Laut, lauter, taub: Hörschäden bei Jugendlichen

November 2008 | Medizin & Trends

Schätzungen zufolge wird der Anteil der Schwerhörigen in unserer Gesellschaft in 20 bis 30 Jahren doppelt so hoch sein wie jetzt. Ein Grund: MP3-Player & Co erreichen mit gut 100 Dezibel den Geräuschpegel eines Presslufthammers. Und das hat Folgen – gerade für die Ohren der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, wie auch eine kürzlich präsentierte EU-Studie aufzeigt. Alarmiert von den Ergebnissen plant man nun in Brüssel strengere Lärmschutzbestimmungen für tragbare Musik-Abspielgeräte. Indessen können Mediziner nur warnen und versuchen, die jungen Menschen vor dauerhaften Hörschäden zu bewahren.
 
Von Mag. Sabine Stehrer & Mag. Karin Kirschbichler

Lukas darf keine laute Musik hören, Diskobesuche und Partys sind gestrichen, genau wie die Nachmittage auf dem Fußballplatz. „Ich soll auch sonst nirgends hingehen, wo es laut werden könnte“, sagt er und verdreht die Augen. „Aber“, ergänzt er, „ich halte durch, denn wenn ich mein Ohr jetzt schone, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass es wieder weggeht.“ – „Es“, das ist das Sausen, das der 19-Jährige im rechten Ohr hört. Tag und Nacht, erzählt er, und so laut, als würde ein Auto ganz nah an ihm vorbeifahren. Begonnen hat es nach der Techno-Party vor einer Woche. Da hatte er bis in die frühen Morgenstunden zur Musik mit den wummernden Bässen getanzt, die alles vibrieren ließen. Was er cool fand, war den Härchen an den Sinneszellen in seinem Innenohr, die die Schallwellen in elektrische Impulse umwandeln und an das Gehirn weiterleiten, damit das Hören funktioniert, zu viel. Sie wurden verbogen, zum Teil sogar abgeknickt. Nun schwimmen sie in der Lymphflüssigkeit der Schnecke, von der sie sonst nur umspült werden. Die Folge ist das Sausen.

Die Disco als Düsentriebwerk
Ein Rauschen, ein Knattern oder Pfeifen hören andere Jugendliche, die von einer akuten Hörstörung betroffen sind. „Und das werden immer mehr“, weiß Univ. Prof. Dr. Josef Kainz, Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten an der Medizinischen Universitätsklinik in Graz. Das zeigt sich einerseits in der ärztlichen Praxis des Experten: Wurden früher zwei, drei junge Leute im Monat mit einer akuten Hörstörung zur stationären Behandlung aufgenommen, so muss heute dieselbe Anzahl junger Patienten pro Woche versorgt werden. Das schlägt sich andererseits in entsprechenden Statistiken nieder: Während noch vor 20 Jahren Hörstörungen bei Menschen unter 25 Jahren Seltenheitswert hatten, hat heute bereits jeder vierte Jugendliche einmal mit Problemen beim Hören gekämpft, meistens nach dem Besuch eines Pop- oder Rockkonzerts, der Disko oder einer lauten Party. Dort sind Lärmpegel von 110 und mehr Dezibel die Normalität. Die kann man sonst nur erleben, wenn man aus dem Flugzeug steigt und gleich neben der Gangway ein Düsentriebwerk gestartet wird.

Die Ohren wochenlang schonen
Ob nach der Party oder dem Konzert, Prof. Kainz rät: „Sobald man merkt, dass es im Ohr pfeift, knattert oder rauscht, sollte man nicht darauf warten, bis es vielleicht wieder vergeht, sondern sofort einen Arzt aufsuchen.“ Denn gegen akute Hörstörungen helfe am besten eine frühe Kombi-Therapie, die im konsequenten Schonen der Ohren über ein bis drei Wochen sowie der Gabe von Medikamenten oder Infusionen besteht, die die Durchblutung steigern und so dafür sorgen, dass sich die Härchen im Ohr wieder aufrichten. „Bei rechtzeitiger und richtiger Behandlung sind 90 Prozent der akuten Hörschäden heilbar“, sagt Kainz. Die übrigen zehn Prozent der Betroffenen hätten so große Schäden erlitten, dass sie damit rechnen müssen, ihr Leben lang ein Ohrgeräusch zu haben.

