Krisen als Wendepunkt: Leben mit Hirntumor

Januar 2019 | Medizin & Trends

„Ich schaue mir das Ganze mehr von außen an“
 
Sie ist 28 Jahre alt, Musiklehrerin und Fotografin von Beruf – und sie hat einen Hirntumor: Sofia Pinaeva. Im Interview erzählt die Wahlgrazerin von ihrem Leben mit Krebs und ihrer Wach-Operation, bei der Teile des Tumors entfernt wurden, während sie Querflöte spielte.
 
– Von Mag. Sabine Stehrer

MEDIZIN populär
Frau Pinaeva, welche Erinnerung haben Sie an die Wach-Operation?

Sofia Pinaeva
Ich weiß noch, dass ich zwar wach, aber müde war und auf meiner Querflöte erst ein paar Stücke nach Noten gespielt habe, danach einfach alles, was mir so eingefallen ist: Mozartstücke wie die ,kleine Nachtmusik’ und die ,Arie der Königin der Nacht’, auch ein paar andere klassische Melodien. Gegen Ende der ungefähr 45 Minuten, die ich gespielt habe, ist mir dann ein Fehler passiert. Da waren die Ärzte gleich alarmiert und haben gefragt ,was war das jetzt’? Sie haben gedacht, sie hätten beim Entfernen des Tumors statt bösartiger Zellen gesunde Zellen erwischt, die beim Spielen eine Funktion erfüllen, und meinten, dass ich deswegen den Fehler gemacht hätte. Ich bin mir in dem Moment paradoxerweise vorgekommen wie eine Musikschülerin, die von ihrem Lehrer zurechtgewiesen wird, habe mich reflexartig verteidigt und gerufen: „Ich habe das doch nicht geübt!“ Diese Situation war fast komisch (lacht).

Hatten Sie denn gar keine Angst?
Nein. Da bin ich vielleicht anders als andere. Aber immer, wenn ich in einer gefährlichen, schwierigen Situation bin, denke ich mir ,okay, das ist jetzt so‘ und schaue mir das Ganze mehr von außen an. Außerdem hatte ich schon während der Vorbereitungen auf die Operation sehr großes Vertrauen zu den Ärzten aufgebaut.

War es nicht schwierig, im Liegen und unter diesen Umständen Querflöte zu spielen?
Also, normalerweise spiele ich nicht im Liegen (lacht). Bequem war das nicht. Aber sonst war es nicht schwierig, die Stücke waren eher einfach. Wenn ich noch einmal operiert werden muss, möchte ich gern Anspruchsvolleres spielen und auch etwas aus meiner Heimat Russland.

Sie würden sich noch einmal einer solchen Hirnoperation unterziehen?
Wenn es wieder notwendig wird: ja. Es ist auch gut möglich, dass die Operation noch einmal durchgeführt werden muss, weil ja nur ein Teil des Tumors entfernt wurde.
 
Auch das ängstigt Sie nicht?
Also, es ist so: Ich könnte in meiner Situation sehr verzweifelt sein, und ich bin es natürlich manchmal auch. Aber grundsätzlich kann ich nicht sagen, „das alles gefällt mir nicht“, denn ich muss ja damit leben. Deswegen habe ich mich schon kurz nach der Diagnose dazu entschlossen, meine Krankheit zu akzeptieren und mir anzusehen, was da alles mit mir passiert. So geht es mir dafür, dass ich einen Hirntumor habe, ganz gut (lacht). Die Diagnose ist ja auch kein Todesurteil.

Wann haben Sie die Diagnose erhalten?
Vor drei Jahren nach einem Radunfall. Ich bin beim Fahrradfahren bewusstlos geworden und gestürzt. Im Spital wurde eine Magnetresonanztomografie vom Kopf gemacht, und dabei hat sich dann der Tumor, ein Gliom, gezeigt.

Die Operation ist nun über ein Jahr her.
Haben Sie sich schon davon erholt?
Von der Operation schon. Aber ich habe eine Strahlentherapie hinter mir, die war anstrengend, und dabei habe ich leider auch meine Haare verloren. Aber sie war nötig, und ich habe die Operation sogar herbeigesehnt, weil ich davor täglich mehrere epileptische Anfälle hatte, und das ist mit einem normalen Leben nicht kombinierbar. Eine Chemotherapie habe ich noch vor mir, und ich hoffe, dass ich diesmal neben der Therapie weiter arbeiten kann.

Welche Pläne haben Sie für die Zukunft?
Ich möchte sehr gern noch einen Universitätslehrgang absolvieren, den es erst seit kurzem gibt, und Musikvermittlerin werden, um in diesem noch neuen und für mich idealen Beruf, Menschen die Schönheit der klassischen Musik näherbringen zu können.

