Kuscheltier Mensch

Dezember 2022 | Gesellschaft & Familie

Warum Liebe gesund und Einsamkeit krank macht
Kuscheln, in den Arm genommen, gestreichelt werden und die damit vermittelten Gefühle von Zuwendung, Trost, Geborgenheit, Liebe: Berührung ist ein (Über)Lebensmittel, auf das das „Kuscheltier Mensch“ nicht verzichten kann. Und doch krankt unsere Gesellschaft gerade heute an einem Mangel an Körperkontakt jenseits von Sex, wie Experten diagnostizieren. Lesen Sie, warum Berührung für die seelische und körperliche Gesundheit so wichtig ist, dass sie eigentlich ärztlich verordnet werden sollte.

Wenn an trüben Wintertagen sogar die Sonne ihre Streicheleinheiten einstellt, jeder sich in den eigenen vier Wänden einigelt und zum Kuscheln nur Omas Wolldecke bleibt, trifft Singles die Einsamkeit besonders hart. Berührung in ihren vielen Facetten und Nuancen ist schließlich ein elementarer Bestandteil des Lebens. Babys, die an der mütterlichen Brust nuckeln; Liebespaare, die eng aneinandergekuschelt einschlafen; die herzliche Umarmung unter Freunden; der freundschaftliche Händedruck; das flüchtige Begrüßungsbussi; das aufmunternde Schulterklopfen: Positiver Körperkontakt geht buchstäblich unter die Haut, gibt Sicherheit, emotionalen Halt, Geborgenheit und Trost, er nährt, beruhigt und entspannt uns. Kurzum: Berührung ist ein (Über)Lebensmittel, auf das das „Kuscheltier Mensch“ nicht verzichten kann.

Die Macht der Berührung

Berührtwerden und Berühren ist von Anfang an essenziell: In der „Kuschelhöhle“ Mutterleib ist der Tastsinn der erste, den wir entwickeln. Ab der Geburt signalisiert der Körperkontakt mit den Eltern dem Neuankömmling: „Wir nehmen dich wahr. Gut, dass du da bist. Wir stehen zu dir.“ Indem Babys alles angreifen (= aktiver Tastsinn), lernen sie buchstäblich, sich selbst und die Umwelt zu begreifen, über das Berührtwerden (= passiver Tastsinn) entwickeln Kinder ihre Identität, ihr Körper- und Selbstbewusstsein. „Erst über den Körperkontakt zu anderen wissen wir, dass wir da sind“, erklärt Dr. Dipl. Psych. Martin Grunwald, der sich als Haptiker intensiv mit der Bedeutung des Tastsinnessystems und der Macht der Berührung auseinandersetzt.
Berührung „sagt“ uns: Es hat Sinn, da zu sein. „Fehlt dieser Kontakt, sieht der Organismus keinen Sinn darin, sich weiterzuentwickeln und groß und stark zu werden.“ Entsprechend fatal wirkt sich Berührungsmangel speziell in der ersten Lebenszeit aus. „Die psychologisch-biologisch orientierte Forschung hat deutlich zeigen können, dass Berührungslosigkeit in der frühen Kindheit letztlich zum Tod des Organismus führt“, berichtet der Haptiker und Psychologe Grunwald. „Bei einem nicht berührten Organismus sind zudem die Hirn- und die körperliche Entwicklung verzögert oder finden gar nicht statt.“

