Mit Kratzen, Quetschen oder Zwicken wird die Haut oft stundenlang malträtiert. Dabei ist der Impuls so stark, dass Entzündungen, Narben und andere Hautschäden in Kauf genommen werden: Die Symptome einer „Haut-Kratz-Störung“, auch „Skin Picking Disorder“ genannt, sind eindeutig. Ungeklärt ist bislang die Frage nach dem Warum. Eine Grazer Psychologin geht den Ursachen jetzt auf den Grund.
Von Mag. Alexandra Wimmer
Der flüchtige Blick in den Spiegel bleibt wieder einmal nicht ohne Folgen: Als die 18-jährige Verena einen Mitesser entdeckt, macht sie sich sofort daran, ihn zu entfernen. Mehr noch: Die nächsten zwei Stunden ist die Schülerin damit beschäftigt, weitere Unebenheiten im Gesicht zu beseitigen, indem sie die Haut quetscht, kratzt und darauf herumzwickt. Nach der „Schlacht“ ist die vorher schöne Haut übersät mit roten Flecken und kleinen Wunden. Verena aber fühlt sich erleichtert: „Alle Unebenheiten beseitigt“, strahlt sie.
Patientinnen wie Verena bekommt die Psychologin und Psychotherapeutin Univ. Prof. Dr. Anne Schienle von der Karl-Franzens-Universität Graz viele zu Gesicht: Es sind vor allem Frauen – der Anteil liegt bei 60 bis 90 Prozent –, die ihre Haut malträtieren, um etwa Mitesser oder Pickel zu beseitigen. Manchen genügt das „Handwerkzeug“ nicht und sie greifen zu Hilfsmitteln wie Pinzette oder sogar Messer.
Verbreitetes Leiden
Von einer „Skin Picking Disorder“, auch „Dermatillomanie“ oder „Haut-Kratz-Störung“ genannt, dürften in Österreich zwischen 1,5 und fünf Prozent der Bevölkerung – bis zu rund 400.000 Menschen – in unterschiedlicher Ausprägung betroffen sein. Obwohl man die Symptome schon lange kennt, wurde das Problem erst 2013 offiziell als eigenständige psychische Störung anerkannt und den Zwangserkrankungen zugeordnet. Der Zwang ist bei manchen so stark, dass sie Freizeitaktivitäten vernachlässigen oder sogar von der Arbeit zuhause bleiben und damit ihren Job aufs Spiel setzen.
Normal oder zwanghaft?
Einen Eiterpustel auszudrücken, einen störenden Schorf abzukratzen – das machen viele. Der Übergang von normal zu zwanghaft ist oft fließend: „Dass die Leute an Mitessern rumspielen, diese ausdrücken oder den Schorf an einer kleinen Wunde wegkratzen, ist weit verbreitet“, bestätigt Schienle. Das „Picking“ werde dann problematisch, wenn es ein bestimmtes Ausmaß übersteigt. Wenn Patientinnen wie Verena beispielsweise stundenlang am Kratzen und Kletzeln sind. „Sie würden gern aufhören, es gelingt ihnen aber nicht“, nennt Schienle ein Alarmsignal. Die bevorzugten „Tatorte“? „Häufig wird im Gesicht und an den Armen gekratzt und ganz besonders häufig im oberen, erreichbaren Bereich des Rückens“, zählt die Psychologin auf. Auch auf dem Kopf gebe es oft zig Verletzungen und offene kleine Wunden, welche die Patientinnen und Patienten sich zugefügt haben. Viele verspüren auch den Zwang, sich etwa im Analbereich zu kratzen. Nicht nur Pickel, Krusten oder Härchen, auch gesunde Hautareale werden bearbeitet.
Wieviel Zeit man in das Bearbeiten der Haut investiert, ist individuell unterschiedlich: Während Verena Stunden dafür aufwendet, tun andere es nur wenige Minuten. Die meisten Betroffenen haben mehrere Picking-Episoden pro Tag. Auch wenn sie mittelfristig unter dem Verhalten leiden, unmittelbar danach sind die Betroffenen oft erleichtert, weil sie eine Unebenheit geglättet haben. „Wenn sie einen Schorf oder Grind, weggekratzt haben, ist das für viele Patientinnen und Patienten zuerst eine Wohltat oder Erleichterung“, weiß Schienle. Zuweilen wird dann auch das „Elaborat“ – der Talg etwa, den man sich rausgequetscht oder der Schorf, den man abgekratzt hat – zufrieden begutachtet. In vielen Fällen verstärkt sich das Kratzen zwar, wenn die Betroffenen Stress verspüren. „Häufig aber kratzen sie sich ganz automatisiert, ohne es richtig zu merken“, beobachtet die Psychologin. Sie sitzen etwa vor dem Fernseher und bemerken plötzlich, dass sie sich blutig gekratzt haben.
