Neurologie & Psyche

Jung, verunsichert & sozial im Abseits?

Jugendliche haben in unserer globalisierten Welt unbegrenzte Möglichkeiten. Gleichzeitig sind sie mit Herausforderungen konfrontiert, die für ihre Eltern unvorstellbar waren: Druck durch die Nutzung sozialer Medien, Mobbing, das immer brutaler wird, und eine sich dramatisch verändernde Arbeitswelt. Was Kids hilft, sich trotz aller Verunsicherung sozial gesund zu entwickeln.

von Mag. Alexandra Wimmer

Sie müssen sich von den Eltern lösen, ihre eigene Identität entwickeln, sich im Freundeskreis neu positionieren und ihren Platz in der Gesellschaft finden: Auf Pubertierende wartet eine Fülle von Entwicklungsaufgaben. Werden diese erfolgreich bewältigt, gehen die Jugendlichen aus der Pubertät als stabile, verantwortungsvolle junge Erwachsene hervor. Allerdings wird die Entwicklung heute durch verschiedene Einflüsse zusätzlich erschwert und torpediert.

Druck durch soziale Medien

Gerade, weil Jugendliche sich körperlich, psychisch und sozial im Umbruch befinden, sind sie sehr anfällig für psychische Probleme – jeder fünfte Teenager ist betroffen. Angststörungen wie soziale Ängste treten besonders oft auf: Jugendliche mit einer Sozialphobie ziehen sich immer mehr zurück, weil sie fürchten, sich vor anderen zu blamieren, bewertet oder verurteilt zu werden. Ob ein Jugendlicher eine Sozialphobie entwickelt, hänge auch vom jeweiligen Grundtemperament ab, betont der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Helmut Krönke. „Bei einem schüchternen, zurückhaltenden Typ ist die Gefahr größer als bei einem Partytiger.“
Für jene mit starken sozialen Ängsten bietet die virtuelle Welt der sozialen Medien den vermeintlich perfekten Ausweg. „Die Betroffenen können mit anderen in Kontakt treten, ohne allzu viel von sich preiszugeben. Indem sie einen Avatar erschaffen, eine Art Verkleidung, fällt ihnen die Kommunikation leichter“, weiß der Facharzt. Durch den fortschreitenden Rückzug kommt ein Teufelskreis in Gang, wie Unter­suchungen zeigen: Wer viele Freunde in sozialen Netzwerken hat, hat kaum oder keine Freunde im echten Leben. Wenn sich Jugendliche zuhause oder in der Schule massiv isolieren, ist dies immer ein Alarmsignal.
Mag. Daniela Himmelsbach, die beim Verein Neustart als Schulsozialarbeiterin an einer Polytechnischen Schule im Salzburger Oberndorf tätig ist, kennt solche Fälle. „Ich suche dann – mit dem Einverständnis des Jugendlichen – das Gespräch mit den Eltern“, erzählt sie. Diesen rate sie, das Verhalten psychiatrisch abklären zu lassen. Wird dies vom Betroffenen abgelehnt, regt sie eine Psychotherapie an.
Der Rückzug in die virtuelle Welt ist Himmelsbach zufolge aber längst nicht das einzige Problem, das (neue) Medien mit sich bringen. Viele Jugendliche seien durch die Flut von negativen Meldungen sehr verunsichert, weiß die Schulsozialarbeiterin. „Manche Schüler entwickeln diesbezüglich massive Ängste, sodass sie gar nicht mehr am gesellschaftlichen oder politischen Geschehen interessiert sind.“ Nicht zuletzt entstehen durch die neuen Medien gefährliche Informationsblasen: Wurden früher verschiedene Informationsquellen – Zeitungen, Radio, Fernsehen – herangezogen, beziehen viele ihre Informationen allein aus sozialen Medien und übernehmen diese völlig unreflektiert, wie Krönke aus seiner Arbeit mit Jugendlichen weiß. „Es ist höchst bedenklich, dass unabhängige Medien immer mehr in den Hintergrund rücken.“

