz an der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten in Graz konfrontiert.
Diese Patientinnen und Patienten landen aus zwei Gründen im Spital: Manche von ihnen waren kurzfristig – wie etwa in unmittelbarer Nähe der Lautsprecher bei einem Pop-Konzert – mit einer mächtigen und folgenschweren Überdosis an Beschallung konfrontiert, andere hingegen haben ihr Gehör mit „chronischem“ Lärm, so Kainz, überstrapaziert.
In diesem Zusammenhang spielen stundenlang und übermäßig aufgedrehte MP3-Player wie auch andere Musik-Abspielgeräte eine traurige Rolle. Und die Tatsache, dass sich junge Leute mehr an der Lautstärke als an der Qualität von Musik begeistern können. Der HNO-Arzt: „Tatsächlich haben manche moderne Musikarten leise praktisch keine Wirkung.“ Erst jüngst hat den Mediziner der Fall eines jungen Mannes bewegt, der zehn Tage lang stationär mit Infusionen behandelt werden musste, um ihm drohenden Hörverlust zu ersparen. Der Patient wollte aber nicht einmal in dieser Situation auf seinen MP3-Player verzichten …
Buchtipp
Bernd Chibici
Auf Wiederhören
Von Lust und Frust der neuen Ohrzeit
Verlagshaus der Ärzte, € 14,90 (Österreich), ISBN 978-3-901488-97-9