Frauengesundheit, Männergesundheit

Keine Lust?

Die wichtigsten Zutaten für erfüllte Sexualität

Sexuelle Unlust ist heute weit verbreitet, immer mehr Menschen sind unzufrieden mit ihrem Liebesleben. Welche Rolle die neuen Medien dabei spielen – und wie Bewegung und sinnliche Genüsse unsere Sexualität bereichern.

von Mag. Alexandra Wimmer

Das zart-herbe Stück Schokolade, das auf der Zunge zergeht. Ein duftendes, heißes Schaumbad, das den Körper in wohlig-prickelnde Entspannung versetzt. Der atemberaubende Sonnenuntergang. Das Leben birgt täglich unzählige Momente, die mit allen Sinnen genossen und lustvoll erlebt werden können.

Die vielen sinnlichen Lustaspekte verlieren jedoch im getakteten und digitalisierten Alltag zunehmend an Bedeutung. Kein Wunder, dass uns die Lust im sexuellen Sinn ebenfalls abhandenkommt. „Wir wollen Lust erleben und leben zugleich komplett lust- und sexualfeindlich“, beschreibt die Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna das Spannungsfeld. Da habe sich viel getan seit den späten 1960ern. „Die Menschen sind heute weniger auf Sex fokussiert“, erklärt die Medizinerin und verweist auf Untersuchungen des deutschen Sexualmediziners Dr. Gunter Schmidt. „Paare haben heute im Vergleich zur 1968er-Generation prinzipiell weniger oft Sex.“
Ein möglicher Grund sei die Omnipräsenz sexualisierter Inhalte. „Die sexuellen Eindrücke sind heftiger geworden“, erklärt die Sexualmedizinerin. Die ständigen Stimuli sorgen im überreizten Gehirn für Gewöhnungseffekte.

Über Sex reden lernen

In Sachen Intimität ortet der Linzer Allgemein- und Sexualmediziner Dr. Georg Pfau bei Paaren zudem ein großes Kommunikationsdefizit. „Sehr häufig trauen sich die Partner gar nicht zu sagen, was sie gerne hätten“, beobachtet er. „Dabei wären sehr viele Wünsche innerhalb fixer Beziehungen erfüllbar, würde man sie nur artikulieren.“ Gerade Männer würden deshalb öfter den vermeintlich leichteren Weg in ein Bordell nehmen. „Es ist einfach, einen Schein hinzulegen und einer Prostituierten zu sagen, was man möchte“, erklärt Pfau. Sie wollen in der Beziehung keine Abfuhr riskieren. „Eine Abweisung ist mit Scham verbunden und wird als große Kränkung erlebt.“
Sexuelle Intimität lässt sich außerdem via Online-Angebote nach Lust und Laune kaufen und ist mehr denn je ein Konsumgut. Das verunsichert. „Die Partner fühlen sich ersetzbar“, beobachtet Bragagna. „Wenn sie nicht funktionieren, etwa weil sie weniger Sex wollen als der Partner, haben sie gleich Angst, sie könnten über das Internet ersetzbar sein.“

In allen Fällen ist das Paargespräch wesentlich, um sich (wieder) näher zu kommen und langfristige monogame Beziehungen sexuell interessant zu halten. Auch über Treue als Wert sollte sich ein Paar in Zeiten von Dating-Apps und Fremdgeh-Börsen unterhalten, regt Sexualmedizinerin Bragagna an: Was ist Fremdgehen? Was ist erlaubt und was nicht? Wie sieht unser geheimer Treuevertrag aus? „Die Vorstellungen von Treue weichen bei Paaren oft deutlich voneinander ab“, betont die Medizinerin. „Wenn der Mann beispielsweise regelmäßig Pornos konsumiert, ist das für die Frau oft sehr kränkend, während der Partner der Meinung ist, das sei heutzutage ganz normal.“