Fatale Vereinsamung

Umso alarmierender die Diagnose, die Experten unserer Gesellschaft stellen: Berührung kommt viel zu kurz – der Mensch hatte noch nie so wenig Haut-zu-Haut-Kontakt wie heute. „Sex ist allgegenwärtig, aber wir berühren einander nicht mehr“, beschreibt der Haptik-Forscher einen gegenwärtigen Widerspruch, unter dem das Gefühl von Verbundenheit und letztlich unsere Gesundheit leidet. „Ich denke, ein Großteil unserer Erkrankungen ist die Folge von Vereinzelung und Vereinsamung, von Berührungs- und Körperlosigkeit“, so der Psychologe. Zum einen nimmt in der leistungs- und karriereorientierten Gesellschaft die Bereitschaft, Bindungen einzugehen, ab. Andererseits lockt das Internet mit seinen Möglichkeiten verstärkt in die virtuelle – und damit körperlose – Welt.
„Doch bei all den technischen Möglichkeiten des Austauschs hat jeder eigentlich vor allem das elementare Bedürfnis nach direktem Kontakt“, betont Grunwald. „Wir sind darauf angewiesen, dass uns jemand oder etwas berührt.“ Dieses Bedürfnis wird vielen der rund 1,3 Millionen alleinstehenden Österreicherinnen und Österreicher besonders in der Winter- und Weihnachtszeit schmerzlich bewusst.

Lebenselixier Beziehung

Schließlich profitieren jene, die in einer harmonischen, vertrauensvollen Beziehung leben, am meisten von der Kraft der Berührung. „Der innige Kontakt in einer stabilen Liebesbeziehung lässt sich nicht kompensieren“, ist Grunwald überzeugt. „In einem harmonischen Zusammenleben finden sehr viele kleinere und größere Berührungs- und Kommunikationsmomente statt: der Kontakt beim abendlichen Einschlafen, sich aneinander zu kuscheln, sich zu halten, die Wärme.“
Auch aus (tiefen)psychologischer Sicht gilt „eine gute, vertrauensvolle Zweierbeziehung als die gesündeste Lebensform“, erklärt der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Univ. Prof. Dr. Michael Musalek. Da wir „Nähe vorzugsweise über Berührung ausdrücken“, sei Körperkontakt essenziell für das vertrauensvolle Miteinander. „Zum einen vermittelt man dadurch Zuneigung und Sicherheit“, erläutert der Facharzt. Andererseits deckt Berührung den großen Bereich von Sexualität und Erotik ab.
Vertrautheit, Zuwendung und Geborgenheit sind weitere Zutaten, die Liebespaare besonders gesund sein und länger leben lassen: Studien zufolge wirkt sich eine stabile Beziehung bei Männern insbesondere auf die körperliche Gesundheit, bei Frauen auf die psychische Stabilität aus.

Berührungsarme Zeiten

Den (Kurzzeit-) Singles zum Trost: Vorübergehende Durststrecken bezüglich Streicheleinheiten seien „relativ gut verkraftbar“, so Musalek. „Wenn man allerdings über lange Zeit auf Berührung verzichten muss, kommt es zum Versiegen der emotionalen Kräfte. Das heißt: Wenn man Gefühle nicht nährt, dann spürt man sie immer weniger.“
Manche suchen dann auf Umwegen den für sie so wichtigen Hautkontakt. „Einige werden krank, um berührt und wahrgenommen zu werden“, berichtet die Wiener Allgemein- und Sexualmedizinerin Dr. Elia Bragagna. „Das sind Lösungsmodelle der Seele, um emotional nicht zu verhungern.“
Dabei gebe es für berührungsarme Zeiten „gute Ersatzhandlungen“, führt die Medizinerin aus. „Man kann sich selber Berührung schenken, indem man sich eincremt, massiert oder massieren lässt.“ Auch die Verbundenheit mit einem Haustier könnte gut tun. „Viele tanken im Zusammensein mit den Enkelkindern auf – bei einer Umarmung, einem Spaziergang Hand in Hand. “ Für alte, kranke oder pflegebedürftige Menschen wünscht sich die Ärztin, „dass in Krankenhäusern und Pflegeheimen vermehrt Massagen angeboten werden. Man könnte auch in Gruppen gemeinsame Pflegerituale durchführen, indem man einander zum Beispiel den Rücken abrubbelt.“

