Leben inmitten von Katastrophen

Oktober 2011 | Psyche & Beziehung

Wie man am besten mit Schreckensnachrichten umgeht
 
Vom Atomunfall in Fukushima bis zum Massaker in Oslo – Tragödien wie diese erschüttern die Welt und das Sicherheitsgefühl jedes einzelnen: Wo lauert das nächste Unheil? MEDIZIN populär über das Leben inmitten von Katastrophen, das verlorene Vertrauen in die Welt und den gesunden Umgang mit Schreckensnachrichten.
 
Von Mag. Helga Schimmer

Am Exempel Fukushima lässt sich zeigen, wie unser Bewusstsein tickt: Unmittelbar nach der Katastrophe herrschte auch bei uns große Betroffenheit. Doch mit den Wochen verschwand die Bestürzung über das verheerende Unglück in dem Maße wie die Berichterstattung darüber nachließ. Man könnte es so formulieren: Die Welt steht immer nur für kurze Zeit still, danach geht das Leben weiter.
Unser Gehirn ist ein Meister der Verdrängung. Für unser Seelenheil ist das gut so, denn die Ausblendung der ringsum lauernden Gefahren macht uns das Leben erst erträglich. „Das Sicherheitsgefühl gehört zur Grundausstattung jedes psychisch gesunden Erwachsenen“, sagt Dr. Sylvia Wintersperger, Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapeutin und Traumatherapeutin in Wien. Dieses Urvertrauen in die Welt entwickeln wir in der Kindheit – in der Beziehung, die wir zu unseren Eltern aufbauen. Wir werden mit dem Bedürfnis nach Bindung zur Mutter (oder einer anderen nahen Bezugsperson) geboren. Heranwachsende erfahren immer wieder Schutz durch ihre Bindungspersonen und verinnerlichen dadurch das Gefühl von Sicherheit.
Dementsprechend nehmen nur Kinder, die einen sicheren emotionalen Hafen finden, das Sicherheitsgefühl ins Erwachsenenleben mit. „Diese erlebte Geborgenheit ist auch die Basis unserer Selbstüberzeugungen – der Überzeugung, Achtung und Respekt zu verdienen, des Zutrauens, etwas bewirken zu können, liebenswert und liebesfähig zu sein und, trotz gebotener Vorsicht, der Welt vertrauen zu können“, sagt Wintersperger. Aus diesen Selbstüberzeugungen resultiert unsere Resilienz – die Widerstandskraft, die wir den Bedrohungen des Lebens entgegenzusetzen vermögen.
Folglich gehören „Illusionsblasen“ zu einer gesunden Grundeinstellung. Wir leben nach dem statistisch nicht korrekten Motto: „Ich weiß, wie mein Leben weitergehen wird“, „Die Welt ist gerecht“ oder „Krebs bekommen die anderen, nicht ich“. Trotz Kenntnis der Unfallstatistiken setzen wir uns täglich hinters Lenkrad, ohne uns gefährdet zu fühlen. Zwar wissen wir theoretisch, dass wir die Wirklichkeit schönen, aber wir leben mit der Täuschung, weil sie uns glücklich macht.

Wenn die Blasen platzen

Bei einer plötzlichen Konfrontation mit dem Gegenteil, etwa mit einem entgegenkommenden Lkw oder einer lebensbedrohlichen Krankheit, überfluten uns Gefühle von Hilflosigkeit und Schmerz. Das Selbst- und Weltverständnis wird dauerhaft erschüttert, und die Illusionsblasen platzen. „Man kann sich ein Psychotrauma nicht im Voraus vorstellen, man kann es nur erfahren“, sagt Wintersperger, die 2004 mit einer Kollegin das Zentrum für angewandte Psychotraumatologie in Wien gegründet hat.
Eine psychische Verletzung hinterlässt eine Wunde, die nur schwer heilt. Extreme Schreckenserlebnisse können oft nicht verarbeitet werden und setzen sich langfristig fest. Blitzartige Erinnerungen an das Geschehnis („flashes“), wiederkehrende Albträume, intensive Furcht, völlige Gefühlsstarre („sprachloses Entsetzen“), Schlaf- und Konzentrationsstörungen sowie viele weitere seelische und körperliche Symptome sind die Folgen. Psychiater sprechen von der „Posttraumatischen Belastungsstörung“.

Sorge oder Trauma?