Hinzu kommt: Wer einmal einen akuten Hörschaden hatte, ist besonders anfällig für Wiederholungen und muss sich immer gut vor lauten Geräuschen schützen. Nur mit Watte in den Ohren überall dort hingehen, wo es laut werden könnte, heißt dann die Devise, bei Konzerten dort sitzen, wo es am leisesten ist, und wenn man schon nicht auf das Hören von Musik aus MP3-Playern & Co verzichten kann, sollte man zu großen Kopfhörern greifen, die das Ohr ganz umschließen. Kainz: „So schaltet man den Umgebungslärm aus, ohne dass man die Musik laut aufzudrehen braucht.“

Dauerbelastung für die Ohren
Die Hauptursache für das neue Volksleiden der Generation 25minus sei nämlich nicht nur die hin und wieder viel zu starke Belastung der Ohren in Disko & Konzert, sondern die dauerhaft starke Belastung, sagt Kainz. „Wir leben in einer lauten Welt, und insbesondere Jugendliche neigen dazu, den Lärm, dem sie tagtäglich schon in der Wohnung, in der Schule, am Arbeitsplatz und auch in der Freizeit ausgesetzt sind, mit Lärm zu bekämpfen bzw. mit lauter Musik aus Kopfhörern und Ohrstöpseln zu übertönen.“ Über MP3-Player, Handys & Co wird in einer Lautstärke von bis zu 100 Dezibel Musik gehört – das entspricht dem Lärm, der entsteht, wenn in einem Meter Entfernung ein Presslufthammer betrieben wird. Während eines Spaziergangs an einer belebten Straße ist man etwa 85 Dezibel ausgesetzt. Dieser Schallpegel gilt als Limit, bei dem gerade noch keine Gehörschäden auftreten, wenn man so wie der durchschnittliche Hörer 40 Stunden in der Woche ein tragbares Gerät nützt. In einer Lautstärke von 100 Dezibel dürfte man aber nur 30 Minuten in der Woche Musik hören, wenn man keine Hörschäden riskieren will.

Untauglich wegen Schwerhörigkeit
Doch kaum jemand beschränkt die Bekämpfung des Lärms mit lauter Musik auf so eine kurze Zeit, und kaum jemand hält sich an die Empfehlung, die Musik nicht lauter als in einer Lautstärke von 85 Dezibel zu hören. Zur Selbstschonung passen sich also die Ohren an, was kurzfristig zur akuten Reduzierung des Hörvermögens führt?– und mittel- und langfristig zur chronischen Schwerhörigkeit. Diese ist mittlerweile ebenfalls erschreckend weit verbreitet. Während noch in den 1980er Jahren bei der Musterung für den Dienst beim Österreichischen Bundesheer von Schwerhörigkeit so gut wie nie die Rede war, ist sie laut aktuellen Daten des Verteidigungsministeriums mittlerweile der dritthäufigste Grund, für untauglich erklärt zu werden. Nach Schätzungen von Experten wird der Anteil der Schwerhörigen in unserer Gesellschaft in 20 bis 30 Jahren doppelt so hoch sein wie jetzt. Der 50-Jährige mit dem Hörgerät könnte also im Jahr 2038 schon zur Normalität geworden sein.

Erste Anzeichen nicht ignorieren
Experte Kainz: „Das Tragische ist, dass die meisten Betroffenen lang nichts davon bemerken, dass sie sich beim Hören immer schwerer tun und sogar erste eindeutige Anzeichen ignorieren.“ Schon dann, wenn man Fernseher oder Radio bei anderen Leuten als zu leise empfindet oder bei Besprechungen im Büro immer wieder nachfragen muss, was die Kollegen sagten, sollte man einen Arzt aufsuchen. Er könne, so Kainz, die bereits eingetretene Reduktion des Hörvermögens zwar nicht rückgängig machen, aber etwa durch Medikamente oder die Verschreibung eines Hörgeräts ein Fortschreiten des Hörverlusts vermeiden helfen.

