– Von Wolfgang Kreuziger
Sie tickt nicht, muss nicht aufgezogen werden und funktioniert auch ohne Zahnräder: Die innere Uhr, die tagtäglich und präzise verschiedenste biochemische und funktionelle Abläufe des Körpers in Gang setzt. Das virtuelle Zifferblatt unseres körpereigenen Chronographen sitzt einige Zentimeter hinter den Augen im Hypothalamus unseres Gehirns. Von dort aus lässt es per Steuerungsbefehl bereits ab drei Uhr nachts die „Körperheizung” für das Tagwerk anlaufen und schon gegen 15 Uhr nachmittags den Körper wieder für die Nacht schrittweise herunterfahren.
Chaos im Rhythmus
„Fliegt man in eine neue Zeitzone, dann bricht für die innere Uhr schnell das Chaos aus”, weiß Univ. Prof. Dr. Wolfgang Marktl, Präsident der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED), Mediziner und Chronobiologe. „Altgewohnte Abläufe geraten plötzlich in Konflikt mit der neuen Zeitgebung und Körpertemperatur, Hormone sowie Stoffwechsel geraten durcheinander.” Damit daraus rasch ein kleines Drama zwischen Schlaflosigkeit, Schweißausbrüchen, Kopfschmerzen und Darmirritationen wird, braucht es als Auslöser nicht einmal einen Jumbo Jet. Schon eine Stunde Umstellung von Winter- auf Sommerzeit reicht, um empfindlichen Menschen das Leben zu erschweren.
Umstellung – ganz oder gar nicht
„Beim Jetlag denken die meisten Menschen ans Schlafen, es geht aber um viel mehr”, rückt Marktl die Problematik ins rechte Licht. Von Kopf bis Fuß, vom Gehirn bis zur Verdauung, leiden faktisch alle Körperfunktionen unter einer Zeitverschiebung. So sorgt in der gewohnten Tiefschlafphase das Wachstumshormon Somatropin für Knochen- und Muskelaufbau sowie Regeneration. Unsere innere Uhr erhöht morgens automatisch die Körpertemperatur und lässt das „Stresshormon” Kortisol fließen, um für den Arbeitstag gewappnet zu sein.
Passen diese Abläufe nicht, fehlen Regeneration und Körperspannung, wir sind zur „Schlappheit” verdammt. „Eine Faustregel besagt, dass der Mensch pro Stunde Zeitumstellung einen Tag der Gewöhnung benötigt”, weiß der Experte. Deswegen rät er bei Kurzreisen von ein bis drei Tagen auf eine Umgewöhnung von vornherein zu verzichten, sich jedoch bei längeren Reisen schon ein, zwei Wochen im Voraus dem Schlaf- und Nachtrhythmus des Ankunftslandes anzunähern. „Fliegen Sie nach Westen, gehen Sie die Zeit davor später schlafen. Fliegen Sie nach Osten, dann legen Sie sich früher hin.”
Die heilende Macht des Lichts
Putzmunter, wenn’s hell ist, müde bei Finsternis – diese Gesetzmäßigkeit ist vor allem auf das körpereigene „Schlafmittel” Melatonin zurückzuführen. „Wir nennen es auch das Hormon der Dunkelheit, denn es macht uns müde, wenn es dämmert”, erklärt Marktl. Licht ist für die meisten Lebewesen der wichtigste Zeitgeber. Deshalb verhindert es auf Reisen auch den Jetlag wirkungsvoll, so früh wie möglich den eigenen Licht- und Schlafrhythmus jenem des Ziellandes anzupassen. „Ist es im Ankunftsort zur Abflugzeit hell, dann sollten Sie wach sein und die Lampe einschalten. Ist es dort Nacht, dann schlafen Sie mit Schlafmaske oder setzen zumindest eine Sonnenbrille auf”, empfiehlt Marktl. Unbedingt zu vermeiden ist es zur Schlafenszeit des Ziellandes die Augen dem Bildschirmlicht von Handy oder Laptop auszusetzen. „Dieses blaue Licht der Displays ähnelt dem Dämmerlicht am Morgen und ist für den Körper das Signal wach zu werden”, verrät Marktl. „Deswegen sollen auch Jugendliche vorm Schlafengehen nicht aufs Handy starren.“
Frühstück als Schlüssel für die Zeit
Ebenso wirkungsvoll lässt sich der Körper mit der Nahrungsaufnahme austricksen. Laut Studien der Universität Surrey in England ist ein schon im Flieger dem Ankunftsland angepasster Essrhythmus ähnlich wichtig wie der Schlafrhythmus, um dem Jetlag entgegenzusteuern. „Geben wir dem Körper ein Frühstück, dann signalisieren wir ihm: obacht, jetzt ist es Morgen”, nennt Marktl die Automatismen. „Wir sollten uns zudem zur Anpassung an den neuen Arbeitsrhythmus morgens energiespendende Kohlenhydrate und abends eher fettarme Kost zuführen.”