Wie stark Terroranschläge, Amokläufe, Atomunfälle und Naturgewalten in entfernten Regionen unser subjektives Sicherheitsempfinden erschüttern, ist eine Frage des eigenen Naturells und der momentanen psychischen Verfassung. Wer beispielshalber gerade einen persönlichen Schicksalsschlag zu verkraften hat, ist möglicherweise auch empfänglicher für die Not anderer. Oder aber er kann äußere Ereignisse nur schwer an sich heranlassen, weil seine Seele mit der Verarbeitung des eigenen Leides genug gefordert ist. „Um das Sicherheitsgefühl des gesunden Erwachsenen muss man sich von psychotraumatologischer Seite erst dann kümmern, wenn es eingebrochen ist“, so Wintersperger. Die Sorge um das eigene Wohlergehen, eine intakte Umwelt oder ein friedliches Miteinander falle in den Normalbereich und sei mit einer Traumatisierung nicht zu verwechseln. Psychotraumata können auf verschiedenen Wegen entstehen. Die Psychologie kennt dazu die folgende Einteilung:
Unter primärer Traumatisierung versteht man das Erleiden am eigenen Körper. Katastrophen- oder Verbrechensopfer fallen genauso in diese Kategorie wie unmittelbare Zeugen eines entsetzlichen Ereignisses. Oder auch jemand, dem der plötzliche Tod einer nahestehenden Person mitgeteilt wird.
Die sekundäre Traumatisierung entsteht durch persönliche Konfrontation mit primär Traumatisierten. Besonders gefährdet sind Ersthelfer, Psychotherapeuten, Pädagogen und Angehörige von Traumatisierten.
Zur tertiären Traumatisierung kommt es, wenn Unbeteiligte sich intensiv mit den belastenden Erfahrungen anderer auseinandersetzen – etwa bei Journalisten, die über eine Katastrophe berichten, oder bei Fernsehzuschauern, die Nachrichtsendungen über einen Unglücksfall aufmerksam verfolgen.
Jede dieser Varianten kann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führen, die umso stärker ausgeprägt sein kann, je massiver die Bedrohung von Leib und Leben war und je länger sie andauerte. Wintersperger: „Jede Bedrohung aktiviert unsere Stress-Systeme. Herzschlagfrequenz und Blutdruck erhöhen sich, die Muskeln spannen sich an, Adrenalin wird ausgeschüttet. Der Körper bereitet sich auf Flucht oder Kampf vor. Der Organismus kommt erst dann zur Ruhe, wenn er entkommen ist, im Kampf gesiegt hat oder eine andere Strategie zur Problemlösung angewandt hat. Von Psychotrauma spricht man, wenn keine dieser Strategien hilft und sich weitere Überlebensmechanismen dazu schalten. Daraus resultieren die Symptome der posttraumatischen Belastungsreaktion.“

Wunden der Gesellschaft

Großkatastrophen treffen viele Menschen gleichzeitig. Beispiele finden sich in der Geschichte genügend: Genozide wie jener in Ruanda, Kriege und ethnische Säuberungen wie in Bosnien, die Anschläge vom 11. September 2001 oder verheerende Erdbeben und Tsunamis. Derartige Ereignisse verändern langfristig das Verhalten der betroffenen Gesellschaften – von „kollektiven Traumen“ ist hier oft die Rede. Sylvia Wintersperger: „Ein Psychotrauma widerfährt aber immer einem Einzelindividuum. Mehrere Menschen, die Teilnehmer desselben furchtbaren Ereignisses sind, können es sehr unterschiedlich erleben. Entscheidend dabei ist das subjektive Empfinden des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit und der Ohnmacht angesichts der Bedrohung.“

 

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Mit Katastrophenmeldungen umgehen

TV-Bilder ausblenden
Schauen Sie sich nicht jede Fernsehsendung über eine Katastrophe an. Vor allem Bilder hinterlassen tiefe Eindrücke in der Seele. Denken Sie dabei speziell an Ihre Kinder:
Schützen Sie sie vor besonders erschreckenden Nachrichten und sprechen Sie mit ihnen altersadäquat über die Tragödie.

Angemessene Besorgnis
Die Angst vor Gefahr gehört zum Leben. Es ist durchaus angebracht, sich vor einem Atomunfall, einem Terroranschlag oder einem Börsencrash zu fürchten. Wägen Sie Ihr persönliches Risiko ab und fragen Sie sich, wie Sie im Fall des Falles der drohenden Gefahr begegnen können. Stellen Sie sich der Herausforderung und treffen Sie die nötigen Vorkehrungen.

Empathie erhalten
Schieben Sie trotz allem die Not anderer nicht von sich weg. Bewahren Sie sich Ihr Mitgefühl und erfahren Sie, wie Hilfsbereitschaft Ihrem Leben Sinn gibt.

Resilienz fördern
Vermitteln Sie Ihren Kindern alles, was Menschen in Krisen stark macht: Liebe und Geborgenheit, Halt und Wertschätzung, Trost und Ermutigung.

Webtipp:
Österreichisches Netzwerk für Traumatherapie: www.oent.at

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