Leben & Arbeiten

Immer auf Abruf?

So schadet uns die permanente Erreichbarkeit
 
Dank Smartphone und Tablet sind wir ständig und überall erreichbar – immer öfter auch für den Chef. Mittlerweile sind viele Beschäftigte auch nach Büroschluss für die Firma da, die Grenze zwischen Beruf und Privatleben verschwimmt zusehends. Einer aktuellen Umfrage zufolge arbeitet rund ein Drittel der heimischen Beschäftigten auch in der Freizeit, knapp ein Fünftel kommt selbst im Urlaub nicht zur Ruhe. Dass wir immer schlechter abschalten können, hat gefährliche Folgen für die Gesundheit. So bannt man den Fluch der permanenten Erreichbarkeit.
 
Von Mag. Alexandra Wimmer

Ob man gerade an seinem Arbeitsplatz in Österreich sitzt, sich in Indien oder den USA aufhält: Mit E-Mail-tauglichen Smartphones oder Laptops hat man das Büro quasi in der (Hosen-)Tasche und ist damit rund um die Uhr erreichbar. „Man kann sofort und überall einen Auftrag annehmen oder in das Arbeitsgeschehen involviert werden“, erklärt Priv. Doz. Dr. Georg Wultsch, Allgemeinmediziner und Facharzt für Arbeits- und Betriebsmedizin in Graz. Den Beschäftigten wird heute nicht nur maximale Flexibilität abverlangt.
Aufgrund der weltweiten Vernetzung müssen immer mehr Berufstätige die Zeiteinteilung auch auf Kunden oder Kollegen auf anderen Kontinenten abstimmen. „Es ist üblich, dass man in der Nacht noch eine Telekonferenz mit Kanada hat oder in der Früh mit Japan konferiert“, erörtert Wultsch. Das beeinflusst nicht nur den Arbeitsablauf, sondern stört auch die wichtigen Ruhephasen. Die heutige Arbeitswelt ist schnelllebiger denn je.    ‘

Unfähig abzuschalten

Dass immer mehr Berufstätige buchstäblich nicht mehr abschalten können, hat aber nicht nur mit der Globalisierung zu tun. Es gibt weitere Gründe: Hierzulande hat fast ein Viertel der Beschäftigten – mehr als 800.000 Menschen – einen All-inclusive-Vertrag. Einen Arbeitsvertrag, der gleichsam alles „abdeckt“ und das Arbeiten in der Freizeit geradezu herausfordert. Auch die an sich gute Möglichkeit, sich die Arbeitszeit flexibel einzuteilen und zuhause im „Homeoffice“ zu arbeiten, lässt die Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben zusehends verschwinden: Man beantwortet in einer Werbepause von der Fernseh-Couch aus rasch ein dienstliches E-Mail oder nimmt abends beim Kochen den Anruf einer Kollegin entgegen. Diese permanenten Unterbrechungen der Freizeit – allein schon die Möglichkeit, gestört zu werden – sorgen für Stress und Anspannung.

Überall und jederzeit

Das bestätigt eine Untersuchung von Wirtschaftspsychologen der Universität Kassel: Im Rahmen einer „Tagebuch-Studie“ haben 138 „Wissensarbeiter“ – Kopfarbeiter, deren Aufgabe es ist, neuartige, komplexe Lösungen zu finden – unterschiedlicher Unternehmen eine Woche lang Buch darüber geführt, wie sie Internet und Mobilfunk in der Freizeit für berufliche Zwecke nutzen. Das alarmierende Ergebnis: Nur jeder Zehnte unterbricht den Feierabend nie für Berufliches, 21 Prozent tun dies selten, beinahe 40 Prozent der Befragten tun dies häufig oder sogar immer. Sie bearbeiten in der Freizeit – und das für durchschnittlich 26 Minuten pro Tag – berufliche E-Mails, führen dienstliche Telefongespräche etc. Den eigenen Angaben zufolge haben die meisten zwar kein Problem mit den Unterbrechungen. Tatsächlich wirken diese sich sehr wohl negativ auf das Befinden aus: Auch die scheinbar Zufriedenen gaben an, infolge der Störungen schlechter gelaunt und weniger vital zu sein und obendrein schlechter zu schlafen.