Er warnt jedoch auf der Reise selbst vor zu üppigen Mahlzeiten. „Im Zweifelsfall rate ich dazu, im Flieger lieber gar nichts zu essen, weil dann die Umstellung leichter fällt.” Denn andernfalls wird etwa das Sättigungshormon Leptin zur ungewohnten Essenszeit nur ungenügend ausgeschüttet, wodurch Magen und Darm leicht in ein unangenehmes Sperrfeuer zwischen Appetitlosigkeit und Heißhungerattacken geraten.
Besser nach New York als nach Tokio
Reiseprofis kennen ein Phänomen: Beim Flug nach Westen leidet man stets weniger unter dem Jetlag als bei Ostflügen. Marktl: „Wissenschaftler haben durch Experimente herausgefunden, dass die Menschen ohne Tageslichtimpuls einem 25-Stunden-Rhythmus folgen würden, also den Tag intuitiv eher verlängern als verkürzen. Außerdem fällt es vielen leichter, später schlafen zu gehen, weil man dann müder ist.” Besonders schlecht stecken generell psychisch labile oder depressive Menschen den Jetlag weg, die viel Planung und Sicherheit in ihrem Leben brauchen, wissen die Reisemediziner.
Aus anderen Gründen heikel ist das Überschreiten von Zeitzonen für jene, die krankheitsbedingt eine minutiöse Medikamentenroutine einhalten müssen, etwa Diabetiker mit Insulin. Sie sollten sich nur mit einem vom Arzt exakt aufgestellten Zeitplan auf die Reise machen. Generell leiden ältere Menschen eher unter der Zeitverschiebung als Jüngere, Geschlechterunterschiede gibt es keine. „Besonders gut damit umgehen können Nachteulen, nicht jedoch die Frühaufsteher”, weiß der Experte. „Sie sind zeitlich eben weniger flexibel.”
Flugreise als Gesundheitsrisiko
Nach der Landung sollte jeder Reisende unverzüglich den Rhythmus der Ortszeit annehmen und die ersten ein, zwei Tage große Anstrengungen meiden. Doch egal ob Nachteule oder Morgenmensch, niemand sollte die Auswirkungen eines Jetlag unterschätzen, weiß der Chronobiologe. Denn immerhin gilt langes Fliegen schon ohne den Zeitfaktor selbst als generell der Gesundheit abträglich. „Man hat gemessen, dass Vielflieger mehr Strahlung ausgesetzt sind und ein höheres Risiko für Schlaganfall, Herzinfarkt oder Thrombosen haben”, so Marktl, der generell dazu rät, sich auf jede Fernreise intensiv vorzubereiten und auch eine entsprechend gut gefüllte Reiseapotheke mitzuführen. „Wegen der trockenen Luft dehydriert jeder Flugreisende an Bord leichter und seine Schleimhäute schwellen eher an. Alle diese Faktoren können vielleicht nur gering vorhandene Symptome eines Jetlag erst zum großen Problem auswachsen lassen.”