Sich emotional annähern

Um und Auf ist die emotionale Nähe zu sich selbst und dem anderen, ist Bragagna überzeugt. „Wenn ich meine Bedürfnisse kenne, muss ich dazu stehen – und dann eine gemeinsame sexuelle Welt finden“, erklärt sie. Der erotische Dialog erzeugt Lebendigkeit und Lust. Viele Liebespartner würden jedoch versuchen, dem anderen die eigenen Vorstellungen aufzudrängen. „Sobald sich eine oder einer dem Dogma des anderen unterwirft, ist die Beziehung sehr gefährdet“, warnt Bragagna. Auch die Symbiose aus der Verliebtheitsphase aufrecht zu erhalten funktioniere nicht. „Zu viel Nähe erstickt die Lust“, betont die Expertin.
Zu viel (emotionale) Distanz kann ebenfalls zum Lustkiller werden. Auf Distanz reagieren Männer und Frauen zum Teil unterschiedlich. „Oft suchen die Männer gerade dann sexuelle Nähe“, beobachtet Bragagna. „Die Frauen werden dann meistens eher lustlos.“ Damit dreht sich die Spirale nach unten: Ich kann dich nicht heranlassen, weil wir emotional distanziert sind, sagt die eine. Ich will Sex, weil wir uns dann so nah wie sonst nie sind, sagt der andere. Ein Dilemma.

Sich Haut an Haut spüren

Sehr viele Paare verlieren die emotionale Intimität, wenn der Alltag überhandnimmt: Sie übergehen ihre (körperlichen) Grenzen, indem sie sich überarbeiten, zu wenig schlafen, sich schlecht ernähren und kaum bewegen. „Wir lassen keine gesunde Phase der Langeweile im Organismus zu“, bedauert Bragagna. Auf diese Weise verderben wir uns den Appetit aufs Leben und die Liebe. Wer nicht zu jenen Menschen zählt, die Stress mit Sex abbauen, will dann gar nicht mehr. „Der Körper braucht dann anderes – Schlaf, Ruhe, Erholung.“
Was ein müdes, lustloses Paar tun kann? „Ich empfehle, einander körperlich nah zu sein, indem sich die Partner jeden Tag fünf bis zehn Minuten nackt, Haut an Haut, im Bett umarmen – ohne Absicht, ohne Sex“, veranschaulicht die Ärztin. Indem man sich wieder in den Armen des anderen spürt, entsteht ein neues Körpergefühl. „Die Liebespartner werden frusttoleranter und haben im Endeffekt wieder mehr Sex.“
Das funktioniere aber nur, wenn im Alltag keine Verletzungen passieren. „Sehr oft rufen Alltagsverletzungen Lustlosigkeit hervor“, betont Bragagna. Der Mann kritisiert seine Partnerin, oder sie macht ihn dauernd herunter. Indem man solche Situationen klärt und sich entschuldigt, kann der gekränkte Partner sich emotional öffnen und wird auch körperlich wieder berührbar.

Zwischen Sexualisierung und Tabus 

Daneben ist der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität alles andere als lustförderlich. Einerseits werden wir überflutet mit sexualisierten Inhalten, die Erotik – intime Handlungen zwischen zwei Menschen – bleibt dabei auf der Strecke.
Die inflationäre Darstellung von Sexualität und die daraus resultierende Abstumpfung ist dem Männerarzt Pfau zufolge der größte Lustkiller. Bei Männern sei insbesondere die Pornografie, die bereits junge Männer regelmäßig konsumieren, ein Thema. Die Diskrepanz zwischen dem, was in Pornos gezeigt wird und dem, was sie bekommen, ist groß. „Männer können dann mit dem, was tatsächlich in den Betten läuft, nicht mehr zufrieden sein“, beobachtet Pfau ein verbreitetes Phänomen. „Man braucht etwas immer Extremeres, Spritzigeres, Gefährlicheres, um überhaupt einen Kick zu spüren“, bestätigt auch Bragagna und fragt: „Ist das die Form der Lust, die wir wollen?“