Maximal flexibel

Was vielen in Anbetracht des rasanten Arbeitstempos außerdem zunehmend fehlt: Phasen des Nachdenkens und der Reflexion. Es mangelt an Zeit, um gründlich über Ideen oder Lösungsmöglichkeiten nachzudenken. Darunter leidet auch die Qualität der Arbeit. „Heute muss möglichst ohne Vorlaufzeit eine Lösung oder ein Produkt auf den Tisch“, sagt Wultsch. Der Auftrag kam gestern, heute muss das Produkt raus. Das Erreichen kurzfristiger Ziele wird als Erfolg gefeiert, langfristige Ziele werden zunehmend vernachlässigt.
Wegen des großen Zeitdrucks kommt auch die Kommunikation zu kurz, den Mitarbeitern fehlen Rückmeldungen zu ihrer Arbeit – und ganz besonders Lob. Es werden immer weniger persönliche Gespräche geführt. Hat man früher in Vier-, Sechs- oder Acht-Augen-Gesprächen beratschlagt und diskutiert, kommuniziert man heute großteils über E-Mail, SMS oder WhatsApp.

Immer spezieller

Ob Einkaufsabteilung, Produktion, Marketing- und Dispositionsabteilung: Die industrielle Entwicklung hat zur zunehmenden Spezialisierung geführt. Auch das geht – zumindest indirekt – auf Kosten der Erholung: Weil jeder einzelne mittlerweile sehr komplexe, vielfältige Themen zu bearbeiten hat, gibt es – etwa im Krankheits- oder Urlaubsfall – keinen echten Ersatz oder Vertreter mehr. „Der Mitarbeiter muss für die Firma erreichbar sein, weil sonst beispielsweise die Produktion nicht laufen kann“, erklärt Wultsch.
Wenn nun die Arbeit in Form von Laptop oder Smartphone sogar in den Urlaub mitreist, rückt die Erholung in weite Ferne. Dennoch kommen die Beschäftigten der – oft unausgesprochenen – Erwartung, erreichbar zu sein, nach. Ein Grund ist die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust, weiß der Arbeitsmediziner. „Viele haben die Illusion, sich unersetzlich zu machen, indem sie immer erreichbar bleiben.“
Die Tendenz zur ständigen Erreichbarkeit wird durch den privaten, teils exzessiven Handy-Gebrauch zusätzlich angeheizt. Viele schaffen es kaum noch, ihr Smartphone aus der Hand zu legen – und wenn man ohnehin „online“ ist, kann man doch auch schnell etwas Berufliches erledigen. „Selbst wenn die Arbeitgeber den Mitarbeitern ab Feierabend Ruhe gönnen, überprüfen viele ihre dienstlichen Nachrichten, weil sie süchtig nach Informationen sind“, beobachtet Wultsch.

Ausgebrannt oder gleichgültig

Wer rund um die Uhr im „Standby“-Modus läuft, kann sich nicht mehr richtig erholen. Das Gehirn ist von der Nonstop-Kommunikation überfordert. „Bei einer Arbeitsweise, die maximale Flexibilität verlangt, werden nach einiger Zeit die Energiereserven aufgebraucht“, warnt Wultsch. Das Risiko für psychosomatische Erkrankungen, für Burn-out und Erschöpfungszustände bis hin zu Depressionen steigt. „Die Zahl jener, die erschöpft sind, nimmt zu“, betont der Arzt.
Negativer chronischer Stress schwächt das Immunsystem und macht anfälliger für Infekte. Auch das Risiko für weitere gesundheitliche Beschwerden wie Bluthochdruck, Diabetes, Kopfschmerzen oder Tinnitus steigt.
„Wegen des enormen Drucks entwickeln viele Beschäftigte außerdem Abwehrmechanismen, die sich zum Beispiel im Präsentismus zeigen“, ergänzt der Mediziner. Das heißt: Sie sind zwar physisch da bzw. via Handy oder Tablet erreichbar, schalten jedoch innerlich ab und lassen nichts mehr an sich heran. In der Folge sind sie kaum noch produktiv, was nicht zuletzt dem Unternehmen schadet.