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Interview
„Zitronenwasser und Matcha-Tee halten mich fit“
Interview mit Diana Grigorova, 31, Flugbegleiterin Austrian Airlines
MEDIZIN populär
Der gefürchtete Jetlag – für Flugbegleiterinnen eine Berufskrankheit?
Diana Grigorova
Auf jeden Fall. Mit wechselnden Zeitzonen klarzukommen, gehört bei uns zum Anforderungsprofil. Ich selbst fliege mittlerweile seit 14 Jahren auf Kurz- und Langstrecke, bin zeitweise binnen einer Woche schon in drei Zeitzonen unterwegs gewesen und habe früh begonnen Stategien zu entwickeln damit umzugehen.
Wie bereiten Sie sich auf Fernflüge vor?
Wenn ich einen anstrengenden Nachtflug vor mir habe, versuche ich zuvor bis in den Vormittag zu schlafen, mittags Sport zu treiben und nachmittags nochmals kurz zu schlafen. Bei einem Tagflug gehe ich die Nacht davor sehr früh schlafen. Viele vorbeugende Maßnahmen passieren also in meiner Freitzeit. Es hilft mir auch im Flugzeug selbst etwa alle drei Stunden etwas Gesundes zu essen, statt wenige große Mahlzeiten einzunehmen. Ich habe mir angewöhnt selbst vorzukochen und leichte Kost, etwa Dinkelnudeln, Kichererbsen oder einen selbstgemachten Salat mitzubringen.
Wie wichtig ist die Flüssigkeitsaufnahme?
Sehr wichtig, ich selbst trinke an Bord viel Zitronenwasser, das hält mich frisch. Ich habe aber auch durch eine Kollegin den japanischen Matcha-Tee für mich entdeckt, ein intensiver Grüntee, bei dessen Zubereitung ganze, fermentierte Blätter verwendet werden. Er hält mich wach und ich vermeide so zu viel Kaffee zu konsumieren.
Wie managen Sie das anschließende Schlafen in einer fremden Zeitzone?
Dafür habe ich eigene Schlafrituale entwickelt. Dazu gehört es, ein bis zwei Stunden zuvor ein wenig Frischluft zu schnappen und zur Ruhe zu kommen, auch eine Schale Melissentee hilft mir gut beim Einschlafen.
Das Allerwichtigste ist aber, so sagt meine über zehnjährige Erfahrung als Flugbegleiterin, die ja am Ankunftsort meist nicht lange bleiben will, dann zu schlafen, wenn der Körper es verlangt und nicht auf starre Zeiten zu warten.
Hilft die eine oder andere kleine Pille manchmal nach?
Nein, ich habe mich ganz bewusst gegen Medikamente entschieden und kann mit Naturpräparaten viel mehr anfangen.
Dazu zählen Tees zum Wachbleiben und etwa ätherische Öle wie aufs Handgelenk getröpfeltes Lavendelöl oder ein wenig auf den Kopfpolster gesprühtes Melissenöl, um besser einzuschlafen. Rieche ich Lavendel, erhält mein Körper schon das ankonditionierte Signal zum Einschlafen.
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Die Jetlag-Checkliste
Diese fünf Tipps helfen:
Vorbereitung
Bei langen Flügen hilft es, sich ein, zwei Wochen vorher dem Tag- und Nachtrhythmus der neuen Zeitzone anzunähern.
Nahrung
Es mildert den Jetlag, im Flieger wenig oder nur leicht Verdauliches zu essen, im Zweifelsfall immer angepasst an den Rhythmus des Ankunftslandes.
Trinken
Meiden Sie zu viel Alkohol und Kaffee auf der Reise, Mineralwasser hilft gegen Unwohlsein und die trockene Luft im Flieger.
Medikamente
Wenn Sie diese gut vertragen, können in Maßen Melatonin-Hormonpräparate und Schlafmittel beim Niederlegen oder Koffeintabletten beim Aufstehen helfen.
Licht
Nehmen Sie im Flieger möglichst den Rhythmus des Ankunftslandes an – Lampe zur Tagzeit und keine Bildschirme zur Nachtzeit.
Stand 06/2018