Die Kriegsenkel

Juni 2015 | Gesellschaft & Familie

Wie das Kriegstrauma weiter vererbt wird
Sie sind heute rund 50 Jahre alt und haben den Zweiten Weltkrieg, der am 8. Mai vor 70 Jahren zu Ende ging, gar nicht am eigenen Leib erlebt. Und doch leiden viele an Kriegstraumata, die sie von ihren Eltern geerbt haben. MEDIZIN populär über die Probleme der „Generation Kriegsenkel“.
 
Von Mag. Sabine Stehrer

„Mein Leben prägen eine extreme Rastlosigkeit, die bisher 25 Umzüge nach sich gezogen hat, immer wieder ein Gefühl des Fremdseins und die neuerliche Suche nach einem ‘richtigen Platz’ für mich“, erzählt Claudia Wielander, wie sich bei ihr das Leiden der „Generation Kriegsenkel“ äußert. Zudem spürte die 50-Jährige, die derzeit in Feldkirch in Vorarlberg lebt und dort als Psychotherapeutin tätig ist, den Druck, früh selbstständig sein zu müssen, viel leisten zu müssen, sich dabei jedoch nicht auf andere stützen zu können.
Wie sie heute weiß, geht es ihr damit ähnlich wie vielen anderen Kriegsenkeln. Kriegsenkel – das sind Menschen der Jahrgänge 1960 bis 1975, die den Zweiten Weltkrieg, der am 8. Mai vor nunmehr 70 Jahren endete, gar nicht am eigenen Leib erlebt haben, deren Eltern aber im Krieg Kinder waren. Die heute 40- bis 55-jährigen Kinder der Kriegskinder melden sich zunehmend auf Social-Media-Plattformen und in verschiedenen Internetforen zu Wort, gründen Vereine und Selbsthilfegruppen.

Rastlosigkeit und Schuldgefühle

Das tat auch Psychotherapeutin Wielander, nachdem sie entdeckte hatte, dass sie selber betroffen ist. Auf ihre Initiative hin und nach einem deutschen Vorbild entstand die Internet-Plattform www.kriegsenkel.at, die eine Sammlung von Informationen für österreichische Kriegsenkeln sein soll. Auf dieser Plattform schreibt eine weitere Betroffene davon, sich wie Wielander stets von dem Gefühl der Heimatlosigkeit gequält zu fühlen und rastlos zu sein – auch sie zog bisher zigmal um. Eine andere schildert, was sie seit ihrer Jugend plagt – und was ebenfalls vielen anderen Kriegsenkeln zu schaffen macht: „Die innere Aufforderung, ganz viel für andere tun zu müssen, dabei die eigenen Wünsche zurückzustellen und nicht zuzuordnende Schuldgefühle zu verspüren.“

Angststörungen und Verlustängste

Kriegsenkel haben aber nicht nur häufig scheinbar nicht begründbare Schuldgefühle, stehen unter dem Druck, viel leisten zu müssen oder empfinden, heimatlos zu sein. Darüber hinaus machen ihnen noch häufiger als dem Bevölkerungsdurchschnitt psychische Störungen und Erkrankungen sowie psychosomatische Beschwerden zu schaffen: Das stellte der deutsche Mediziner Prof. Dr. Michael Ermann als Leiter der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik München aufgrund der Ergebnisse einer wissenschaftlichen Studie fest. Die vor sechs Jahren, 2009, veröffentlichte Studie hat entschieden dazu beigetragen, die Kriegsenkel-Problematik der Öffentlichkeit bewusst zu machen. Von welchen psychischen Erkrankungen und Störungen sowie psychosomatischen Beschwerden Kriegsenkel häufig betroffen sind, weiß Claudia Wielander aufgrund ihrer mehrjährigen Erfahrung in der Behandlung von Betroffenen. „Kriegsenkel leiden auffällig oft unter Angststörungen verschiedenster Art, häufig haben sie auch ein Misstrauen allem und jedem gegenüber und extreme Verlustängste“, zählt die Psychotherapeutin die typischen Leiden der Generation Kriegsenkel auf. Wieder andere leiden an depressiven Verstimmungen oder Depressionen.

Migräne und Bauchschmerzen

Wie viele ihrer Kollegen meint Wielander, das Misstrauen und die Verlustängste könnten ein Grund dafür sein, warum auffallend viele Angehörige dieser Generation kinderlos und Singles sind. Zu den häufigsten psychosomatischen Beschwerden – körperlichen Beschwerden, für die es keine organischen Ursachen gibt – zählen laut Psychotherapeutin Wielander „Bauchschmerzen, Herzrasen, Kopfweh, Krämpfe, Migräne, Magenschmerzen oder Rückenschmerzen“.

Eltern wurden traumatisiert

Wie es dazu kommt, dass die Generation Kriegsenkel besonders häufig mit derartigen Leiden zu kämpfen hat? Kriegsenkel sind die Kinder ihrer Eltern, der Kriegskinder, die zwischen 1930 und 1945 geboren sind und die NS-Zeit sowie den Zweiten Weltkrieg als Baby, Kind oder Teenager erlebten.
Viele der Kriegskinder stehen bis heute unter dem Eindruck traumatischer Erfahrungen. Ermann, der Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker ist, hat für seine Forschungen mehrfach Kriegskinder befragt. Er meint, dass jeder Vierte dieser heute 70- bis 85-Jährigen deswegen immer schon in seiner psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt gewesen, jeder Zehnte sogar schwer traumatisiert sei – und das meist, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Trauma wird vererbt

