Zurück bleibt die Angst

August 2010 | Psyche & Beziehung

Was Einbruchsopfern zu schaffen macht
 
In der Urlaubszeit haben Einbrecher Hochkonjunktur. Die Bestohlenen müssen nicht nur materielle Verluste verkraften, sondern leiden oft auch unter seelischen Problemen, die sogar körperlich krank machen können. Aus Studien ist bekannt, dass jedes dritte Einbruchsopfer nach der Tat psychische und/oder physische Probleme der verschiedensten Art hat. Lesen Sie, wie Betroffene das Geschehene verarbeiten können.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

Die Eltern sind auf Urlaub, Mario K., 28, hütet das Haus. An einem Abend will er gerade schlafen gehen, als er Schritte und ein Gemurmel im Garten hört. Er läuft ins Wohnzimmer, nimmt den Metallkerzenständer von der Anrichte und versteckt sich hinter dem Vorhang der Terrassentür. Als die Einbrecher den Raum betreten, schlägt Mario K. mit dem Kerzenständer auf die Männer ein. Es kommt zu einer Rauferei, schließlich rennen die Täter davon. K. kauert sich auf den Boden und beginnt zu zittern. Er zittert am ganzen Körper, während das soeben Erlebte immer wieder vor seinem geistigen Auge abläuft. „Diese Bilder habe ich nicht mehr aus dem Kopf gekriegt. Das hat auch am zweiten und dritten Tag nach dem Einbruch nicht aufgehört“, sagt Mario K.
Also suchte der Mann Hilfe und wurde an Dr. Sylvia Wintersperger verwiesen. Die Wiener Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin hat sich auf Traumatherapie spezialisiert und schon viele Einbruchsopfer behandelt. Sie erklärt: „Dass der Mann auch noch Tage nach dem Einbruch an alle Details des Vorfalls denken musste, hat folgenden Grund: Durch den Stress, der mit der Situation verbunden war, konnte die Verarbeitung des Geschehnisses nicht normal ablaufen, sondern war gestört.“
Wie kommt es zu so einer Verarbeitungsstörung? Wintersperger: „Unter extremem Stress kann das Erlebnis nicht als Ganzes aufgenommen werden. Es wird gleichsam in Stücke zerteilt, bleibt im Kurzzeitgedächtnis haften und kann nicht in jenen Hirnbereich gespeichert werden, der für das Langzeitgedächtnis zuständig ist.“ Deswegen hole einen das Geschehen immer wieder und in allen Details ein. Und durch die Übererregung des Stresssystems könne es zudem zu körperlichen Beschwerden kommen: Zittern, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Magen- und Darmprobleme, Kopfschmerzen, depressive Verstimmungen. Wenn dies als belastend empfunden wird oder der Zustand über Wochen andauert, dann empfiehlt die Expertin professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Häufigstes Problem: Verarbeitungsstörung
Die Therapie von Verarbeitungsstörungen geschieht in zwei Schritten:

Schritt eins
„Manchmal reicht eine Unterstützung bei der Verarbeitung eines Akutereignisses aus, bei der das Erlebnis angemessen eingeordnet wird“, sagt Wintersperger. „Dabei gehen wir den Anfang, das Ende, und dann den Verlauf des Ereignisses durch.“ So werde das Erlebnis schrittweise in den Vergangenheitsbereich des Gedächtnisses übertragen, und die Bedeutung, die der Vorfall in der Gegenwart noch hat, nehme ebenso schrittweise an Bedrohlichkeit ab.

Schritt zwei
Wintersperger: „Wenn diese Unterstützung der Spontanverarbeitung nicht gelingt, oder wenn das Ereignis schon länger zurückliegt und körperliche Symptome verursacht, ist eine Traumatherapie erforderlich.“ Eine Methode, die Wintersperger praktiziert, ist die sogenannte Eye Movement Desensitization and Reprocessing-Methode, kurz EMDR (siehe unten – was ist EMDR?). Dabei wird der Verarbeitungsprozess des belastenden Erlebnisses durch Augenbewegungen in Gang gesetzt: Der Patient folgt den Bewegungen der Finger der Therapeutin, während er an das belastende Erlebnis denkt und mit Hilfe der Therapeutin Sätze findet, die ihm einen positiven Zugang zu dem Erlebten ermöglichen. Solche Sätze können lauten wie der folgende: „Ja, ich hätte besser reagieren können, aber immerhin habe ich so gut reagiert, dass ich mit dem Leben davongekommen bin.“  
Die Therapie von Verarbeitungsstörungen – übrigens das häufigste Problem nach Einbrüchen – dauere „meistens nur wenige Sitzungen“, sagt Wintersperger. Nach einer EMDR-Behandlung  kommen die belastenden Gedanken und Gefühle nicht mehr wieder und auch allfällige begleitende körperliche Beschwerden verschwinden. So war es auch bei Mario K.

