Womit sich die Gendermedizin genau beschäftigt, wie sie dabei helfen kann, Menschenleben zu retten und warum sie auch in der Hausapotheke von Bedeutung ist.
Von Natascha Gazzari

„Das verstärkte
Bewusstsein für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern soll dabei helfen die Menschen besser zu therapieren.“
Frauen und Männer ticken unterschiedlich, besonders dann, wenn sie krank sind. Wie stark der Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit ist, wurde von der Medizin über Jahrzehnte hinweg ignoriert, mit teils dramatischen Folgen, speziell für Frauen. Die Gendermedizin hat es sich zum Ziel gesetzt, eine optimale medizinische Versorgung für alle Geschlechter zu ermöglichen. Die sechs wichtigsten Fragen rund um das spannende Thema, das in immer mehr Praxen Einzug hält, beantwortet Prim. Dr. Eva Ornella, Fachärztin für Innere Medizin und Ärztliche Leiterin ÖGK Mein Gesundheitszentrum Innere Medizin, Klagenfurt.
Was versteht man unter Gendermedizin?
Der Begriff „Gendermedizin“ ist zugegebenermaßen etwas unglücklich gewählt. Eigentlich müsste es „geschlechtsspezifische Medizin“ heißen. Frauen und Männer unterscheiden sich biologisch durch die Geschlechtschromosomen und durch die Geschlechtshormone, die unser äußeres Erscheinungsbild prägen. Fälschlicherweise wird Gendermedizin manchmal als „Frauenmedizin“ verstanden, sie beschäftigt sich jedoch allgemein mit dem Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit, sowohl bei Männern, als auch bei Frauen. Die Medizin hat sich über viele Jahrzehnte hinweg am „Modell Mann“ orientiert und Frauen wurden einfach wie eine Art „kleinerer, leichterer Mann“ behandelt.
Warum ist es wichtig, das Geschlecht in die Diagnose und Therapie einzubeziehen?
Mittlerweile weiß man, dass es bei der Diagnosestellung und bei der Behandlung einen großen Unterschied macht, ob wir Frauen oder Männer behandeln. Die Symptome einer Erkrankung können bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich sein. Es gibt außerdem ein geschlechtsspezifisches Sozialverhalten. Nehmen wir das Beispiel der Depression: Frauen leiden viel häufiger an den klassischen Symptomen einer Depression, wie Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, trauriger Grundstimmung, Aussichtslosigkeit und Schlaflosigkeit. Frauen suchen mit diesen Symptomen auch eher Hilfe und es fällt ihnen leichter, diese anzunehmen.
Inzwischen gibt es den Begriff der „Male Depression“, da Männer sehr häufig ganz andere Symptome bei einer Depression zeigen. Die klassischen Symptome werden teilweise von Gereiztheit, Aggressivität, Rastlosigkeit, Rückzug und antisozialem Verhalten überlagert. Aus diesem Grund wird eine Depression bei Männern oft lange nicht erkannt und behandelt. Glücklicherweise steigt das Bewusstsein für diese Gender-Unterschiede und Diagnosen werden rascher gestellt.
Wann kann Gendermedizin zum Lebensretter werden?
Das beste und bekannteste Beispiel dafür, wie unterschiedlich sich ein und dieselbe lebensbedrohliche Erkrankung bei Männern und Frauen äußern kann, ist der Herzinfarkt. Bei Frauen sind die Anzeichen für einen Herzinfarkt oft „atypisch“, d.h. bei ihnen kommt es eher zu Übelkeit, Erbrechen, Schwäche mit Leistungsminderung, plötzlichen Schweißausbrüchen sowie Schmerzen im Oberbauch, im Kiefer oder im Nacken. Der bei Männern dominierende „Vernichtungsschmerz“ in der Brust kann, muss bei Frauen jedoch nicht auftreten. Hauptsymptom beim weiblichen Herzinfarkt ist die Übelkeit. Werden die Symptome nicht richtig gedeutet, vergeht wertvolle Zeit, in der die Patientin bereits versorgt werden könnte. Auch im Bereich der Gastroenterologie ist es wichtig, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. Da Männer tendenziell früher an Dickdarmkrebs erkranken, sollten sie bereits ab dem 45. Lebensjahr das Angebot der Vorsorgekoloskopie nutzen. Bei Frauen steigt das Risiko häufig erst in späteren Jahren, wenn nach der Menopause langsam der schützende Effekt des weiblichen Geschlechtshormons Östrogen nachlässt. Deshalb sollten Frauen zwar etwas später, aber länger zur Vorsorgekoloskopie gehen – die offizielle Empfehlung endet mit dem 80 Lebensjahr. Je früher Darmkrebs diagnostiziert wird, umso besser stehen die Heilungschancen.
Wirken Medikamente bei Frauen und Männern gleich?
Je nach Geschlecht unterscheiden sich viele Medikamente in ihrer Wirkung. So sollten z.B. Betablocker, die bei erhöhtem Blutdruck eingesetzt werden, für Frauen geringer dosiert werden, um unerwünschte Nebenwirkungen zu reduzieren. Verschreibungspflichtige Schmerzmittel (Opioide) wirken bei Frauen stärker und sie haben auch viel häufiger Nebenwirkungen wie Übelkeit, Verstopfung oder Schläfrigkeit. Beim Wirkstoff Digitalis, der bei Herzschwäche verordnet wird, zeigte sich bei Frauen eine erhöhte Sterblichkeit. Diese wichtige Tatsache wurde allerdings nicht sofort erkannt, da Dreiviertel der Studienteilnehmer männlich waren.
Was muss ich beachten, wenn ich rezeptfreie Schmerzmittel einnehme?
Auch hier kommt es darauf an, welches Geschlecht das Familienmitglied hat, das ein Medikament einnimmt. Das gängige Schmerzmittel Ibuprofen, das quasi in jeder Hausapotheke zu finden ist und viele Frauen bei Migräne und Menstruationsschmerzen nehmen, wirkt bei Männern stärker als bei Frauen. Das fiebersenkende Mittel Paracetamol wird von Frauen langsamer abgebaut und führt deshalb bei Frauen häufiger zu Leberschäden. Bei der Einnahme von Antihistaminika, die allergische Beschwerden lindern, beobachtet man bei Frauen häufiger Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit. Verantwortlich dafür ist die stärkere Wirkung von Antihistaminika am zentralen Nervensystem von Frauen.
Worin liegen die größten Chancen der Gendermedizin?
Die Forschung zum Thema geschlechtsspezifische Medizin gibt es mittlerweile seit ungefähr 30 Jahren. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse haben jedoch bis jetzt kaum Einzug in den medizinischen Alltag gehalten. In jüngster Zeit rückt die Gendermedizin zum Glück immer mehr in den Fokus der Öffentlichkeit und somit auch der Ärztinnen und Ärzte. Das verstärkte Bewusstsein für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern soll dabei helfen, Fehldiagnosen zu vermeiden, früher zu handeln und die Menschen besser zu therapieren. Die Medizin hat hier einen großen Aufholbedarf.
Fotos: istock porcorex