Immerhin machten die Kriegskinder Dinge mit, die für sie bedrohlich und nicht einzuordnen waren: Bombenangriffe, Vergewaltigungen und andere Gewalttaten. Sie haben unter Angst, Hunger und Mangel gelitten, Trennungen und Verluste erfahren, oft selbst traumatisierte und depressive Eltern gehabt – und eventuell auch Väter, die Täter waren. Alle diese Erfahrungen und Erlebnisse wurden zwar abgespeichert, aber emotionell verdrängt. So blieben sie, wie Ermann erklärt, unverarbeitet und wurden deswegen an die nächste Generation weiter vererbt. Diese sogenannte transgenerationale Weitergabe kann über eine unbewusste Übermittlung von Erfahrungen zwischen Eltern und Kindern funktionieren. Aber auch über die Gene: Denn prägende Erfahrungen verändern die Gene bzw. den Ausdruck der Gene, die Träger der Erbinformation sind – wodurch die Kriegsenkel die Traumata der Eltern im wahrsten Sinn des Wortes erben.

Symptome spiegeln Geschichte

Dadurch lässt sich auch erklären, warum, wie Wielander sagt, „das Symptom eines Kriegsenkels oft nahe an der tatsächlichen Geschichte seines Kriegskind-Elternteils liegt“. Die Beschwerden der Kriegsenkel spiegeln sozusagen die Familiengeschichte: Mussten die Eltern als kleine Kinder beispielsweise oft in den Bunker gehen, um sich vor Bombenangriffen zu schützen­, und dort viel Angst aushalten, haben ihre Kinder, die Kriegsenkel, nicht selten ein ungutes Gefühl, wenn sie sich in kleinen Räumen aufhalten müssen. Haben die Eltern im Krieg Angehörige verloren, werden die Kriegsenkel besonders oft von Verlustängsten gequält. Mangelte es den Eltern im Krieg an Lebensnotwendigem oder mussten sie Hunger leiden, führt dies bei Angehörigen der nächsten Generation manchmal zu Essstörungen – oder mündet in den Drang, Dinge zu sammeln bzw. möglichst viel Geld zu verdienen. Und für diejenigen, deren Eltern als Kriegskinder fliehen mussten, ist es typisch, sich zeit ihres Lebens entwurzelt, heimat- und haltlos zu fühlen – genau wie Psychotherapeutin Wielander: „Auch ich führe meine Rastlosigkeit darauf zurück, dass meine Mutter als 9-Jährige aus Ostpreußen fliehen musste, um am Leben bleiben zu können, und ihre Flucht damals viele Stationen hatte.“

Psychotherapie als Hilfe

Wie kann Kriegsenkeln geholfen werden? „Da traumatische Erfahrungen den Ausdruck der Gene verändern, kann die Veränderung über einen äußeren Einfluss beziehungsweise emotionale Ereignisse auch wieder rückgängig gemacht werden“, erklärt Wielander. „Dafür eignen sich verschiedene Psychotherapien, die je nach Art und Ausprägung des Kriegsenkelsyndroms am besten von Psychotherapeuten durchgeführt werden, die selbst Kriegsenkel sind und sich bereits mit der Geschichte auseinander gesetzt haben.“ Außerdem empfiehlt Wielander Betroffenen, bei den Eltern nachzufragen, ob sie im Krieg und den Jahren davor Schlimmes erlebt haben, und was das war. Oft sei es allerdings schwierig, wirklich erhellende Antworten zu erhalten: Viele Kriegskinder reden nicht gern über belastende Ereignisse in ihrer Kindheit, um die damit verbundenen beängstigenden Gefühle von sich fern zu halten. Andere haben lediglich ein diffuses Wissen darüber, da sie im Krieg noch sehr klein waren und in der Familie nicht viel oder gar nicht über bestimmte Geschehnisse gesprochen wurde. Wieder andere wissen aus anderen Gründen ganz einfach nichts. Deswegen rät Wielander zudem dazu, auch noch anderswo nachzuforschen – manchmal gelingt es Kriegsenkeln, über Fotos, Dokumente oder Archiv-Unterlagen herauszufinden, was vor 70 und mehr Jahren mit ihren Eltern geschah.

Wissen lindert Beschwerden

Bisweilen können schon allein das Wissen um die Familiengeschichte und die Kenntnis der Tatsache, dass Kriegstraumata vererbt werden, dabei helfen, besser mit dem Kriegsenkelsyndrom umzugehen oder die Beschwerden los zu werden: Das hat Psychotherapeutin Claudia Wielander nicht nur in der Arbeit mit ihren Patienten, sondern auch persönlich erfahren. Seit sie weiß, worauf ihre Rastlosigkeit zurückgeht, fällt es der Wahlvorarlbergerin leichter, an einem Ort zu bleiben, und auch bei Menschen „daheim“ zu sein, ihnen zu vertrauen und sich auf sie zu stützen.
Ob auch noch Kinder der Kriegsenkel, die Kriegsurenkel, an dem Erbe des Zweiten Weltkriegs leiden werden? Wenn, dann nur sehr eingeschränkt, meint Wielander, denn so wie das gesamte psychische und physische Erbe verfächerten sich auch ererbte Traumata über die Generationen.

Webtipp:
Informationen zur Kriegsenkel-Thematik und Kontaktadressen auf www.kriegsenkel.at

Buchtipp:
Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung
Graz – Wien – Raabs
Verminte Kindheit.
Erinnerungen von Kindern und Jugendlichen in der Kriegs- und Nachkriegszeit
ISBN 978-3-901661-33-4
268 Seiten, € 23,90
Herausgegeben von Stefan Karner und KOBV Österreich, April 2015

Stand 05/2015

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