Lärmpausen einlegen
Laute Geräusche können aber nicht nur zu akuten und chronischen Hörstörungen bis hin zur Taubheit führen, sondern auch eine ganze Reihe anderer gesundheitlicher Probleme hervorrufen. Selbst wenn wir sie als schön empfinden wie das Rauschen eines großen Wasserfalls oder das Zwitschern der Vögel im Frühling: Für unseren Körper sind laute Geräusche ein Alarmsignal. Wenn wir sie wahrnehmen, werden Stresshormone ausgeschüttet, das Immunsystem wird geschwächt, der Blutdruck steigt. Bei permanenter Lärmbelastung kommt es zu nervösen Zuständen, zu Aggressionen, Depressionen, zum dauerhaften Bluthochdruck und einer ständigen Abwehrschwäche. Das kann wiederum zu einer höheren Anfälligkeit für Infekte, zum Schlaganfall und Herzinfarkt führen.
Die Ohren lassen sich nicht trainieren, um bei gleicher Leistung mehr auszuhalten. Trotzdem könne man etwas für die Gesundheit seiner Ohren tun, sagt Prof. Kainz. „Am besten macht man sich den Lärm bewusst, dem man sich täglich aussetzt, und zieht sich genauso bewusst jeden Tag eine Zeitlang in die Stille zurück, so gut das eben geht.“

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Wie gefährlich ist laut?
Im Auftrag der Europäischen Union hat der Wissenschaftliche Ausschuss der EU, der sich mit neu auftretenden und neu identifizierten Gesundheitsrisiken befasst, das potenzielle Gesundheitsrisiko von tragbaren Musikabspielgeräten untersucht. Das Ergebnis des Mitte Oktober präsentierten Gutachtens: Personen, die via MP3-Player, Handy & Co häufig laut Musik hören, laufen Gefahr, ihr Gehör zu schädigen. Schätzungen zufolge bestehe diese Gefahr in der EU für bis zu zehn Millionen Menschen.
Nun kündigte die Sprecherin von Verbraucherschutz-Kommissarin Meglena Kunvea für Anfang 2009 eine Konferenz mit Vertretern von Industrie und EU-Regierungen an. Dabei solle auch diskutiert werden, inwieweit die bestehenden Vorschriften für tragbare Abspielgeräte geändert werden müssten. Derzeit gilt für solche Geräte eine Grenze von 100 Dezibel. Der Studie zufolge sind Hörschäden aber schon wahrscheinlich, wenn man fünf Stunden pro Woche mit einem Geräuschpegel von mehr als 90 Dezibel via Kopfhörer Musik hört. Musikkonsumenten mit solchen Gewohnheiten würden nach fünf Jahren Gefahr laufen, irgendwann im Leben taub zu werden.
Bis strengere Lärmschutzbestimmungen erarbeitet wurden, rät die EU-Kommission den Nutzern folgendes: Beim Gerät, wenn möglich, eine Maximallautstärke einstellen, um den Geräuschpegel dauerhaft zu begrenzen. Und MP3-Player & Co nur in Maßen nutzen.

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Wie laut ist laut?

  • 0 bis zehn Dezibel sind fast unhörbar (raschelndes Blatt)
  • 20 Dezibel – kaum hörbar (tickende Uhr)
  • 30 Dezibel – sehr leise (feiner Regen)
  • 40 Dezibel – leise (Aufenthalt im Wohnzimmer)
  • 50 Dezibel – eher leise (normales Gespräch)
  • 60 Dezibel – mäßig laut (Büro)
  • 70 Dezibel – laut (lautes Gespräch in einem Meter Abstand, durchschnittlicher Straßenverkehr)
  • 80 Dezibel – sehr laut (laute Musik)
  • 90 Dezibel – sehr laut (laute Fabrikhalle, schwerer Lastwagen)
  • 100 Dezibel – sehr laut bis unerträglich (Presslufthammer)
  • 110 Dezibel – unerträglich (Disko, Popkonzert)
  • 120 Dezibel – unerträglich (Düsenflugzeug in 50 Meter Abstand)
  • 130 Dezibel – Schmerzschwelle

Quelle: Lärmfibel der Wiener Umweltschutzabteilung, MA22, Magistrat der Stadt Wien

BUCHTIPP:
Bernd Chibici, Die Lärmspirale.
Vom Umgang mit einer immer lauteren Welt
160 Seiten, geb. ISBN 978-3-902552-19-8,
€ 19,90, Verlagshaus der Ärzte
   

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