Bewusste Nutzung von Smartphone & Co

Die Gesellschaft als Ganzes ist gefordert, damit die neuen Medien maßvoll – und bewusst – genutzt und nicht nur passiv konsumiert werden. „Jugendliche sollten erleben, dass sie sich nicht nur berieseln lassen müssen, sondern mit den Medien etwas bewirken und kreieren können“, erklärt Himmelsbach. Die ersten Schritte in die virtuelle Welt sollten von Erwachsenen begleitet und im kritischen Dialog aufbereitet werden.
Besonders wichtig sind ausreichend Offline-Zeiten: Aus Schlafräumen sollten Bildschirmmedien ganz verbannt werden, legt der Facharzt nahe. Sind Jugendliche permanent online, kommen sie nicht zur Ruhe und leiden ­irgendwann an einer Schlafstörung. „Schlechter Schlaf steht nicht selten am Beginn einer psychischen Erkrankung“, warnt Krönke.

Grenzenlos coole Eltern

Von einer nie dagewesenen Verunsicherung ist die Eltern-Kind-Beziehung geprägt. „Eltern trauen sich oft nicht mehr, den Kindern Grenzen zu setzen“, weiß der Jugendpsychiater. „Sie haben Angst vor Konflikten und davor, dass diese zu einer Entwertung ihrer selbst führen. Sie haben die – unbegründete – Angst, dass die Kinder sie dann nicht mehr lieb haben.“ Der große Wunsch nach Harmonie führt dazu, dass Eltern alles möglichst aggressionsbefreit mit den Kindern ausdiskutieren wollen. Dies sei laut Krönke keinesfalls sinnvoll: Schließlich ist eine gewisse Aggressivität notwendig, etwa um gesteckte Ziele zu erreichen.
Heranwachsende brauchen auch nicht vorrangig coole Eltern, sondern solche, die sich selbst treu sind und Konflikte mit dem Nachwuchs nicht scheuen. Nichts sei auffälliger, als wenn die Mutter die beste Freundin einer Jugendlichen ist, betont Krönke. „Die Aufgabe von Jugendlichen ist, ihre Eltern und deren Wertesystem massiv in Frage zu stellen. „Eine freundschaftliche Beziehung zwischen Eltern und Kindern kann meines Erachtens frühestens geben, wenn die Jugendlichen ins Erwachsenenalter übergehen.“

Grenzen setzen und Vertrauen schenken

Natürlich soll man freundlich miteinander umgehen und das familiäre Zusammensein genießen. Eltern als Erziehungsberechtigte haben aber auch den Auftrag, Kindern etwas zu vermitteln und sie – manchmal gegen deren Widerstand – zu fördern. Indem sie den Heranwachsenden (soziale) Regeln beibringen und Grenzen setzen, geben  sie Halt und Sicherheit. Fehlen solche Grenzen, suchen die Jugendlichen diese womöglich außerhalb der Familie. „Jugendliche Straftäter haben oft anderweitig die Grenzen gesucht – sei es über den Konsum von illegalen Substanzen oder über kleinere oder größere Straftaten“, weiß Krönke. „Eltern und Schule sollten auf das Zusammenleben in der Gesellschaft, das auch durch Gesetze geregelt ist, vorbereiten“, betont Sozialarbeiterin Himmelsbach. „Mit 14 Jahren sind die Schülerinnen und Schüler strafmündig, oft  haben sie großen Bedarf an Wissen.“
Abgesehen davon fördern sichere Bindungen zu stabilen, emotional warmen Erwachsenen von klein auf den Selbstwert und schützen wirksam vor Abhängigkeit: Ein selbstbewusster Teenager muss nicht um jeden Preis zu einer Clique gehören, bei der Saufgelage auf der Tagesordnung stehen. Erleben die Jugendlichen, dass die Eltern ihnen vertrauen und zu ihnen stehen, ist dies wie ein Vitaminschub für die psychosoziale Gesundheit.