Wenn Ängste quälen: Anpassungsstörung

Mario teilt sich das Schicksal, zum Einbruchsopfer geworden zu sein, mit vielen Österreichern. Zwar wird in der Statistik die Zahl der Opfer nicht erfasst, doch ist bekannt, dass allein im Vorjahr hierzulande 19.698 Mal in Häuser und Wohnungen eingebrochen wurde. Aus Studien der Ruhruniversität in Bochum ist bekannt, dass jedes dritte Einbruchsopfer nach der Tat psychische und/oder physische Probleme der verschiedensten Art hat.
So entwickeln nicht wenige der Opfer das Gefühl, in der eigenen Wohnung nicht mehr sicher zu sein – und müssen beispielsweise abends vor dem Schlafengehen öfter nachschauen, ob alle Türen versperrt sind. Oder sie drehen in der Früh auf dem Weg zur Arbeit noch einmal um und sehen nach, ob die Fenster geschlossen sind. Sie leiden laut Wintersperger an Anpassungsstörungen.
„Auch bei Anpassungsstörungen können mit EMDR gute Heilungserfolge erzielt werden“, sagt sie und erklärt die Vorgangsweise am Beispiel eines Einbruchsopfers, das bei jedem Aufsperren der Wohnungstür daran denken musste, dass wieder jemand in die Wohnung eingebrochen sein könnte. „Das Einbruchsopfer wird aufgefordert, an den Vorfall zurückdenken und davon zu erzählen.“ Vom Anfang des Ereignisses („Wie war das, als ich die Tür aufgeschlossen und gesehen habe, dass eingebrochen worden war?“), und vom Ende („Wie war das, als ich alles wieder aufgeräumt hatte?“). Dann folgt wieder die Frage nach der Bedeutung, die das gesamte Erlebnis in der Gegenwart haben sollte. Die Antwort auf diese Frage könnte so heißen, sagt Wintersperger: „Heute kann ich gut für meine Sicherheit sorgen.“ Auch die Anpassungsstörung ist meistens in wenigen Sitzungen zu heilen.

Posttraumatische Belastungsstörung

Etwas länger kann die Behandlung dauern, wenn sich die Stress-Verarbeitungsstörung zu einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt hat. Bei wie vielen Einbruchsopfern es so weit kommt, weiß man nicht. „Ich denke aber, dass das doch eher selten der Fall ist“, sagt Wintersperger. Dennoch hat sie bereits auch Einbruchsopfer mit einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt. So wie Monika F., die an ihrer Arbeitsstelle, einer Trafik, überfallen wurde. Es war Abend und kurz vor dem Zusperren, als zwei Männer zur Tür hereinkamen, sie zu Boden zwangen und fesselten. Einer der Männer hielt ihr überdies eine Pistole an die Stirn und drohte, sie zu erschießen, falls sie schreien sollte. F. musste mitansehen, wie die Trafik ausgeraubt wurde. Als alles vorbei war, konnte sie sich zwar selbst befreien. „Aber die Tage, Wochen und Monate danach waren grauenvoll für mich“, sagt sie. „Jedes Mal, wenn jemand in die Trafik gekommen ist, habe ich an die Räuber gedacht.“ Sie litt an Schlafstörungen und ein halbes Jahr nach dem Vorfall auch an depressiven Verstimmungen. Als sie deswegen nicht mehr arbeiten konnte, riet ihr ihre Hausärztin dazu, sich in Behandlung zu begeben. Dabei lernte die Frau, sich dessen bewusst zu werden, dass die Gefahr für Leib und Leben vorbei war.

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Was ist EMDR?

Die „Eye Movement Desensitization and Reprocessing“-, kurz EMDR-Methode, ist ein psychotherapeutisches Verfahren, das von Francine Shapiro, einer US-amerikanischen Psychologin und Literaturwissenschafterin, entwickelt wurde. Die Wirkung ist in zahlreichen wissenschaftlichen Studien nachgewiesen und beruht auf der Erkenntnis, dass über neuronale Netzwerke im Gehirn die Aufmerksamkeit für bestimmte Inhalte mit Augenbewegungen verknüpft ist.

Infotipps:

Informationen und Hilfe für Einbruchsopfer:
Weißer Ring – Kriminalitätsopferhilfe – Opfer-Notruf:
Telefon 0800/112 112, www.weisser-ring.at

Kontaktdaten von Therapeuten, die auf Opferarbeit spezialisiert sind:
Österreichisches Netzwerk für Traumatherapie: www.oent.at

EMDR-Netzwerk: www.emdr-netzwerk.at

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