Kuscheln auf Rezept

Schließlich streichelt körperliche Zuwendung nicht nur die Seele, sie stärkt auch den Körper. Und da der Körperkontakt immer ein Austausch ist, profitiert auch derjenige, der streichelt oder massiert, von der heilsamen Kraft der Berührung – eigentlich sollte sie ärztlich verordnet werden: Berührung beeinflusst unser Hormon- und Immunsystem, das Herz-Kreislaufsystem sowie den Stoffwechsel günstig. Sie senkt die Produktion von Stresshormonen wie Cortisol und fördert die Ausschüttung von Prolaktin, das u. a. für Entspannung zuständig ist.
Auch das „Kuschelhormon“ Oxytocin wird beim Streicheln, Kuscheln oder Küssen ausgeschüttet. „Dadurch wird die Atmung ruhig, die Muskeln entspannen sich, das Gehirn kommt in einen ruhigen Rhythmus“, berichtet Martin Grunwald. Speziell bei Neugeborenen und Kleinkindern ist das Hormon außerdem für Entwicklung und Wachstum zuständig.
Im Übrigen zeigen oft schon kleine Berührungen große Wirkung: das Streicheln über den Arm, das sanfte Kraulen des Rückens, das Auflegen der Hände. Wie eine Studie an Patienten am Wiener Wilhelminenspital zeigt, werden durch Handauflegen, Schmerzen und Depressionen gelindert, Entspannung und innere Ruhe gefördert. „Händchenhalten“ wiederum fördert nicht nur den Zusammenhalt Verliebter, es gibt auch Kranken im wahrsten Sinne des Wortes Halt: Patienten empfinden eine Behandlung als weniger unangenehm, wenn ihnen dabei die Hand gehalten wird.

Mit der Haut „sehen“

Ob wir nun gestreichelt, gekrault oder massiert werden – an bestimmten Körperpartien sind Berührungen besonders angenehm. Warum? „Der Kopfbereich ist zum Beispiel ein gut mit Nerven versorgter Bereich zentral am Gehirn, weshalb der Berührungsreiz im Gesicht quasi schneller im Gehirn ist als die Berührung der Füße“, erklärt Haptik-Experte Grunwald. Daneben gebe es individuelle Vorlieben, was Körperpartien, Druckstärke, Art und Dosis der Berührung angeht.
Um das ganze Berührungsspektrum wahrnehmen zu können, sind wir mit einer hochkomplexen, feinsinnigen Empfangsanlage – der Haut – ausgestattet, die selbst feinste Nuancen registriert. „Der Mensch hat insgesamt rund fünf Millionen Haare“, verdeutlicht Grunwald. Die Mehrzahl befindet sich in Form feinster Härchen verteilt am ganzen Körper. „Die feinen Haare wachsen in Haarfollikeln, von denen jeder von cirka 50 Rezeptoren, quasi feinen Antennen, für Temperatur, Dehnung, Streckung, Zug, Rotation umgeben ist.“ Insgesamt registrieren 250 Millionen Rezeptoren auf zwei Quadratmetern Haut feinste Signale und leiten sie an das Gehirn weiter, wo Art und Ort der Empfindung identifiziert werden.
Diese gute Ausstattung des „Kuscheltiers Mensch“ legt nahe, dass wir für Körperkontakt geschaffen sind: Wir begreifen und „sehen“ die Welt mit Haut und Händen und wir merken z. B. ohne hinzusehen, ob uns jemand liebevoll oder gedankenlos streichelt. Dieses Feingespür hat einen evolutionsbiologischen Hintergrund: „Die längste Zeit war der Mensch sprachlos und auch da musste er kommunizieren“, berichtet der Forscher. „Da wurde viel über körperliche Interaktion geregelt.“ Damit sich das „Kuschel- und Herdentier Mensch“ nicht zunehmend zu einer Herde einsamer Einzelkämpfer entwickelt, appelliert Psychologe Grunwald an unseren „Mut zu menschlichen Bindungen und dazu, die eigenen körperlichen Bedürfnisse ernst zu nehmen“.