Haben Sie Fragen…

… an Sofia Pinaeva, oder möchten SIE ihr etwas mitteilen?
Sie erreichen sie per E-Mail über leserfragen@medizinpopulaer.at

Zahlen & Fakten

  • Die jüngsten Zahlen der Statistik Austria datieren aus 2015: In dem Jahr wurde bei 763 Österreicherinnen und Österreichern ein Hirntumor diagnostiziert, der Anteil der Hirntumore an allen Krebsneuerkrankungen lag bei 1,9 Prozent. 533 Menschen starben an einem Hirntumor, wodurch der Anteil der Todesfälle bei 2,6 Prozent an allen Krebstodesfällen lag.
  • Hirntumor ist nicht gleich Hirntumor: Grob wird zwischen primären und sekundären Tumoren unterschieden. Erstere bilden sich im Hirn selbst, letztere entstehen, wenn Zellen aus anderen Tumoren in das Gehirn gelangen.
  • Die weitaus meisten primären Hirntumore sind Gliome. Laut Dr. Gord Von Campe wird zwischen niedriggradigen Tumoren (Grad I, II), die langsam wachsen, und schnell wachsenden hochgradigen Tumoren (Grad III, IV) unterschieden – wobei letztere auch als Glioblastom bezeichnet werden.
  • Die Diagnose wird meist nach Beschwerden wie Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen, Sprach- oder Bewegungsstörungen oder zufällig nach Ohnmachtsanfällen oder Unfällen bei einer Untersuchung des Gehirns mit Magnetresonanztomografie oder Computertomografie gestellt.
  • Behandelt werden Hirntumoren mit einer Operation, manchmal zusätzlich mit einer Kombination aus Chemo- und Strahlentherapie.


Hirntumor: Hilfe mit Behandlungspaket

Sie ist wohl eine der meistgefürchteten Krebsdiagnosen: Hirntumor. Kam dies früher oft einem Todesurteil gleich, gibt es heute vielfach Hilfe – in Form eines Behandlungspakets, zu dem auch eine Wach-Operation zählen kann.

Von Mag. Sabine Stehrer

„Hirntumor“: Zwischen 700 und 800 Menschen erhalten hierzulande laut Statistik Austria jedes Jahr diese Diagnose. Damit zählt der Hirntumor zwar zu den seltenen Krebserkrankungen, ist aber wohl eine der am meisten gefürchteten. „Dabei kann den Erkrankten heute vielfach gut geholfen werden“, erklärt Dr. Gord Von Campe von der Universitätsklinik für Neurochirurgie am LKH Graz, Leiter des Teams, das auch Sofia Pinaeva operierte. Nämlich mit einem Behandlungspaket, das aus einer Operation, einer Chemotherapie und einer Strahlentherapie bestehen kann. Werden Gliome, die weitaus häufigsten primären Hirntumoren (siehe Kasten „Zahlen & Fakten“), bereits im Frühstadium so therapiert, ist die Chance auf ein weitgehend uneingeschränktes und auch langes Weiterleben groß, wie Von Campe weiß: „Viele der auf diese Weise behandelten Patienten können erfahrungsgemäß mit einer Überlebensrate von mindestens 18 Jahren rechnen.“ Und das bei guter Lebensqualität.

Große Herausforderung

Die Operation ist immer dann, wenn in der Nähe des Tumors befindliche Gehirnfunktionen erhalten werden sollen, keine herkömmliche, sondern eine sogenannte Wach-Operation. Solche Operationen sind, wie Von Campe sagt, „nicht nur für die Ärzte, also die Chirurgen und Anästhesisten, und die ebenfalls teilnehmenden Neuropsychologen, sondern auch für die Patienten eine große Herausforderung“. Die Betroffenen werden für den Eingriff, der bis zu sechs Stunden dauern kann, zunächst in Vollnarkose versetzt. Ist der Schädel geöffnet, werden sie aufgeweckt, sind bei Bewusstsein, aber schmerzfrei und arbeiten bis zu eineinhalb Stunden aktiv am Eingriff mit. Für die Schließung des Schädels werden sie wieder in Vollnarkose versetzt. Dass jemand an der Wach-Operation mitarbeitet, indem er auf der Querflöte Mozart zum Besten gibt, wie die 28-jährige Musiklehrerin und Fotografin Pinaeva, hat das Team in Graz in den vielen Jahren der gemeinsamen Arbeit zwar noch nicht erlebt. „Aber die meisten Patienten wählen je nachdem, was ihnen aus beruflichen Gründen besonders erhaltenswürdig ist, ihre Tätigkeiten“, sagt Von Campe. Viele benennen Objekte, lesen etwas vor, sprechen Vorgesagtes nach oder führen auf Anweisung bestimmte Bewegungen aus. Der Neurochirurg über den Sinn der Prozedur: „Bevor wir die vom Tumor betroffenen Gewebeteile aus dem Hirn entfernen, stimulieren wir sie mit Strom, und wenn wir dabei Regionen treffen, die eine Funktion erfüllen, kann der Patient vorübergehend eine Bewegung nicht durchführen oder Vorgesagtes nicht nachsprechen.“

Therapie wiederholbar

So erkennen die Ärzte, welche Teile erhalten bleiben müssen. Anders lässt sich dies nicht vergleichbar verlässlich feststellen, da Gliome nicht abgegrenzt wachsen, sondern mit funktionellen Hirnnervenzellen ein Mischgewebe bilden. Dies ist auch der Grund dafür, warum Gliome manchmal nur zum Teil entfernt werden können und die Operation mit einer Strahlen- und Chemotherapie kombiniert werden muss: Diese Therapien dienen dazu, das Wachstum der restlichen Tumorzellen zu hemmen. „Ist ein Gliom trotz der Behandlung nach einiger Zeit wieder so weit angewachsen, dass es zu Beschwerden kommt, kann die Therapie wiederholt werden“, so Von Campe.
Wird nichts gegen niedriggradige Gliome unternommen, kommt es zum Wachstum und zur Umwandlung in ein hochgradiges Gliom – das einer systemischen Erkrankung des Gehirns gleichkommt, die kaum noch behandelbar ist. Was Hirntumore entstehen lässt, die in jedem Alter auftreten können, ist übrigens weitgehend unbekannt. Nur bei wenigen Patienten steckt eine Erbkrankheit dahinter.

Stand 01/2019

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