Stille Entzündungen

Oktober 2023 | Medizin & Trends

Kein Entzündungsherd, der schmerzt, gerötet oder geschwollen ist. Keine einschlägig erhöhten Blutwerte. Wie man stillen Entzündungen auf die Spur kommt.

Von Mag.a Andrea Riedel

Angina, Ekzem, Blasen- oder Schleimbeutelentzündung: Akute Entzündungen kennt jede*r. Sie können überall auftreten und selbst Kinder zeigen zielsicher auf den Entzündungsherd: Da tut’s weh!

„Da“ ist meist dort, wo sich Keime eingenistet haben oder Gewebe verletzt oder gereizt ist. Die Entzündungsstoffe, die das Immunsystem dann gezielt ausschickt, sind eine Art „reinigendes Feuer“, um den Schaden vor Ort zu reparieren.

Unspezifische Symptome

Ganz anders verhält es sich mit chronischen, auch stillen, Entzündungen genannt. Sie sind eher mit einem Schwelbrand zu vergleichen, der unerkannt das Immunsystem schwächt, wichtige Prozesse im Körper aus dem Lot bringt und zahlreiche Erkrankungen hervorrufen kann.

Weil potenzielle Symptome so unspezifisch und allgemein sind, bleiben sie meist unter dem Radar der Betroffenen: Die einen fangen jeden Infekt auf, ohne sich je richtig auskuriert zu fühlen. Andere sind „nur“ müde und abgeschlagen, manchen tut oft „alles“ weh oder die Verdauung spinnt. – aber solche Phasen sind doch normal, oder? „Nicht, wenn sie Wochen oder gar Monate anhalten“, sagt OÄin Dr. in Karin Schöls. Dennoch dauere es bei vielen oft lange bis zur richtigen Diagnose und Behandlung.

Klar sei die Sache hingegen bei stark Übergewichtigen oder Menschen mit einem hohen Bauchfett-Anteil: „Bei ihnen sind mit Sicherheit stille Entzündungen im Gang, selbst wenn – noch – keine Beschwerden vorliegen“, so die Internistin und Rheumatologin. „Mittlerweile ist belegt, dass spezielle Fettzellen Entzündungen auslösen.“ (s. Interview).

Ähnlich verhält es sich bei Parodontitis, der chronischen Zahnfleisch- und Kieferentzündung, und bei versteckten, weil schmerzlosen, Eiterherden im Zahn-Kiefer-Bereich. Eine zahnärztliche Abklärung sollte daher stets Teil der Ursachensuche sein.

Wie Funktionelle Medizin helfen kann

Schwieriger wird es, wenn Betroffene normalgewichtig sind, keinen ausgeprägten Bauch haben, der zahnärztliche Befund unauffällig ist und sicherheitshalber auch ein Tumorgeschehen ausgeschlossen wurde. „Dann sind die klassischen Diagnosemöglichkeiten eigentlich erschöpft“, sagt Schöls. Nicht aber die der Funktionellen Medizin. Dieser relativ junge Zweig der Ganzheitsmedizin befasst sich mit aus dem Lot geratenen Stoffwechselprozessen und damit, wie man dem Körper helfen kann, sich wieder selbst zu regulieren. „Das Immunsystem produziert nämlich nicht einfach so Entzündungsstoffe. Es gibt immer einen Auslöser“, ist Schöls überzeugt und beschreibt zwei häufige Szenarien:

Chronischer Stress

Er verstärkt die Produktion des entzündungsfördernden Hormons Kortisol und aktiviert den Sympathikus, jenen Part des vegetativen Nervensystems, der im zeitlich begrenzten Ernstfall die Leistung hochfährt: Das Herz schlägt schneller, die Muskeln werden stärker durchblutet, Haut und Verdauungstrakt hingegen weniger, die Zellen greifen auf eingelagerte Reserven zurück.