Körperfreundliches Umfeld gefragt

Für die sexuelle Entwicklung ist ein unaufgeregter und offener Zugang zu Sexualität von Kindheit an am förderlichsten. Bettina Weidinger, Pädagogische Leiterin des Österreichischen Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapien, plädiert für ein „körper- und sexualfreundliches Umfeld, in dem körperliche Bewegung gefördert wird, es einen positiven Körperbezug gibt und Sexualität neutral oder positiv bewertet wird.“ Aktuell würde das gesellschaftliche Credo der Risikominimierung zulasten der Lebendigkeit und eines gesunden Körpergefühls gehen. Auch durch die ständige Verfügbarkeit der neuen Medien werde die Entfaltung des Körperbewusstseins von klein auf gebremst. „Basierend auf ihrer grundsätzlichen Sehnsucht, sich über Bewegung zu spüren, entwickeln Kinder viele Lustkompetenzen“, erklärt Weidinger.
„Allerdings: Ein Kind, das mit fünf Jahren lernt, dass Tablet-Wischen die Lust an der Bewegung ersetzt, bewegt sich nicht mehr.“
Was die Entwicklung außerdem beeinträchtigt? „Ein Teil unserer sexualfeindlichen Haltung ist, dass Erwachsene grundsätzlich alles bewerten“, bedauert Weidinger. Gesellschaftliche Regeln sollten den Kindern wertfrei vermittelt werden. Ein Beispiel: „Nacktsein bei uns auf der Straße ist weder üblich noch erwünscht, grundsätzlich ist es aber etwas Positives“, verdeutlicht die Expertin.

Wer nichts weiß, muss alles glauben

Es sei zudem ein fataler Irrtum zu glauben, man müsse Kinder von allem fernhalten, was mit Sexualität zu tun hat. „Wer nichts darüber weiß, muss alles glauben“, zitiert Weidinger Marie von Ebner-Eschenbach. Die fehlende Begleitung, erst recht in Kombination mit der frühzeitigen Konfrontation mit pornografischen Inhalten, beeinträchtigt die Entwicklung. Die Heranwachsenden müssen für wahr halten, was sie sehen.
Anders, wenn Kinder in einem offenen und respektvollen Umfeld groß und dabei unterstützt werden, ihren (Körper-)Wahrnehmungen zu vertrauen. „Ein positiver Zugang zu Sexualität inkludiert Besprechbarkeit“, betont Weidinger. Wenn die neunjährigen Sprösslinge  Sexwitze zum Besten geben, ist die beste Reaktion eine entspannte: „Wenn Eltern einfach lachen, ist dem Kind klar: Meinen Eltern kann ich später auch Fragen zu Sexualität stellen.“
Ist die kindliche Entwicklung geglückt, sind die Fragen eher offen und neugierig. Die Kinder und Jugendlichen wollen dann die verschiedenen Mythen rund um Sex ergründen. Dazu zählen zum Beispiel: Das erste Mal tut weh. In einer guten Beziehung hat man automatisch guten Sex. Für guten Sex muss ein Penis lang sein.
Zwar sind die Fragen der Jugendlichen gesellschaftlich beeinflusst, die Themen sind gleich geblieben: Bin ich und das, was ich spüre, richtig? Wie werde ich für jemand anderen sexuell attraktiv? Ist mein Körper richtig?

Lust versus Liebe

Unabhängig von der individuellen sexuellen Entwicklung tritt die Lust im Lauf einer Langzeitbeziehung naturgemäß etwas in den Hintergrund. „Lust allein ist auf Dauer ein schlechtes Motiv für die sexuelle Interaktion zwischen zwei Menschen“, betont Pfau. Das deutlich bessere Motiv sei die emotionale Dimension, die Liebe: Ich möchte dich spüren. Ich möchte deine Nähe und Zuwendung. „Das dauerhafte Ziel von Sexualität zwischen zwei Menschen sind nicht Orgasmen, sondern das Bewusstsein, geliebt und begehrt zu sein“, ist der Mediziner überzeugt.
Welche Gründe auch immer man für sexuelle Intimität hat: Mit seinen Belohnungen – sexuelle Erregungsgefühle, Orgasmen, Erotik, Intimität, Nähe, Geborgenheit – lockt das Liebesspiel immer wieder von Neuem.

