Was steckt dahinter?
Die Nägel sind abgeknabbert bis zum Fleisch, die Fingerkuppen blutig, das Nagelbett ist entzündet: In ausgeprägter Form ist Nägelbeißen (Onychophagie) nicht einfach nur eine schlechte Angewohnheit mit kosmetischen Konsequenzen, sondern ein gesundheitliches Problem, zumeist mit psychischen Ursachen.
Zwar gibt es auch Erwachsene, die an ihren Nägeln kauen oder knabbern, die meisten Nägelbeißer sind aber Kinder und Jugendliche. Speziell ab dem Schuleintritt „nutzen“ Kinder das Nägelbeißen gleichsam als Ventil, um Spannungen verschiedenen Ursprungs umzulenken, z. B. Spannungszustände im schulischen Kontext, die aus einer chronischen Überforderungssituation resultieren; Konflikte im Elternhaus; Konflikte in der Gleichaltrigengruppe; innerpsychische Konflikte, die für das Kind oder den Jugendlichen nicht lösbar sind.
Oftmals verschwindet das Nägelbeißen von selbst, etwa weil die Belastungssituation sich entspannt hat oder weil der Betroffene gelernt hat, mit Spannungen und Belastungen adäquat umzugehen. Es kann aber auch sein, dass das ursächliche Problem sich auf andere Weise ausdrückt, man sozusagen ein anderes Ventil für den Spannungsabbau gefunden hat.
Was hilft?
Die verschiedenen Methoden, um das Problem in den Griff zu bekommen, sind mehr oder weniger sinn- und wirkungsvoll: Auf symptomatischer Ebene wird etwa versucht, den Betroffenen das Nägelbeißen durch das Tragen von Handschuhen oder durch die „Behandlung“ der Fingernägel mit übelriechenden Tinkturen richtiggehend zu verleiden. Da es sich bei dem Symptom aber um ein Problem psychischen Ursprungs handelt, gelten ursächlich wirkende Interventionen auf psychischer Ebene als wesentlich wirkungsvoller und nachhaltiger. Manchmal reicht ein einfaches Entlastungsgespräch mit den Eltern, durch das sich das Kind verstanden und gestützt fühlt. Manchmal sind tiefergehende therapeutische Gespräche mit Psychologen oder Kinderpsychiatern nötig, um die Ursache für die Spannungszustände zu finden und aufzulösen. Ergänzend zu den Gesprächen bewähren sich – vor allem ab dem Jugendalter – psychische Entspannungstechniken wie autogenes Training, Yoga oder eine kognitive Bewegungstherapie, um die verschiedenen Spannungszustände zu bewältigen.
Tritt das Problem im Erwachsenenalter auf, ist es nicht zuletzt eine Frage des subjektiven Leidensdrucks – z. B. man erlebt das Nägelbeißen als zwanghaft und wird es selbst willentlich nicht los –, ob man Hilfe in einer Psychotherapie sucht.
Zum Arzt sollte man, wenn …
… das Symptom länger als ein halbes Jahr andauert und der Betreffende von sich aus damit nicht aufhören kann.
… das Nägelbeißen so stark ausgeprägt ist, dass es zu Nagelbettblutungen oder Infektionen führt. In diesem Fall sollte man sich mit dem betroffenen Kind/Jugendlichen an einen Kinderarzt, Kinderpsychologen oder Kinderpsychiater wenden. Erwachsene könnten psychotherapeutische Hilfe suchen.
Expertentipp
Für die Eltern betroffener Kinder/Jugendlicher sowie für all jene, die mit der Erziehung von Kindern befasst sind: Wenn Symptome wie Nägelbeißen auffallen, empfiehlt sich immer eine gute Mischung aus Aufmerksamkeit und Gelassenheit sowohl im Zugang zu dem Kind selbst als auch im Zugang zu dem jeweiligen Problem. Das heißt, man soll das Nägelbeißen (z. B. als Hinweis für mögliche Spannungszustände) wahrnehmen, aber nicht vorschnell dramatisieren.
von Mag. Alexandra Wimmer mit fachlicher Unterstützung von Prim. Paulus Hochgatterer, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Landesklinikum Tulln.