Ausgrenzung und Mobbing immer brutaler

Aus einer Gruppe ausgeschlossen oder gemobbt zu werden, ist in der Pubertät besonders belastend: Ihr großer Wunsch, dazuzugehören, macht Jugendliche sensibel für Ausgrenzung. „Mobbing wird aufgrund der vermeintlichen Anonymität in den sozialen Medien immer heftiger“, beobachtet Psychiater Krönke. Beunruhigend sei außerdem die „dissoziale Seite“ der Täter, die „ein großes Vergnügen dabei empfinden, andere bloßzustellen, zu verletzen und an ihre Grenzen zu treiben.“ Die Mobbingopfer sind oft Jugendliche, die bereits psychische Probleme haben. Oder es trifft Schüler mit einem anderen kulturellen Hintergrund als das Gros der Clique oder von Armut betroffene. In Österreich wächst jedes zehnte Kind – insgesamt 400.000 Kinder und Jugendliche – in Armut auf. „Man weiß, dass Armut krank macht und von sozialen Systemen ausschließt“, betont Himmelsbach.
Dass Mobbing immer heftiger wird, hat auch mit sozialen Veränderungen zu tun: „Die Ausgrenzung von Menschen, die anders sind, wird gesellschaftlich wieder mehr toleriert“, bedauert Krönke. „Ich erlebe oft, dass ­Jugendliche aufgrund ihrer Herkunft oder körperlicher Merkmale sehr massiv in den Fokus der Feindseligkeit gerückt werden.“ Die Ablösung des Wir-Gefühls durch Egozentrik wird durch soziale Medien verstärkt: „Auf Instagram protzen Prominente mit Luxus, der Rest der Welt ist ihnen egal“, so der Arzt. „Die Gesellschaft setzt Heranwachsenden das Medium ohne moralisches Wertesystem vor.“

Schutz und Stärkung durch Verbundenheit

Hier braucht es die Schärfung des sozialen Bewusstseins, um diese Tendenzen zu stoppen.
Für Schüler, die unter massivem Mobbing leiden, bewähre sich der „No-blame-Approach“, informiert Himmelsbach. „Man baut in der Schule eine Peergroup rund um das Mobbingopfer, die das Kind im Alltag schützt.“ Die Methode eigne sich auch dazu, jene, die bisher zugeschaut haben, einzubinden und zu mobilisieren. „Grundsätzlich wollen Menschen der Rolle, die sie im sozialen System haben, entsprechen.“ Es stärkt den Selbstwert, wenn man gebraucht wird und eine Funktion in einer Gemeinschaft hat: „Man fühlt sich umso wohler, je besser man in der Gemeinschaft verankert ist“, sagt Himmelsbach.

Dramatischer Wandel der Arbeitswelt

Während der Zeitgeist den Individualismus und maximale Selbstbestimmung beschwört, sind die Zukunftsperspektiven aufgrund der sich dramatisch wandelnden Arbeitswelt ungewiss. „Zwischen diesen Polen müssen junge Menschen sich heute bewegen. Das kann Ängste auslösen“, weiß die Wiener Allgemeinmedizinerin und Psy­chotherapeutin Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger. Die rasanten technologischen Entwickelungen hätten tiefgreifende Konsequenzen für die Berufswelt. „Wir wissen nicht, welche Berufe es in 20 Jahren noch geben wird – es ist also schwierig, vorausschauend eine Berufswahl zu treffen“, betont die Psychotherapeutin. „Auch die Möglichkeiten, sich materiell etwas aufzubauen, sind im Vergleich zu früheren Generationen deutlich eingeschränkt.“ Die resultierende Verunsicherung drückt auf das Selbstwertgefühl, wie auch Schulsozialarbeiterin Himmelsbach beobachtet. „Einige Schüler der Polytechnischen Schule haben den Eindruck, vom Schulsystem aussortiert worden zu sein.“