Schöls: „Ursprünglich war der Sympathikus für den Kampf-/Fluchtmodus zuständig. Nach überstandener Gefahr regulierte wieder der beruhigende Parasympathikus das System. Heute ist der Sympathikus bei vielen daueraktiviert. Permanent gesteigerte Kortisolausschüttung schwächt die Nebennieren, sodass sie weniger Botenstoffe produzieren. Die Zellen verbrauchen Mikronährstoffe, bis ihnen der ,Treibstoff‘ für elementare Stoffwechselprozesse ausgeht. Dadurch und durch das stille Entzündungsgeschehen fühlen sich Betroffene buchstäblich ,ausgelaugt‘.“

Diagnose: Stress ist kein subjektives Gefühl, sondern lässt sich auch in der Funktionellen Medizin anhand objektiver Parameter bestimmen. Etwa mittels Herzratenvariabilitätsmessung, die ähnlich wie ein Elektrokardiogramm funktioniert, aber die unterschiedlichen Abstände zwischen den Herzaktionen misst: je einheitlicher, umso höher der Stresspegel.

Das Stresshormon Kortisol wiederum kann man per Speicheltest zu Hause messen. Dafür nimmt man zu unterschiedlichen Tageszeiten Speichelproben, die der betreuende Arzt oder die Ärztin in einem Speziallabor auswerten lässt.

Die Neurotransmitter Dopamin, Adrenalin, Noradrenalin und Serotonin schließlich lassen sich im Harn bestimmen. Ein hoher Stresslevel zeigt sich darin, dass die ersten drei über den jeweiligen Sollwerten liegen, das beruhigende Serotonin darunter. „Sind alle Werte vermindert, ist das ein Zeichen für Burnout“, so Schöls.

Therapie: Als Erstes gilt es, eine Entspannungstechnik zu finden, die man gut in den Alltag einbauen kann. Damit aktiviert man den Parasympathikus oder Ruhenerv und reguliert automatisch den Sympathikus. Schöls: „Am simpelsten ist die wiederholte, tiefe Bauchatmung. Bald spürt und hört man ein Rumoren – ein Zeichen, dass der Ruhenerv die Durchblutung der Verdauungsorgane ankurbelt.“

Ob das Parasympathikus-Training wirkt, zeigt z.B. eine Kontrolle der Herzratenvariabilität nach einigen Wochen. Individuell abgestimmte Mikronährstoffe, also Vitamine und Mineralstoffe, können beim Abbau von Stresshormonen und Entzündungsstoffen helfen. „Entscheidend ist aber, dass Betroffene überlegen, wie sie Dauerstress künftig vermeiden“, betont die Ärztin.

Gestörtes Darmmikrobiom

Die Bakterienstämme im Darm haben unterschiedliche Schwerpunkte beim Aufspalten der Nahrung und der Produktion wichtiger Stoffe wie z.B. Vitamine, Neurotransmitter oder von Butyrat. Letzteres liefert den Darmzellen Energie und ist essenziell fürs Immunsystem und viele Stoffwechselprozesse.

Ein gesundes Mikrobiom zeichnet sich durch eine große Vielfalt an nützlichen Mikroorganismen aus. Damit ist es aber meist nicht weit her: „Das Gros der europäischen Bevölkerung konsumiert zu viele Fertigprodukte, Zucker und Kohlenhydrate. Davon können nützliche Bakterien nicht leben, sodass schädliche überhandnehmen.“

Eine mögliche Folge sei das Leaky-Gut-Syndrom. Dabei werde die Darmwand durchlässig für Stoffe, die normalerweise ausgeschieden würden. Geraten sie in die Blutbahn, aktivieren sie das Immunsystem, stille Entzündungen können entstehen. Anzeichen für ein gestörtes Mikrobiom können Blähungen, Sodbrennen, unspezifische Bauchschmerzen, Verstopfung oder auch Durchfall sein. Sogar Depressionen oder Neurodermitis können laut Schöls von einem gestörten Darmmikrobiom ausgehen.

Diagnose: Mittels einer Stuhlprobe lässt sich das Mikrobiom analysieren: „Oft fehlt es an schleimbildenden Bakterien und Butyrat-Bildnern, weil die Nahrung zu wenig Ballaststoffe enthält“, so die Ärztin.