Mehr Lust auf Liebe
Fünf Zutaten für erfüllenden Sex

1. Sich Zeit nehmen

Stress zählt aktuell zu den großen Lustkillern – Paare sollten sich regelmäßig Zeit füreinander nehmen. Entspannungsmethoden können dabei helfen, einen Gang herunter zu schalten und neue Kräfte zu tanken. „Sexualität funktioniert am besten, wenn der Körper überschüssige Energien hat“, betont der Linzer Männerarzt Dr. Georg Pfau. Indem man einander emotional nah kommt, ist auch sexuelle Intimität möglich.

2. Gespräche führen

Ein offener Austausch über (sexuelle) Wünsche fördert die Erotik. „Es kann Phasen geben, in denen man wild darauf ist, sich körperlich auszutoben. Manchmal ist es das Wichtigste, sich vom Partner angenommen zu fühlen und mit ihm zu verschmelzen“, erklärt die Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna. „Jene Menschen, die achtsam mit sich sind und wissen, was sie brauchen, haben auch guten Sex.“

3. Körperbewusstsein fördern

In unserer digitalisierten, berührungsarmen Gesellschaft spüren wir uns selbst kaum mehr – wie sollen wir da den oder die andere spüren? Zuerst gilt es, den Kontakt mit sich selbst und den eigenen körperlichen Bedürfnissen herzustellen: Was erregt? Was macht Lust und befriedigt? „Viele Männer und Frauen bedienen ihre Wünsche bei der Masturbation“, erklärt Männerarzt Pfau.

4. Bewegung einbauen

Wer von klein auf dem natürlichen Bewegungsdrang nachgeben kann, entwickelt eher ein gesundes Körpergefühl – mit positiven Effekten auf die Sexualität. „Um die genitale Spürfähigkeit zu erhalten, muss die Beckenregion gut durchblutet sein“, ergänzt die Sexualpädagogin Bettina Weidinger.
Das Becken kann durch viele Bewegungsformen und Beckenbodentraining aktiviert werden.

5. Lusterlebnisse sammeln

Lust ist eine ganzheitliche Erfahrung und bleibt nicht auf die Sexualität beschränkt. Einige Lustfähigkeiten – die orale Lust am Essen, die sexuelle Erregungslust – sind in uns angelegt; andere müssen erlernt werden: das Genießen der Natur, die Hingabe an ein schönes Musikstück etc. „Wenn man sich an vielem lustvoll erfreuen kann, ist auch die sexuelle Lust besser abgesichert“, betont Sexuapädagogin Weidinger.

Chemie der Liebe
So gesund ist regelmäßiger Sex

Dass Sex gesund ist, belegen zahlreiche Studien. Beim Liebesspiel werden die Wohlfühlhormone Dopamin, Oxytocin und Endorphine sowie die anregenden Botenstoffe Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet. Weil das Stresshormon Cortisol ausgeschaltet wird, sind wir danach entspannt und glücklich; das Depressionsrisiko sinkt. Damit nicht genug: Sex schützt außerdem das Herz und stärkt das Immunsystem.
Bei Männern sinkt das Risiko für Prostatakrebs, bei Frauen jenes für Osteoporose, den Knochenschwund. Nicht zuletzt sind die Beziehungen sexuell aktiver Liebespartner stabiler als jene lustloser Paare.

Probleme beim Sex:
Wenn Störungen dazwischen funken

Sexualstörungen können das Liebesleben stark beeinträchtigen. Jede zehnte Frau leidet unter Lustlosigkeit und jede 20. hat Erregungs- und Orgasmusprobleme. Bei Männern sind Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion) und der vorzeitige Samenerguss die häufigsten Sexualstörungen.
Aus Sicht der Sexualmedizin sind psychische Probleme oft eine Ursache für die Beschwerden. Mit zunehmendem Alter nehmen allerdings organische Erkrankungen (Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Prostataerkrankungen etc.) zu. Aus diesem Grund sollten körperliche und psychische Aspekte (fach)ärztlich abgeklärt werden.

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©iStock/Harbucks

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