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Gesundbrunnen Sex: Berührung bindet

Haut an Haut, intime Zärtlichkeiten, erregendes Streicheln: Körperliche Zuwendung beim Sex hat einen ganz besonderen Stellenwert und setzt eine Reihe gesundheitsförderlicher Prozesse in Gang: „Wenn man sich berührt und Berührung vom anderen annehmen kann, werden Bindungshormone ausgeschüttet“, erklärt die Wiener Sexualmedizinerin und Psychotherapeutin Dr. Elia Bragagna. Neben Oxytocin wird das „Glückshormon“ Serotonin frei. „Berührung aktiviert außerdem das Belohungssystem, sodass mehr Dopamin freigesetzt und ein freudiger Reiz ausgelöst wird.“
Diese positiven Wirkungen treten allerdings nur ein, wenn man „positiv konditioniert ist“, so Bragagna. „Für jene, die früher körperliche Vernachlässigung oder auch Überfürsorglichkeit erlebt haben, kann der Körperkontakt eine Erinnerung an den Schmerz von damals sein.“ Die Art und Weise sowie die Dosis, in der wir als Kinder körperliche Zuwendung bekamen, beeinflussen also auch das spätere Sexualleben. „Im Fall von negativen Erfahrungen schützen die Betreffenden sich vor zuviel Nähe und Intimität, indem sie auf Distanz gehen oder sogar ein Schutzschild aufbauen.“ Doch Berührung kann vor allem genießen, wer berührbar ist und sich auf den anderen einlässt. Diese Fähigkeit zur Hingabe zeigt sich besonders deutlich beim Orgasmus, der als „kleiner Tod“ Inbegriff für völliges Loslassen ist.

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Berührungsmangel in der Kindheit: Manche leiden ein Leben lang

Für Babys und Kleinkinder ist körperliche Zuwendung lebensnotwendig. „Bevor man mit einem Kind adäquat sprechend kommunizieren kann, bleibt nur der Körper für den Austausch und als Ausdrucksorgan“, verdeutlicht der Psychologe und Haptik-Forscher Dr. Dipl. Psych. Martin Grunwald. „Auch das Urvertrauen in die Welt wird körperlich vermittelt.“ Entsprechend hat ein Mangel an körperlicher Zuwendung fatale Folgen und kann zu körperlicher, geistiger und sozialer Verkümmerung und sogar zum Tod führen. „Kinder, die etwa von der Mutter nicht oder nur wenig berührt wurden, haben im Vergleich zu anderen Kindern eine verzögerte emotionale Entwicklung“, betont der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Univ. Prof. Dr. Michael Musalek.
Auch das „Kontaktorgan Haut“ reagiert sichtbar verletzt auf das Fehlen von Streicheleinheiten. „Aufgrund verschiedener Studien wissen wir, dass Kinder mit Hauterkrankungen wie Neurodermitis viel weniger Haut-zu-Haut-Kontakt als andere haben“, so Musalek. Weiters gelten (die dramatisch zunehmenden) Essstörungen als Konsequenz einer berührungsarmen Kindheit. „Gerade die Magersucht steht in direktem Zusammenhang mit einer körperlosen Erziehung, mit Kälte und einer maßlosen Leistungsorientiertheit“, sagt Grunwald. Das bedeutet aber nicht, dass man den hungernden Teenager mit „Berührung ohne Ende“ füttern sollte. Wie viel Nähe ein Kind braucht, hängt auch von der jeweiligen Entwicklungsphase ab: Während man Babys kaum zuviel berühren, streicheln, halten kann, gilt es, bei älteren Kindern und Jugendlichen den „Körpereinsatz“ gut zu dosieren und Überfürsorglichkeit im Auge zu behalten.

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