Therapie: Zuerst sollte man die Ernährung so umstellen, dass gute Bakterien wieder zu Kräften kommen und sich neue Arten ansiedeln können. Hilfreich sind mehr Ballaststoffe und Fermentiertes wie Sauerkraut, Kefir, Naturyoghurt ohne Zuckerzusatz etc. Als „Starthilfe“ können ausgewählte Pro- und Präbiotika sinnvoll sein. Man nimmt sie für einige Monate, später phasenweise bei Bedarf. „Grundsätzlich sollte man auf Nahrungsmittel achten, die den Blutzuckerspiegel langsam ansteigen lassen, also einen niedrigen glykämischen Index haben“, so Karin Schöls. Und nicht auf die Bewegung vergessen: „Mindestens dreißig Minuten, drei- bis fünfmal die Woche.“

****

Stille Entzündungen und Übergewicht

Wie stille Entzündungen und starkes Übergewicht zusammenhängen, erklärt Prim.a Dr.in Judith Sautner, Leiterin der 2. Medizinischen Abteilung mit dem NÖ Kompetenzzentrum für Rheumatologie am Landesklinikum Stockerau (NÖ).

Warum ist gerade Bauchfett so ungesund?

Prinzipiell gilt: Je mehr Fettgewebe jemand hat, umso höher ist auch der Anteil an sogenannten Makrophagen, also Fresszellen, die entzündliche Prozesse auslösen. In höchster Konzentration liegen diese spezifischen Fresszellen im Viszeral- oder Bauchfett vor. Das sollte auch bedenken, wer nicht generell übergewichtig ist, sondern „nur“ einen Bauch hat. Gefährlich sind diese Fresszellen, weil sie Eiweißstoffe produzieren, die über die Blutbahn chronische Entzündungsprozesse in Gang setzen können. In der Regel geht Übergewicht mit Fehlernährung und einem gestörten Darmmikrobiom einher. Das erhöht das Risiko einer durchlässigen Darmbarriere, sodass auch auf diesem Wege Giftstoffe in den Blutkreislauf gelangen und stille Entzündungen verursachen können.

Was bewirken die Entzündungsprozesse?

Menschen mit starkem Übergewicht oder viel viszeralem Fett haben ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen – von Bluthochdruck über Arteriosklerose bis hin zu Herzinfarkt und Schlaganfall. Weiters dürften die schädlichen Fresszellen die Aufnahme von Insulin behindern und so zur Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2 beitragen. Aber auch bestehende chronische Erkrankungen wie Asthma, Psoriasis-Arthritis oder rheumatoide Arthritis werden durch die vom Fettgewebe ausgelösten stillen Entzündungen befeuert.

Was kann man dagegen tun?

Sehr viel und es ist gar nicht kompliziert – das ist eine Botschaft, die mir ganz wichtig ist: Abnehmen reduziert nicht nur die Anzahl der erwähnten Fresszellen, sondern erhöht gleichzeitig die der „Reparaturzellen“, die Entzündungsstoffe abbauen. Die klassische Mittelmeerkost mit viel Gemüse und gesunden Omega-3-Fettsäuren ist nicht nur für Herz und Kreislauf ideal, sondern wirkt auch entzündungshemmend – ebenso wie regelmäßige Ausdauerbewegung.

****

Prä- oder Pro?

Probiotika enthalten gesundheitsfördernde Mikroorganismen, also v.a. Milchsäurebakterien und Hefepilze, die für ein ausgeglichenes Darmmikrobiom sorgen.

Präbiotika enthalten Ballaststoffe, also unverdauliche Stoffe, die Wachstum und Vermehrung von gesunden Bakterien sowie die Darmbewegung (Peristaltik) fördern.

 

Foto: (c) Getty-Images_Maria-Korneeva

MEDIZIN populär können Sie in ausgewählten Trafiken erwerben oder über die MEDIZIN-populär-App digital lesen.

aktuelle Ausgabe

MP Cover 2023-06

Sie wollen mehr?

Das freut uns!

 

WÄHLEN SIE EINFACH AUS:
» E-Magazin in der APP «
» E-Magazin im Austria Kiosk «

E-Magazin

Gewinnspiel

Service

Kontakt

aktuelle Ausgabe

MP Cover 2023-06

Sie wollen mehr?

Das freut uns!

 

WÄHLEN SIE EINFACH AUS:
» E-Magazin in der APP «
» E-Magazin im Austria Kiosk «

Service

E-Magazin

Gewinnspiel

Kontakt

E-Magazin

Gewinnspiel

Kontakt

Service