Sichtbare Spuren
Zwar bearbeiten die Betroffenen die Haut heimlich, die „Kratzspuren“ sind aber für alle sichtbar. Schienle sieht in der Ambulanz viele Betroffene mit „schlimmen Vernarbungen, offenen Wunden und anderen Gewebeschäden der Haut.“ Und auch innere Narben bleiben: Scham- und Schuldgefühle etwa aufgrund des Verhaltens und der (vermeintlich) entstellten Hautareale. „Das geht so weit, dass die Betroffenen sich in der Öffentlichkeit nicht mehr zeigen wollen“, weiß die Psychologin. Sie verändern ihren Bekleidungsstil, schwitzen an einem heißen Sommertag im langärmligen T-Shirt. Viele ziehen sich in der Folge immer mehr zurück und isolieren sich.
Hinzu kommt, dass die „Skin Picker“ anfälliger für „andere psychische Störungen aus dem Zwangsbereich sind“, führt Schienle aus. Zwanghaftes Haare-Ausreißen gehört dazu oder andere körperbezogene Rituale oder Ticks: Etwa, dass man ständig an sich selbst oder sogar an Mitmenschen herumzupft.
Individueller Verlauf
Oft ist ein Hautproblem wie Akne der Einstieg in das Picking – nach und nach wird die Gewohnheit zur Obsession. Viele Betroffene berichten, dass sie in der Pubertät Akne hatten und mit dem Picking begannen – und dann weitergemacht haben, weiß Schienle. Andere wiederum hätten die „wunderschönste Haut“, die sie aber dennoch bearbeiten. Durch das selbstschädigende Verhalten entstehen erst recht Wunden, Krusten, die man in der Folge entfernen „muss“ – ein Teufelskreis.
Wer glaubt, unter einer Skin Picking Disorder zu leiden, sollte sich zuerst jedenfalls hautärztlich untersuchen lassen, rät Schienle. Es sollte ausgeschlossen werden, dass eine Erkrankung der Haut, eine Allergie oder auch bestimmte Medikamente für den Juckreiz bzw. das ständige Kratzen verantwortlich sind. Auch wenn öfters Akne am Beginn der Erkrankung steht: Mit einer Hauterkrankung hat das Leiden nichts zu tun. Ist aus dermatologischer Sicht alles in Ordnung, ist eine Spezialambulanz bzw. ein Psychologe/eine Psychologin die richtige Anlaufstelle.
Ursache ungeklärt
Während das Beschwerdebild klar auf der Hand liegt, tappt man punkto Ursachen im Dunkeln. Als Grund wird zwar oft Stress genannt. Dieser sei aber „allenfalls ein moderierender, kein ursächlicher Faktor“, betont die Expertin. „Den wirklichen Grund für das Picking kennt man noch nicht.“
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Das sagt die Hautärztin
Ist die Haut durch das Kratzen entzündet, sind „antiseptische Maßnahmen“ angezeigt, erklärt die Wiener Dermatologin Dr. Verena Beck. „Es empfiehlt sich eine Reinigung mit antibakteriellen Lotionen oder Tinkturen“, präzisiert die Medizinerin. Eine leichte Entzündung könne eventuell lokal mit antibiotischen Salben behandelt werden. Stärkere Entzündungen therapiert man jedenfalls mit Antibiotika zum Schlucken.
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Grazer „Skin Picking Disorder“-Studie:
Erkenntnisse punkto Ursachen erwartet
Die Studie, welche die Psychologin Univ. Prof. Dr. Anne Schienle an der Grazer Karl-Franzens-Universität in den vergangenen Monaten mit ihrem Team durchgeführt hat, soll neue Erkenntnisse zur Skin Picking Disorder bringen: Erstmals wurde versucht, den Ursachen mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) auf den Grund zu gehen: Warum kratzen sich Betroffene zwanghaft? Geht es um Stressabbau? Steckt ein übersteigertes Reinlichkeitsbedürfnis dahinter oder stellt das Kratzen eine Art Belohnung dar? Die Studie soll jetzt Antworten auf diese Fragen bringen. Während den Betroffenen Bilder von Hautunreinheiten gezeigt werden bzw. sie selbst an betroffenen Stellen Hand anlegen, wird die Aktivität im Gehirn gemessen: Ist während des Kratzens eine gesteigerte Aktivität des Belohnungszentrums beobachtbar? Auch der Tastsinn wird unter die Lupe genommen: Wie empfinden die Patienten eine leichte Berührung wie Streicheln im Vergleich zum Kratzen? Können sie die Berührungen differenzieren oder ist der Tastsinn im Gehirn anders als bei Gesunden repräsentiert?
Kennt man die Ursachen, lassen sich passende Therapieansätze entwickeln. „Im Moment arbeitet man mit relativ einfachen verhaltenstherapeutischen Prozeduren“, berichtet die Psychologin. Diese zielen darauf ab, sich des Verhaltens bewusst zu werden, es zu unterbrechen bzw. umzukehren. „Sollte sich herausstellen, dass der Tastsinn verändert ist, würde man anders therapieren“, betont Schienle und führt Fühl- und Tastübungen als Beispiele an. Im Laufe dieses Oktobers sollen die Ergebnisse der Studie präsentiert werden.
Stand 10/2016