Soziale Kompetenz und Kreativität fördern

Was ihnen helfen könnte? Die vorhandenen Ressourcen müssen gestärkt und die Vorzüge betont werden. „Im Schulalltag hören Jugendliche oft, was sie nicht können. In der Sozialarbeit hören sie, wofür man sie wertschätzt“, erklärt Himmelsbach.
Um fit für die Zukunft zu sein, sollten sich die Heranwachsenden soziale Kompetenzen, Social Skills, aneignen. „Da die Prozesse, an denen immer mehr Menschen gemeinsam arbeiten, immer komplexer werden, braucht es Teamworker“, betont Leibovici-Mühlberger. Entsprechend wichtig, dass in der Schule verstärkt Wert auf Zusammenarbeit und Teamgeist gelegt wird.
Daneben sollte die Kreativität der Kinder gefördert werden. Diese ist in vielerlei Hinsicht hilfreich und stellt sogar einen gewissen Schutz vor Arbeitslosigkeit dar. „Einer Studie zufolge wird, wer in der Kindheit ausreichend mit qualitativ hochwertiger Kunst zu tun hatte, viereinhalb Mal weniger wahrscheinlich arbeitslos als der Durchschnitt“, informiert Leibovici-Mühlberger und erklärt warum: „Man entwickelt die Kompetenz, das eigene Portfolio kreativ an die jeweiligen Herausforderungen anzupassen.“ Nicht zuletzt wirkt sich das Ausüben einer (Team)Sportart positiv auf die Entwicklung der Heranwachsenden aus. „Man stärkt die Identität sowie die Selbstbewusstheit, sodass Selbstwert entsteht“, betont die Ärztin. Und dieser ist die beste Basis, um sich im Leben zu bewähren – egal, wie die (Arbeits-)Welt sich entwickelt.

Angst vor den anderen:
Wie eine Sozialphobie Jugendliche ausbremst

Weltweit leidet jedes fünfte Kind zwischen acht und 18 Jahren an einer psychischen Störung. Angststörungen, etwa soziale Ängste, zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Wird eine Sozialphobie nicht rechtzeitig behandelt, steigt das Risiko für zusätzliche Störungen wie eine Depression. Ein Teufelskreis kommt in Gang: Durch die Vermeidung von Sozialkontakten können die Jugendlichen keine adäquaten sozialen Kompetenzen erwerben. Dabei sind Erfahrungen und der Austausch mit Gleichaltrigen gerade in der Pubertät wichtig für die Entwicklung von Identität, Individualität und Unabhängigkeit. Zu den körperlichen Symptomen sozialer Ängste zählen Schwitzen, Herzklopfen, Bauchschmerzen, Zittern, Unruhe und Anspannung.
Wird frühzeitig therapeutisch interveniert, lässt sich verhindern, dass das Leiden chronisch wird. In der kognitiven Verhaltenstherapie lernen Betroffene, die Vermeidungshaltung zu überwinden und sich den Ängsten zu stellen. Die tiefenpsychologische Therapie sucht nach den inneren Konflikten, die Ursache für die sozialen Ängste sein könnten. Wichtig: Um organische Ursachen auszuschließen, sollten die Beschwerden immer ärztlich abgeklärt werden.

Zutaten für psychosoziale Gesundheit:
Selbstverwirklichung und Teamgeist

Man fühlt sich prinzipiell wohl im Leben, kann seine Fähigkeiten verwirklichen, kommt mit einem normalen Maß an Belastungen zurecht und leistet einen Beitrag für die Gesellschaft: So definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) psychosoziale Gesundheit.
Am „Arbeitsplatz Schule“ wird diese unter anderem durch folgende Faktoren gefördert: Die Schüler sind zufrieden mit ihren Leistungen, sie haben gelungene Beziehungen zu Mitschülern und Lehrern sowie Gestaltungsmöglichkeiten, die Klassenatmosphäre ist angenehm. Weiters gibt es Verhaltensregeln und Angebote zur Konflikt- und Krisenbewältigung etwa im Rahmen der Schulsozialarbeit. Um Heranwachsende bestmöglich zu fördern, bedarf es nicht zuletzt einer starken Eltern-Schul-Partnerschaft. (Aus)Bildungseinrichtungen sollten zudem die Folgen ungleicher sozialer Chancen von Jugendlichen positiv beeinflussen und ausgleichen.

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Foto: iStock, SeventyFour

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