Die Zuckerkrankheit zieht gravierende Folgeerkrankungen nach sich: Herzinfarkt, Sehstörungen oder den diabetischen Fuß. Kaum bekannt jedoch ist, dass die Hälfte aller Langzeit-Diabetiker Probleme mit der Blase bekommt, die unbehandelt zu schwerer Harninkontinenz führen können.
Von Mag. Michael Krassnitzer
Jeder zweite Langzeit-Diabetiker entwickelt im Lauf der Zeit eine gestörte Blasenfunktion“, erklärt Univ. Prof. Dr. Helmut Madersbacher. „Es ist überraschend, wie wenig bekannt dieses so häufige Krankheitsbild ist“, fügt der Leiter der Neuro-urologischen Ambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck hinzu. Kaum jemand hat je von der „diabetischen Zystopathie“ gehört, wie dieses Leiden von den Medizinern genannt wird. Selbst in der medizinischen Fachliteratur taucht diese Krankheit nur selten auf.
Dabei ist dieses Leiden nach dem Bluthochdruck die häufigste Folgeerkrankung der Zuckerkrankheit. Zum Vergleich: Jeder zehnte Diabetiker erleidet infolge seiner Krankheit einen Herzinfarkt, ebenso viele bekommen es mit Sehstörungen zu tun, die bis zur Erblindung führen können, zum gefürchteten diabetischen Fuß kommt es bei etwa jedem sechzigsten Zuckerkranken. Die diabetische Zystopathie hingegen trifft nicht weniger als jeden zweiten Langzeit-Diabetiker. Zehn Jahre nach Beginn der Erkrankung liegt die Wahrscheinlichkeit bei 25 Prozent, dass diese Komplikation der Zuckerkrankheit auftritt.
Die diabetische Zystopathie macht sich durch eine erschwerte Blasenentleerung und Überdehnung der Blase bemerkbar. Die Krankheit kann schließlich zu einer schweren Harninkontinenz führen: Die Betroffenen leiden unter unkontrolliertem Harnabgang. Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen, bei diabetischen Frauen allerdings kann Inkontinenz auch eine andere Ursache haben: Die Zuckerkrankheit stört mitunter die Funktion des Schließmuskels, so dass beim Husten, Niesen oder Heben von Lasten Harn aus der Blase austritt („Belastungsinkontinenz“).
Zucker schädigt Nerven
Neuesten Erkenntnissen zufolge sind Giftstoffe, die durch den erhöhten Blutzuckerspiegel entstehen, die Ursache der diabetischen Zystopathie. Diese Gifte wirken sich auf das gesamte periphere Nervensystem aus – also das, was man gemeinhin unter Nerven versteht (im Gegensatz zum zentralen Nervensystem, das aus Gehirn und Rückenmark besteht).
Mögliche Folgen der von Diabetes verursachten Nervenschädigung (Neuropathie) sind zum Beispiel nächtliches Aussetzen der Atmung (Schlafapnoe), Magenlähmung (Gastroparese) oder Impotenz.
Im Fall der diabetischen Zystopathie schädigen die giftigen Substanzen jene Nerven, die das Gehirn mit der Harnblase verbinden. In der Folge nimmt die Sensibilität der Blase kontinuierlich ab: Der Körper merkt immer später, dass sein Urinspeicher voll ist. Immer größere Harnmengen werden gespeichert, ohne dass Harndrang einsetzt. Daraus resultiert eine chronische Überdehnung und Vergrößerung der Blase. „Ich habe schon Patienten gesehen, deren Blasen zwei Liter gefasst haben“, erzählt Urologe Madersbacher. Im Durchschnitt hat die Blase ein Fassungsvermögen von einem halben Liter (siehe Kasten).
Durch die ständige Überdehnung wird der Detrusor – jener Muskel, der für die Harnblasenentleerung zuständig ist – geschädigt: Er wird schwächer, so dass der Betroffene beim Wasserlassen ständig durch Pressen mit der Bauchmuskulatur nachhelfen muss. Außerdem kann sich der Detrusor nicht mehr vollständig zusammenziehen. Die Blase wird unvollständig entleert, was aufgrund der Nervenschädigung überdies nicht bemerkt wird. Der verbleibende Restharn kann zu Harnwegsinfekten führen. Im äußersten Fall kommt es zu einer Überlaufinkontinenz: Wie ein voller Kübel läuft die Blase über und verliert tröpfchenweise Urin.
So weit kommt es jedoch nur noch selten. „Heute gehen die Leute zum Urologen, sobald ihr Urinstrahl schwach wird oder sie beim Urinieren pressen müssen“, weiß Madersbacher. Doch dann ist es meist schon zu spät: „Den Patienten wird zu spät bewusst, dass sie ein Problem mit ihrer Blase haben. Eine bereits eingetretene Schädigung kann nach derzeitigem Stand des Wissens nicht rückgängig gemacht werden.“
Rechtzeitige Untersuchung empfohlen
Madersbacher empfiehlt daher, dass sich Zuckerkranke gezielt auf diabetische Zystopathie untersuchen lassen: „Durch rechtzeitiges Screening wird die Erkrankung frühzeitig erkannt. Bei richtiger Behandlung kann der Status quo erhalten und ein Fortschreiten der Blasenstörung verhindert werden.“ Zu einem solchen Screening, das jeder Urologe durchführen kann, gehören ein über mehrere Tage gehendes Blasenentleerungsprotokoll, Harnflussmessung und Restharnkontrolle.
Die diabetische Zystopathie selbst kann noch nicht behandelt werden. „Das Wichtigste ist eine gute Einstellung des Blutzuckerspiegels“, betont der Innsbrucker Professor. Die Mediziner hoffen, dass irgendwann einmal eine Gentherapie gegen die Erkrankung zur Verfügung steht. Ein anderer möglicher Ansatz zur Bekämpfung der diabetesverursachten Blasenschwäche sind Medikamente zur Neutralisierung jener Giftstoffe, die für die Schädigung des peripheren Nervensystems verantwortlich sind. Doch beide Möglichkeiten liegen noch in ferner Zukunft.
„Inkontinenz stellt eine enorme Einschränkung der Lebensqualität dar“, weiß Madersbacher: „Die einzige Option, die wir zur Zeit gegen die diabetische Zystopathie haben, ist eine konsequente Insulintherapie.“
***************
Harnblase:
So arbeitet das Organ
Die Harnblase ist ein Organ, in dem der Urin zwischengespeichert wird. Die Niere produziert ununterbrochen Harn, doch dank der Harnblase können Menschen Harn willentlich und nur von Zeit zu Zeit abzugeben.
Die Harnblase ist von einem kräftigen Muskelsystem umgeben, dessen wichtigster Bestandteil der Detrusor ist. Beim Harnlassen zieht sich dieser Muskel zusammen, zugleich entspannt sich der Schließmuskel. Auslöser für das Harnlassen ist der so genannte Miktionsreflex, der jedoch normalerweise bewusst durch eine leichte Anspannung der Bauchmuskeln ausgelöst wird.
In der Regel liegt das Fassungsvermögen der Harnblase bei maximal 700 Millilitern. Ab einer Menge von 200 Millilitern kommt es zu Harndrang. Bei der diabetischen Zystopathie kann die Blase so weit vergrößert sein, dass sie zwei Liter Harn aufnehmen kann – trotzdem verspürt der Betroffene keinen oder nur schwachen Harndrang.