Pausen und persönliche Gespräche

Was könnten die Arbeitgeber für ihre Mitarbeiter tun? Sie sollten wieder verstärkt Pausen ins Arbeitsleben integrieren, fordert der Arbeitsmediziner. „Arbeitnehmer brauchen ausgeruhte Mitarbeiter. Sie brauchen kreative Köpfe, die fähig sind, Probleme zu erkennen.“ Statt virtueller Meetings sollte man sich wieder verstärkt in Sitzungen treffen, in denen man sich physisch gegenübersitzt. „Günstig ist, die Handy-Erreichbarkeiten in der Freizeit einzuschränken und das Verwenden von Privathandys zu reglementieren“, sagt Wultsch. Bleibt das private Handy im Büro ausgeschaltet, fällt die Erledigung der Aufgaben meist leichter.
Vom Multitasking sollte man ohnehin Abstand nehmen: Wer alles Mögliche gleichzeitig erledigen möchte, ist weniger effektiv und unkonzentrierter. Hirngerecht arbeitet, wer eins nach dem anderen erledigt: Erst werden E-Mails beantwortet, dann arbeitet man an der Präsentation, danach geht es zum Abteilungs-Meeting. Bringt man die jeweiligen Aufgaben bewusst zum Abschluss, sieht man auch, was man geschafft hat.

Offline-Zeiten planen

Und was kann jeder einzelne tun, um den Fluch permanenter Erreichbarkeit zu bannen? „Zuerst sollte man  sich sein Medienverhalten bewusst machen“, betont Wultsch. Um Freizeit und Arbeit klar zu trennen, könnte man ein Handy für private und eines nur für dienstliche Zwecke nutzen.  Das Diensthandy wird am besten mit Büroschluss ausgeschaltet, dienstliche E-Mails werden weder gelesen geschweige denn bearbeitet.
Um sich wirklich zu erholen, sollte man gezielt „Offline“-Zeiten einplanen, auch eine „digitale Fastenzeit“ könnte helfen. „Jeder sollte sich Rückzugszonen aus der elektronischen  Welt suchen“, regt Wultsch an. Man könnte abends eine Zeit festlegen, ab der man nur mehr persönliche, familiäre Kontakte pflegt. Nur wer richtig abschaltet, sammelt Kraft für kommende Aufgaben.

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Immer im Dienst?
Wer besonders betroffen ist

Die Grenze zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmt immer mehr. Das zeigt auch eine aktuelle Umfrage der Arbeiterkammer Oberösterreich vom März diesen Jahres: Bereits mehr als jeder dritte Beschäftigte (35 Prozent) arbeitet in der Freizeit, beinahe jeder Fünfte (18 Prozent) tut dies im Urlaub und ebenfalls fast jeder Fünfte (17 Prozent) kann im Krankenstand nicht abschalten. Beschäftigte in Wien arbeiten deutlich öfter in der Freizeit als jene in der Steiermark, Kärnten oder dem Burgenland.
Besonders schlecht abschalten können folgende Berufsgruppen: Lehrer, Trainer, Banker, Versicherungsangestellte, in der Baubranche Beschäftigte. Jeder Siebte hat ein dienstliches Smartphone, jeder Zehnte einen Dienst-Laptop bzw. Tablet-Computer. Jeder Dritte nutzt die Geräte auch in der Freizeit.


Buchtipp:

Eller-Berndl, Roth
Good by(e), Stress
Ein Streifzug durch Präventivmedizin und Kulturen
ISBN 978-3-99052-088-8, 160 Seiten, € 14,90
Verlagshaus der Ärzte September 2014

Stand 05/2016

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