Nächtlicher Harndrang

September 2010 | Medizin & Trends

Was hilft, wenn eine volle Blase regelmäßig den Schlaf stört
 
Ob Kinder oder Erwachsene: Nächtlicher Harndrang treibt viele Menschen in Österreich mehrmals pro Nacht auf die Toilette oder lässt die Blase im Schlaf übergehen. Obwohl Hilfe möglich ist, werden nur zirka 15 Prozent der Betroffenen entsprechend therapiert. MEDIZIN populär über Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten des oftmals verschwiegenen Leidens.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

„Nicht schon wieder“, stöhnt Gudrun T. jedes Mal, wenn ihre Blase sie nachts auf die Toilette treibt. Seit einigen Jahren schon leidet die 55-jährige Betriebswirtin an nächtlicher Harnflut – das Problem und der dadurch gestörte Schlaf beeinträchtigen die Lebensqualität enorm.
Rund 540.000 Österreicherinnen und 290.000 Österreicher werden nachts regelmäßig von Harndrang geplagt. „Das harndrangbedingte Aufstehen mehr als einmal in der Nacht wird als krankhaft betrachtet, behandlungsbedürftig ist man ab zwei- oder mehrmaligem Aufstehen“, erklärt Univ. Prof. Dr. Hans Christoph Klingler von der Universitätsklinik für Urologie am AKH Wien. Dennoch nehmen die meisten Betroffenen das Übel als gegeben hin, nicht wissend, dass das Leiden oft gut zu behandeln ist – vorausgesetzt, man kennt die Ursache. Hinter dem nächtlichen Harndrang können folgende drei Krankheitsbilder stecken:

1. Vermehrtes nächtliches Wasserlassen (Nykturie)

Die häufigsten Ursachen einer Nykturie sind eine Überaktivität der Blase sowie eine verminderte Blasenkapazität. „Bei einer eingeschränkten Blasenkapazität ist die Blase zu klein, um die nächtliche Harnmenge zu speichern“, erläutert Klingler. Während bei einer überaktiven Blase Maßnahmen wie gezieltes Blasentraining hilfreich sein können, sollte bei einer kleinen Harnblase u. a. die abendliche Trinkmenge angepasst bzw. eingeschränkt werden.
Eine Nykturie ist mitunter auch auf eine übermäßige Harnproduktion in der Nacht, die nächtliche Harnflut (nächtliche Polyurie), zurückzuführen. Von einer nächtlichen Polyurie spricht man, wenn mehr als ein Drittel der täglichen Harnmenge in der Nacht gebildet wird. Sie kann durch einen Mangel an dem antidiuretischen Hormon (ADH) Vasopressin verursacht werden. „Das ADH steuert den Wasserhaushalt im Körper und spielt eine zentrale Rolle bei der Harnmengenproduktion, da es für die Harnkonzentrierung in der Niere mit verantwortlich ist“, so Klingler. Das ADH bewirkt letztendlich, dass die Blase sich nachts weniger füllt als tagsüber. „Bei geschätzten 60.000 Menschen in Österreich ist ein ADH-Mangel bzw. eine verringerte Wirkung des antidiuretischen Hormons Ursache für die gehäufte harndrangbedingte Bettflucht.“ Um den Mangel auszugleichen, werden die Betroffenen hormonell behandelt, indem man Desmopressin – das synthetische Pendant zu Vasopressin – verabreicht.
Nicht zuletzt ist eine übermäßige Flüssigkeitszufuhr (bei normaler Blasenkapazität) verantwortlich für die leidige Unterbrechung des Schlummers. „Im Rahmen einer Studie konnten wir feststellen, dass bei fast 20 Prozent der Betroffenen eine übermäßige Flüssigkeitszufuhr die alleinige Ursache für die nächtliche Harnflut darstellt“, sagt Klingler. Mit der Reduktion der Trinkmenge ist das Problem meist rasch behoben oder zumindest gebessert.
Wird allerdings nichts gegen das Leiden unternommen, ist mit beträchtlichen gesundheitlichen Folgen zu rechnen: „Nykturie-Patienten leiden etwa doppelt so häufig unter Depressionen, Stimmungsschwankungen, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsschwäche wie Menschen ohne Nykturie“, weiß der Urologe.

2. Bettnässen (Enuresis)

Während ein Nykturie-Patient vom Harndrang geweckt wird, nimmt ein Bettnässer diesen gar nicht erst wahr. Das nächtliche Einnässen nach dem fünften Lebensjahr ist das zweithäufigste chronische Leiden im Kindesalter: 60.000 Kinder, zwei bis drei Kinder pro Volksschulklasse, sind Bettnässer. Zu den Ursachen zählen eine funktionell (noch) zu kleine Blase bzw. eine anlagenbedingte Entwicklungsverzögerung, aufgrund derer die Verbindung zwischen Blase und Gehirn noch nicht richtig ausgebildet ist. „Aufgrund der Entwicklungsverzögerung können die betroffenen Kinder bestimmte Reize wie ein Blasenfüllgefühl nicht richtig einordnen“, präzisiert Klingler.
Auch ein ADH-Mangel kann das kindliche Bettnässen verursachen – in 70 bis 80 Prozent der Fälle wird er mit Desmopressin erfolgreich behandelt. Entgegen der Meinung vieler sind psychische Ursachen sehr selten für kindliches Bettnässen verantwortlich.   
Unbehandelt kann das Symptom bis ins Erwachsenenalter fortdauern. „Man schätzt, dass ein bis zwei Prozent der bettnässenden Kinder auch bettnässende Erwachsene werden“, so der Arzt. „Demnach sind in Österreich heute 30.000 bis 70.000 Erwachsene Bettnässer.“ Da die Betreffenden nur selten ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen, lässt die Zahl sich allerdings schwer einschätzen – die Dunkelziffer könnte wesentlich höher sein.

3. Wasserharnruhr (Diabetes insipitus)

Das antidiuretische Hormon spielt außerdem bei der Wasserharnruhr (Diabetes insipitus), einer seltenen hormonellen Krankheit, eine wesentliche Rolle. „Bei dieser Erkrankung sind die Vasopressin produzierenden Regionen im Gehirn ge- oder zerstört“, erklärt Facharzt Klingler. „Das Fehlen des Hormons führt dazu, dass man täglich Unmengen – bis zu 20 Liter – an Harn ausscheiden muss.“ Die Gabe von Desmopressin kann hier die Lebenserwartung sowie die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend verbessern.

Andere Ursachen

Abgesehen von den genannten Krankheitsbildern kann nächtlicher Harndrang sich auch in Folge eines Harnwegsinfekts, eines Blasensteins, eines Blasentumors oder einer gutartigen Prostatavergrößerung einstellen bzw. die Begleiterscheinung einer Erkrankung wie Diabetes mellitus sowie einer Herz- bzw. Niereninsuffizienz sein. Da Senioren häufiger von diesen Problemen betroffen sind, tritt nächtlicher Harndrang im Alter auch verstärkt auf – mehr als 40 Prozent der Über-70-Jährigen leiden darunter.  

Wenige in Behandlung

Trotz der guten Behandlungsmöglichkeiten suchen nur wenige – etwa 15 Prozent der Betroffenen – ärztliche Hilfe. Warum eigentlich? Zum einen sei ein Blasenleiden immer noch ein Tabuthema, weiß Urologe Klingler. „Ältere Nykturie-Patienten betrachten den nächtlichen Harndrang zudem als Teil des Alterungsprozesses. Erwachsene Bettnässer wiederum haben sich oft an das Leiden gewöhnt.“ Viele seien außerdem der Meinung, dass man gegen das Problem ohnehin nichts unternehmen kann bzw. dass Diagnose und Behandlung sehr kompliziert seien. Dabei zeigt die Praxis, dass oft schon ein Miktionsprotokoll, also eine genaue Aufzeichnung der Trink- und Harnmengen, ausreicht, um eine Diagnose stellen zu können.

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Erst automatisch, dann willentlich:
Die Blasenentleerung

„Ein Säugling hat eine neurogen völlig autonome Harnblase, die sich automatisch in die Windel entleert, sobald sie voll ist“, veranschaulicht der Wiener Urologe Univ. Prof. Dr. Hans Christoph Klingler. Mit dem Heranwachsen des Kindes wächst auch die Blase und kann mehr Flüssigkeit fassen. Außerdem entwickelt sich eine Sensorik, sodass das Kind es spürt, wenn die Blase voll ist. Nicht zuletzt verändert sich auch die Harnproduktion. „Zu Beginn haben Kinder in 24 Stunden kontinuierlich gleich viel Harn, im späteren Leben scheidet man zwei bis drei Teile tagsüber und einen Teil der Harnmenge in der Nacht aus“, sagt der Arzt. „Aufgrund der Hirnreifung erfolgen nämlich die ADH-Produktion und das Ansprechen auf ADH adäquat, sodass in der Nacht weniger Harn als tagsüber produziert wird.“

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